"Da ist bei alten Menschen, vielleicht auch Menschen mit einer leichten Demenz, ganz tiefes Unverständnis über das, was gerade passiert."
Andreas Müller-Cyran geht in die Einsamkeit. Zu Menschen, die an COVID-19 erkrankt und deshalb isoliert sind. Der katholische Diakon besucht sie – auch die sehr Alten oder Dementen - im Schutzanzug. Nicht als Arzt, sondern als Seelsorger.
"Die Menschen können nicht verstehen, was Corona bedeutet. Sie merken nur, dass ihre Partnerinnen und Partner, die Kinder, die Enkelkinder, die doch früher immer gekommen sind, nicht mehr da sind.
Und diese Art der Isolation, der Vereinsamung, ist für viele, gerade für die älteren Menschen ein ganz großes, beherrschendes Thema. Es ist für jeden Menschen ein neues Phänomen, mit dem wir zu tun haben. Und Menschen, die sowieso schon eingeschränkt sind durch eine Erkrankung, sind dadurch auch einfach sehr stark verunsichert."
"Es ist schon ein bisschen ungewöhnlich"
Zusammen mit 40 Kolleginnen und Kollegen bildet Müller-Cyran die Einsatzgruppe Seelsorge für Menschen mit Covid-19 im Erzbistum München-Freising. Gegründet im Frühjahr, auf dem Höhepunkt der Pandemie. Gemeinde- und Pastoralreferentinnen, Diakone und Priester ließen sich erklären, wie sie ihre Schutzkleidung richtig anlegen und was in puncto Hygiene wichtig ist.
"Sie gehen dann im geschützten Zustand in die Wohnung hinein, haben Texte zum Vorlesen, Texte die man gemeinsam mit dem betroffenen Menschen beten kann. Aber auch anderes, was natürlich vorher desinfiziert wird. Also es ist alles schon ein bisschen ungewöhnlich. Und dann findet das Gespräch statt in dem Zimmer, in dem der betroffene Mensch sich in Quarantäne befindet. Das ist dann ein normales seelsorgliches Gespräch. Und dann legen wir sehr großen Wert darauf, die Schutzausstattung in einer Weise abzulegen, mit der man sich eben ganz sicher nicht infiziert."
Bisher ging alles gut, allerdings gab es in der ganzen Diözese auch erst 30 Einsätze. Die Corona-Seelsorgerinnen und Seelsorger werden vor allem in Alten- und Pflegeheime gerufen und bieten zudem an, Menschen zu besuchen, die zu Hause in Quarantäne sind.
"Die Motivation lässt nach"
Dagegen gibt es in den Krankenhäusern meist eine eigene Seelsorge. Thomas Kammerer ist katholischer Pfarrer im Münchner Uniklinikum rechts der Isar. Obwohl zuletzt in München wie fast überall die Zahl der positiv Getesteten steigt, müssen zurzeit deutlich weniger Menschen mit schweren Verläufen in die Klinik:
"Die Patienten haben im letzten Monat stetig abgenommen. Die letzten vier Wochen waren dann bloß noch einzelne Patienten da und gestorben ist auch niemand, soviel ich weiß, an Covid-19 bei uns."
Das ist die gute Nachricht. Allerdings habe sich schon etwas verändert, so Kammerer. Die Pandemie schränkt den Alltag ein, niemand weiß, was noch kommt. Das schlage aufs Gemüt. Die Beschäftigten im Klinikum seien erschöpft.
"Die Motivation lässt nach. Am Anfang war bei unseren Mitarbeitenden eine unglaublich große Motivation, miteinander solidarisch diese Krise zu bewältigen. Die waren auch sehr kreativ, Dinge zu erledigen, die unter den erschwerten Bedingungen nicht mehr routinemäßig erledigt werden konnten. Es war eine gute Stimmung im Haus, auch untereinander. Und mittlerweile ist es eher so, dass es wieder so ist wie vorher, wenn nicht sogar ein Stückchen schlimmer, weil eben diese Resignation dazukommt. Mittlerweile klatscht ja auch niemand mehr für Pflegende."
"Ich glaube, dass ein Gespräch immer hilft"
Als Klinikseelsorger hat er die psychosozialen Bedürfnisse der Pflegenden im Blick. Personalknappheit, Druck, mageres Gehalt – und die zusätzlichen Belastungen, mit denen in der Pandemie alle leben müssen: Weniger Kontakte und unsichere Kinderbetreuung etwa. Zugleich sei im eng getakteten Klinikalltag kaum Zeit, um seelsorgliche Gespräche zu führen.
"Wir sprechen zwischen Tür und Angel, da passiert Mitarbeiter-Seelsorge. Man macht keine Gesprächsrunden, da würde kein Mensch kommen. Aber wenn man mal nachfragt, wie geht’s Ihnen, dann kommen schon diese Anmerkungen. Manchmal aber auch, dass sie sich einen Moment hinstellen oder hinsetzen und wirklich auch reden wollen."
Gedrückte Stimmung, Überforderung, die Ungewissheit, wie sich die Pandemie entwickelt: Können Krankenhaus-Seelsorgerinnen und Seelsorger wie Thomas Kammerer da überhaupt helfen?
"Ich glaube, dass ein Gespräch immer hilft. Dinge, die man anspricht – das ist im psychologischen Bereich ja eigentlich ein Standard – sind immer besser, weil sie durch die Sprache eine Strukturierung bekommen. Die Gesamtsituation ist natürlich für uns alle gerade unübersehbar. Wir kennen es nicht, dass wir mit einem Risiko leben müssen, von dem wir nicht absehen können, wann es zu Ende ist."
"Leben ist risikoreich"
Dieses Nichtwissen sei das Fachgebiet der Seelsorge, weil für manche Menschen existenzielle und auch spirituelle Fragen bedeutsamer würden. Dennoch hüte er sich vor verkürzten religiösen Deutungsmustern der Corona-Krise.
"Die Pandemie kann man nicht theologisch deuten. Sie ist einfach ein Teil unserer Lebensrealität, wie Naturkatastrophen immer Teil der Lebensrealität von Menschen waren. Vulkanausbrüche, Kometeneinschläge, es gibt vieles, was schicksalhaft zu unserer Kontingenz, also der Begrenztheit unserer Lebenswirklichkeit, dazugehört. Die Kirche hat eine Botschaft dagegen: Fürchtet euch nicht. Damit man die Kraft hat, die Unsicherheit des Lebens durchzustehen."
Allerdings äußern Kritiker, die Kirchen seien in den vergangenen Monaten gehörig in die Defensive geraten – und hätten sich vor allem mit sich selbst beschäftigt. So sieht es auch Thomas Kammerer.
"Kirche hat sich präsentiert als die superbrave Institution innerhalb der Regeln, die eingeführt wurden. Die Regeln, die der Staat eingeführt hat, hat die Kirche entweder antizipiert, oder sie hat sie strenger eingeführt als der Staat selber. Da ist, glaube ich, etwas hinten runtergefallen, was als Botschaft ganz wichtig ist: Leben ist risikoreich."
"Ich glaube, dass viele Menschen Kirche ganz neu erleben"
Einerseits haben evangelische und katholische Kirche viele Angebote ins Leben gerufen: Von im Internet übertragenen Gottesdiensten bis zur Telefon- und Online-Seelsorge. Andererseits lässt sich der Eindruck gewinnen, das meiste geschehe aus besonders großer Distanz. Dem versuche die Corona-Einsatzgruppe im Erzbistum München-Freising etwas entgegen zu setzen – mit Gesprächen von Angesicht zu Angesicht, sagt der Diakon und Krisen-Experte Andreas Müller-Cyran:
"Ich glaube, dass viele Menschen Kirche ganz neu erleben, wenn sie nicht nur im Streaming den Gottesdienst sehen, sondern wenn tatsächlich ein Seelsorger sie in dieser Isolation besucht. Mir scheint es wichtig zu sein, dass wir als Kirche die Vollzüge nicht nur auf das Liturgische reduzieren und fokussieren, sondern schauen, wie wir zu den Menschen hingehen. Und uns so engagieren, wie wir das auch in anderen Kontexten tun, wie zum Beispiel in Gottesdiensten."