Nach Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren gebe es ein starkes Bedürfnis, "die alte Normalität möglichst weitgehend wieder zu gewinnen", sagte der Philosoph Julian Nida-Rümelin im Dlf-Interview. Ein Ende der Ausnahmesituation zu definieren, hält er für besonders wichtig. "Das Gefühl, wir würden unbegrenzt weiter in einer Not- und Sondersituation leben, sollten wir nicht beliebig prolongieren." Es gebe klare Kriterien dafür, wann die Pandemie als beendet erklärt werden könne. Nida-Rümelin kritisierte, dass diese allerdings nie öffentlich diskutiert worden seien.
Der Philosoph und Autor des Buches "Die Realität des Risikos" definierte im Interview folgendes Kriterium für das Ende der Pandemie: Sie sei dann vorbei, wenn die Risiken durch die Pandemie unter das Niveau der allgemeinen Risiken gefallen sind, die wir als gemeinhin Teil des Lebens akzeptieren.
Das seien beispielsweise Krankheiten wie die Grippe oder auch Gefahren "im Straßenverkehr, im Alltagsverhalten, beim Sport treiben und so weiter. Und wir akzeptieren bestimmte Lebensrisiken. Wir ergreifen keine allgemeinen Maßnahmen, die alle betreffen."
Die Inzidenzzahlen als einziges Kriterium für Corona-Maßnahmen heranzuziehen, halte er mittlerweile für überholt. Im Sommer 2020 hätten diese Zahlen noch eine andere Aussagekraft gehabt als aktuell. Mit dem Fortschritt der Impfkampagne seien ältere Risikopatienten nicht mehr akut gefährdet, mit einem schweren Verlauf auf die Intensivstation zu kommen und zu sterben. Der Zusammenhang zwischen Inzidenz und Gesundheitslast sei stark abgesunken. Nicht die Inzidenz, sondern die Mortalität, sollte als Kriterium herangezogen werden, so Julian Nida-Rümelin.
"Wir sind nicht krisenfest"
"Der öffentliche Diskurs ist insgesamt nicht gut gelaufen", findet der Philosoph und spricht von starken Polarisierungen, Unterstellungen, Aggressionen. Es mangele an "Zivilkultur, die die Demokratie trägt, nämlich Meinungen in Ruhe anzuhören, die unserer Meinung nicht entsprechen." Die Vielfalt von Optionen, Überzeugungen, Begründungen und Theorien zuzulassen, müsse wieder gelernt werden, so Nida-Rümelin. "Das beschädigt die Demokratie, wenn wir dazu nicht in der Lage sind."
Das gelte übrigens weltweit und habe sich auch schon an anderen Krisen gezeigt. "Wir sind nicht krisenfest". Insbesondere internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation, die Vereinten Nationen oder die EU fielen in Krisensituationen praktisch aus, hätten keine Autorität, entfalteten keine Steuerungswirkung. "Man hat den Eindruck mehrfach gewonnen, dass es letztlich nur die Nationalstaaten sind, die in solchen Situationen überhaupt noch reaktionsfähig sind. Wir fallen zurück auf Nationalstaat als Akteur, obwohl es sich um eine globale Herausforderung handelt."