Soviel ist klar: Die zweite Infektionswelle hatte auch Schweden mit voller Wucht erwischt. Und der Blick auf die Statistik zeigt: Seit dem Herbst starben sogar noch mehr Menschen als während der ersten Infektionswelle im Frühjahr. Obwohl die Regierung im Dezember ihren relativ laxen Kurs bei der Pandemie-Bekämpfung geändert und härtere Restriktionen eingeführt hatte als vorher.
"Wir befinden uns gerade in einer ziemlich ernsten Lage, in einer dritten Infektionswelle. Wir haben eine hohe Zahl von Neuinfektionen, viele Menschen müssen im Krankenhaus behandelt werden und einige von ihnen auf der Intensivstation."
Tove Fall ist Professorin für Epidemiologie in Uppsala. Diese Region war Mitte April besonders hart von der dritten Welle betroffen, Medien berichten von überfüllten Intensivstationen in den Krankenhäusern.
Auch zweite Welle trifft Alte und Kranke
Seit Beginn der Pandemie sind in Schweden gut 14.000 Menschen an oder mit Covid-19 gestorben. Hochgerechnet auf die Einwohnerzahl Deutschlands entspräche das rund 110.000 Corona-Toten – und damit knapp 34 Prozent mehr Opfern, als zwischen Lübeck und Landshut bislang tatsächlich verzeichnet wurden. Besonders erfolgreich war Schwedens Sonderweg also nicht. Und so wie im Frühjahr traf es auch in der zweiten Welle vor allem ältere und kranke Menschen in Alten- und Pflegeheimen.
COVID-19-Todesfälle relativ zur Bevölkerung in Schweden und anderen europäischen Ländern
Die härteren Maßnahmen, die nach der ersten Infektionswelle ergriffen wurden, haben dies nicht verhindern können, räumte Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell auf einer der täglich gesendeten Pressekonferenzen ein. "Wir waren nicht so viel besser darin als wir gehofft und gedacht haben. Vor allem, weil es viel schwieriger als gedacht war, das Virus aus Altersheimen fernzuhalten."
Im Klartext heißt das: Die Strategie der Regierung, primär auf Maßnahmen zum Schutz der vulnerablen Gruppen zu setzen, ist nicht aufgegangen. Zudem hat eine Recherche des schwedischen Radios ergeben, dass die schwedische Gesundheitsbehörde der Bevölkerung im Herbst des vergangenen Jahres die falschen Signale gesendet hat, sagt Tove Fall.
"Als die Zahlen Ende September um 35 Prozent pro Woche anstiegen, wurde das nicht als große Sache kommuniziert. Doch mit einer solchen Krankheit, bei der man darauf setzt, dass sich die Menschen an Restriktionen halten, ist es unglaublich wichtig, dass die Allgemeinheit weiß, dass es Warnsignale gibt, dass die Infektionszahlen stark ansteigen."
Denn Schwedens Regierung hat von Anfang an darauf gebaut, dass sich die Menschen freiwillig an die Restriktionen halten und auf gesetzliche Einschränkungen weitgehend verzichtet. Eine Strategie, die aus Sicht vieler Schweden eine Zeit lang relativ gut funktioniert hat, weil die meisten den Appellen folgten und ihre beruflichen und privaten Kontakte einschränkten.
Wirtschaft ist nicht besser gestellt als in den Nachbarländern
Doch Tove Fall hätte sich gewünscht, dass die Regierung dem Rat verschiedener Experten mehr Gehör geschenkt hätte. "Wenn die Regierung Maßnahmen zur Eindämmung des Virus beschließt, wägt sie unterschiedliche Interessen gegeneinander ab. Und ich finde, dass wir Akademiker und Forscher mit unserem Wissen nicht ausreichend eingebunden waren. Außerdem finde ich, dass nicht transparent war, welche Entscheidungen die Gesundheitsbehörde und welche die Regierung getroffen hat."
Klar ist inzwischen auch: Der "Lockdown light" während der ersten Infektionswelle im Frühjahr 2020 hat nicht dazu geführt, dass die schwedische Wirtschaft jetzt besser dran ist als in anderen Ländern. Gleichzeitig hätte ein härterer Lockdown viele Menschenleben retten können. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie Tübinger Forscher, die kürzlich im Fachmagazin PLOS One veröffentlicht wurde. Gernot Müller, Professor für Makroökonomie, ist einer der Autoren. "In unserer Studie finden wir, dass ein Lockdown in Schweden für neun Wochen, der hätte zur Folge gehabt, dass wir 75 Prozent weniger Infektionen gesehen hätten in Schweden und 38 Prozent weniger Tote."
Dieser Berechnung zufolge wären bis Ende August des vorigen Jahres 2.000 Menschen weniger gestorben, wenn Schweden einen ähnlich harten Lockdown verhängt hätte wie andere Länder. Und der Wirtschaft hätte das kaum geschadet. In vergleichbaren Ländern, wo es einen harten Lockdown gab, sank das Bruttosozialprodukt im ersten Quartal um gut zwei Prozent, im zweiten Quartal um fast zehn Prozent. In Schweden waren es im ersten Quartal 0,6 und im zweiten neun Prozent. Die Unterschiede sind also gering.
"Also Schweden war nicht viel besser als der Rest, der einen Lockdown gemacht hat. Das muss man ehrlicherweise auch sagen. Also insofern waren die Kosten, also die wirtschaftlichen Kosten des Lockdown nicht so hoch. Und das hat uns schon ein bisschen überrascht. Da kann sich man natürlich auch überlegen, woher das kommt. Und eine Erklärung, die sich anbietet, ist eben tatsächlich wiederum diese freiwillige Selbstbeschränkung der Leute. Weil da ist die Wirtschaft halt auch runtergefahren. Die Leute haben einfach mal ein bisschen langsamer gemacht. Dann brauche ich gar keinen Lockdown."
Dass die Schweden ihr Verhalten im Frühjahr 2020 deutlich verändert haben, konnten Gernot Müller und sein Team auch an den Bewegungsdaten der Handynutzer ablesen. Diese haben gezeigt: Viele Skandinavier verzichteten freiwillig auf Reisen und wer konnte, arbeitete im Homeoffice. Daran hat sich bis heute nichts geändert.