Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck begrüßt die geplante teilweise Rücknahme von Corona-Beschränkungen für vollständig Corona-Geimpfte und Covid-19-Genesene. Habeck habe zwar die Sorge vor einer gewissen "Unfairness, die da mitschwingt". Dennoch sei die Sache rechtlich eindeutig: "Freiheiten sind in diesem Staat nicht rechtfertigungsbedürftig, sondern ihre Beschränkung ist es. Und wenn es keinen Nutzen der Beschränkung gibt, dann muss sie fallen." Mit den Rechten für Geimpften gebe es gewisse Spannungen, aber man sollte sich nun eher freuen für die "für die Menschen, die jetzt ein bisschen mehr spazieren können, die freier sein dürfen".
Der Grünen Co-Vorsitzende Robert Habeck sprach sich im Dlf zudem für eine Anpassung der Impfstrategie aus. Man müsse "den Impfstoff zum Menschen bringen und nicht den Menschen zum Impfstoff". Wenn die Priorisisierung wegfalle, sei die Möglichkeit leichter in Vierteln mit hohen Inzidenzwerten verstärkt zu impfen. "Das Impfmobil muss vor Aldi stehen oder vor der Moschee oder auf dem Marktplatz." Man dürfe die Zeit nicht mit politischen Schuldzuweisungen vertrödeln, sondern sollte eher darauf drängen, dass die Impfmobile flächendeckend eingesetzt werden können.
Nach dem das Bundeskabinett die entsprechende Verordnung zur Rücknahme einzelner Corona-Beschränkungen für vollständig Geimpfte und Genesene, befasst sich am Donnertag (6. Mai) der Bundestag damit und am Freitag der Bundesrat.
Das Interview im Wortlaut:
Stefan Heinlein: Wochenend und Sonnenschein – die Meteorologen versprechen für die kommenden Tage endlich Frühling. Das dürfte die Stimmung aufhellen in unserer nervösen Pandemie-geplagten Gesellschaft, zumal bei jenen Glücklichen, für die schon ab diesem Samstag die Corona-Beschränkungen wohl nicht mehr gelten. Geimpfte und Genesene können wieder uneingeschränkt die Nacht zum Tage machen. Für sie ist die Ausgangssperre aufgehoben und auch als Kontaktpersonen werden sie bei privaten Treffen nicht mehr mitgezählt. So hat es zumindest das Kabinett beschlossen. Noch müssen Bundestag und Bundesrat zustimmen. Der Adrenalin-Spiegel dürfte bei Ihnen heute Morgen wohl eher niedrig sein, Herr Habeck. Vor wenigen Tagen wurden Sie geimpft. Wie groß ist die Erleichterung?
Robert Habeck: Nein, gar nicht. Erst mal war ich krank danach und dann war es eine Restdose, die verimpft werden musste. Die wäre sonst verfallen. Und ich begreife Impfen ja nicht als einen Weg zur individuellen Freiheit, sondern als Beitrag dafür, dass die Gesellschaft insgesamt resilienter gegen das Virus wird. Insofern gab es keine persönliche Erleichterung.
"Der Tendenz nach sollten wir die Strategie ändern"
Heinlein: Sie sind 51 Jahre alt. Sie sind gesund und munter, sind laut bundesweiter Impfreihenfolge noch nicht an der Reihe. Haben Sie ein schlechtes Gewissen, dass Sie nun geschützt sind und andere in Ihrem Alter nicht?
Habeck: Habe ich nicht, weil die Dose sonst verfallen wäre. Ich war auf einer Warteliste drauf, wurde kurzfristig informiert. In Berlin ist ja AstraZeneca freigegeben von der Priorisierung. Ich weiß nicht, was sonst mit der Dose passiert wäre. Aber möglicherweise wäre sie sonst vernichtet worden. Insofern habe ich an der Stelle kein schlechtes Gewissen.
Heinlein: Sollte die Impfpriorisierung deshalb für AstraZeneca bundesweit aufgehoben werden? Jens Spahn hat das für heute in den Gesprächen mit den anderen Länder-Gesundheitsministern in Aussicht gestellt.
Habeck: Ja, in der Tendenz ja. Ich glaube, ein bisschen macht es noch Sinn, in den Priorisierungen zu bleiben. Es gibt noch Menschen in der dritten Gruppe, die einen Anspruch auf Schutz haben, der größer ist. Da muss man ein bisschen schauen, wie die lokale Verteilung ist. So sind die Bundesländer ja unterschiedlich davor. Aber der Tendenz nach sollten wir die Strategie ändern und den Impfstoff zu den Menschen bringen und nicht die Menschen zu dem Impfstoff. Wenn die Priorisierung wegfällt, gibt es auch die Möglichkeit, mit mobilen Impfteams in den sozialen Brennpunkten, in den Milieus, wo Menschen sich vielleicht besonders stark anstecken, aber nicht besonders gut aufgeklärt sind, verstärkt zu impfen. Das wäre dann eine andere Form, das Virus zu bekämpfen durch Impfung.
Heinlein: Impfen nicht vordringlich am Prenzlauer Berg, sondern in Berlin-Neukölln, Herr Habeck? Muss das die neue Marschroute beim Impfen sein?
Habeck: Das eine tun, das andere nicht lassen, würde ich denken. Es wäre schon okay, wenn man allen Menschen, wenn die Impfmenge steigt, den Zugang gewährt. Wann die Mengen da sind, das weiß Jens Spahn besser als ich, aber sich darauf dann zu verlassen und zu sagen, jetzt könnt ihr alle zum Hausarzt gehen, und viele Menschen vielleicht gar nicht wissen, dass sie einen Hausarzt haben oder den nicht regelmäßig aufsuchen, die nicht regelmäßig Deutschlandfunk hören, die das gar nicht mitkriegen, die müssen dann direkt erreicht werden. Also muss das Impfmobil vor Aldi stehen oder gegebenenfalls zur Moschee fahren oder auf dem Marktplatz stehen. Wenn Kinder in den Schulen mitgeimpft werden können, wenn der Impfstoff für Kinder verfügbar ist, dann sollten die Eltern ebenfalls angesprochen werden.
"Wir laufen immer wieder unvorbereitet in die neuen Debatten rein"
Heinlein: Warum kommt die Debatte über die besonderen Corona-Gefährdungen, die besondere Corona-Situation für Migranten, für sozial benachteiligte Menschen erst jetzt, über ein Jahr nach Beginn der Pandemie?
Habeck: Das fragt man sich ja insgesamt, warum so viele Debatten immer erst kommen, wenn es in gewissem Sinne eskaliert. Das gilt auch für den Tag heute ehrlicherweise. Ja, es ist richtig, dass heute Geimpfte und Immunisierte einen Teil ihrer Rechte zurückbekommen, aber holterdiepolter und dass es irgendwie eine überraschende Frage ist, das kann man nun wirklich nicht sagen. Wir laufen immer wieder unvorbereitet in die neuen Debatten rein. Das gilt auch hier. Dass Corona und das Virus eine starke soziale Abhängigkeit hat, dass Menschen aus einkommensschwächeren Milieus stärker krank werden, kann Ihnen jeder Virologe und jeder Arzt auf der Intensivstation sagen und bestätigen. Insofern frage ich mich das auch.
Heinlein: War es, Herr Habeck, aber auch in Ihrem Milieu, im Milieu der Grünen lange ein Tabu-Thema, offen zu sagen, auf den Intensivstationen liegen überwiegend Migranten?
Habeck: Es ist nicht die migrantische Herkunft, die das Problem ist, sondern das soziale Milieu. Natürlich gibt es Sprachbarrieren. Das greift dann aber ineinander über. Der Glaube an den christlichen Gott oder an Allah, der macht den Unterschied nicht aus, sondern die Frage ist, in welchen Quartieren leben die Menschen, wie gut sind sie von öffentlichen Nachrichten erreichbar. Da hätte sicherlich frühere Aufklärung auch schon einsetzen können. Nun ist aber auch dieses in die Vergangenheit schauen und möglicherweise im Wahlkampf immer anderen die Schuld geben auch wenig hilfreich. Nun wissen wir, was zu tun ist. Jetzt sind ja die Impfstoffmengen erst richtig im Auflauf da. Jetzt kann man auch handeln. Also muss man jetzt schnell und pragmatisch handeln. Ich würde jetzt gerne meine Zeit nicht damit vertrödeln zu sagen, warum hat das der oder die nicht frühzeitig gesehen, sondern eher darauf drängen, dass dann ab nächster Woche auch die Testmobile, die jetzt in Köln beispielsweise so was gemacht haben …
Heinlein: Die Impfmobile!
Seniorendisko eher eine "alberne Debatte"
Habeck: Impfmobile, genau, flächendeckend eingesetzt werden können.
Heinlein: Herr Habeck, heute entscheidet der Bundestag über die rasche Lockerung der Corona-Beschränkungen für Geimpfte und Genesene. Die Grünen wollen zustimmen, die FDP nicht. Haben Sie keine Sorge vor einer Zwei-Klassen-Gesellschaft zumindest für einige Wochen, wenn die Geimpften und Genesenen wieder die Nacht zum Tage machen können und vor allem die jüngeren, die nicht geimpft sind, eben nicht?
Habeck: Doch, eine gewisse Sorge ist da. Das ist natürlich eine gewisse Unfairness, die da mitschwingt. Gleichwohl ist die Sache rechtlich eindeutig. Freiheiten sind in diesem Staat nicht rechtfertigungsbedürftig, sondern ihre Beschränkung ist es. Und wenn es keinen Nutzen der Beschränkung gibt, dann muss sie fallen. So ist unsere Rechtsnorm definiert. Nun wäre es natürlich wirklich nicht schön, wenn lauter geimpfte 70-Jährige eine Party mit Dosenbier und Lagerfeuer an Stränden feiern und die 17-Jährigen werden weggesperrt, aber das ist vielleicht auch ein überkonstruierter Fall. Das wird wahrscheinlich nicht so sein. Ich schaue eher so darauf: Die meisten 70, 80-Jährigen, die in der ersten Priorität geimpft wurden – und nur von denen reden wir ja im Moment -, sind auch die Eltern oder Großeltern von irgendjemandem, und der wahrscheinliche Fall ist, dass die endlich mal wieder dann Geburtstag, bei der Abitursentlassung, bei der Konfirmation dabei sein können, ihre Enkelkinder in den Arm nehmen können und die Enkelkinder von ihnen in den Arm genommen werden können und die Familienfeiern diese Menschen mit einschließen. Ich kenne so viele Gespräche, wo diese Leute sagen, ich habe vielleicht noch so und so viele Jahre zu leben (es mögen hoffentlich längere sein) und jetzt wird mir die letzte Freude genommen. Das ist der letzte Kindergeburtstag, den ich nicht mitmachen kann. Das ist so bitter. In den Alten- und Pflegeheimen können die Leute wieder mehr Besuch empfangen, zusammen sein. Insofern würde ich diese Party am Strand oder am Tempelhofer Feld die große Senioren-Disco für letztlich albern halten. Es gibt eine gewisse Spannung, das räume ich ein, aber die Rechtsnorm ist klar und wenn wir alle verständig miteinander umgehen, dann sollten wir uns freuen über die Menschen, die ein bisschen mehr spazieren gehen können und frei sein dürfen.
Heinlein: Das ist jetzt die emotionale Seite, die Sie beschrieben haben, Herr Habeck. Es gibt auch eine juristische. Die Meldung kam an den späten Abendstunden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Eilanträge gegen die nächtlichen Ausgangssperren abgelehnt. Wie zufrieden sind Sie mit der Entscheidung aus Karlsruhe?
Habeck: Es ist erst mal gut, dass Gesetze Bestand haben. Wir haben das ja in der Pandemie häufig gesehen, dass beschlossene Verordnungen und Gesetze vom Verfassungsgericht kassiert wurden. Also hat die Kritik an den Ausgangssperren wohl zu einer saubereren Begründung geführt. Allerdings muss man auch sagen, dass erst einmal nur der Eilantrag abgelehnt wurde. Die Hauptsachen-Entscheidung steht noch aus und man wird schauen, was dann dabei herauskommt.
"Einschränkungen sind immer begründungspflichtig"
Heinlein: Rechnen Sie damit, dass noch etwas anderes herauskommt?
Habeck: Ich hoffe – und deswegen wird es ja auch heute so schnell gemacht -, dass die Lockerungslogik, Rechte-Zurückgabe für geimpfte und immunisierte Personen, dazu führt, dass dann die Einschränkungen auch als verhältnismäßig gesehen werden. Wie gesagt, die Einschränkungen sind immer begründungspflichtig, und wenn es wiederum an anderer Stelle um eine Perspektive raus geht, der Gesetzgeber nicht unter dem Verdacht steht, einfach willkürlich alles zu verbieten, egal wen es trifft, dann wird das eher halten. Deswegen gehe ich eher davon aus, dass auch in der Hauptsache in diese Richtung entschieden wird. Aber ich selbst fand auch die Ausgangssperren, die pauschalen Ausgangssperren drüber, ehrlich gesagt.
Heinlein: Herr Habeck, ein anderes Thema müssen wir kurz noch ansprechen heute Morgen. Die Bundesregierung macht jetzt überraschend ordentlich Tempo beim Klimaschutz. Gestern der Auftritt von Schulze und Scholz. Gehen jetzt auch Ihre grünen Klimawünsche damit in Erfüllung?
Habeck: Erst mal gut, dass es eine Dynamik gibt. Jeder Tag zählt. Es ist okay, das in diesem Jahr noch zu versuchen, in dieser Legislaturperiode. Die Zielzahlen gehen auch in die richtige Richtung. Wir haben ehrgeizigere Zielzahlen, aber sie gehen schon mal in die richtige Richtung. Am Ende geht es darum, den Zahlen Taten folgen zu lassen, und da wiederum liefert die Bundesregierung nicht. Sich dafür zu loben, wie gut wir 2030 sein wollen, 2022 aber nichts auf die Kette zu kriegen, hilft dem Klima auch nicht.
Heinlein: Es bleibt dabei: Das Bundesverfassungsgericht muss der Politik auch beim Thema Klima Beine machen?
Habeck: Nein! Wir müssen in den konkreten Dingen besser werden: schnellerer Ausbau der erneuerbaren Energien, Abbau der umweltschädlichen Subventionen, auch ein höherer CO2-Preis. Das sind die Dinge, die mit der Zielzahl jetzt beschlossen werden sollten.
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