Die Vorsitzende des Ärzteverbundes Marburger Bund, Susanne Johna, hat sich enttäuscht über die Pläne zum Infektionsschutzgesetz gezeigt, die die Ampel-Parteien vorgelegt haben. Zwar halte sie es für richtig, die kostenlosen Tests wieder einzuführen, aber "insgesamt hätten wir uns etwas mehr Mut gewünscht", sagte sie im Dlf. Die kostenlosen Tests wären auch nur dann nützlich, "wenn es dann dazu führt, dass diejenigen, die positiv getestet werden, sich dann auch an die Quarantäne halten", so die Medizinerin.
Auch der Sozialverband VdK und der Deutsche Städtetag hatten die geplanten Corona-Maßnahmen als zu lasch kritisiert.
2G für Geimpfte und Genesene "die Sicherstellung der Freiheiten"
Außerdem plädierte Johna im Interview für die bundesweite Einführung der 2G-Regel. Für Länder mit niedrigen Inzidenzen, wie etwa Schleswig-Holstein, könne es immer noch Ausnahmen geben. 2G sei zudem kein Ausschluss der Ungeimpften vom öffentlichen Leben, sondern für Geimpfte und Genesene "die Sicherstellung der Freiheiten, die sie leben sollen könnten. Wir betrachten es immer aus Sicht der Ungeimpften. Wir sollten es doch mal aus der Sicht der Mehrheit der gut 58 Millionen deutschen Geimpften sehen."
Johna: Impfquote steigern, Krankenhäuser entlasten
Wichtig sei es nun, die Impfquote zu steigern, sagte Johna. Zwar gebe es in Deutschland durchaus Impfdurchbrüche, aber in Ländern mit einer deutlich höheren Impfquote wie Portugal oder Italien infizierten sich weniger Menschen. In diesen Ländern gebe es ihrer Meinung nach einen stärkeren Solidaritätsgedanken. "In Deutschland wird die Freiheit der Entscheidung hochgehängt. Freiheit bedeutet aber nicht, dass jeder immer das tun kann was er will, sondern die Freiheit des einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt."
Die Ärztin machte im Interview außerdem auf die angespannte Situation in den Krankenhäusern aufmerksam. Die Ausnahmesituation der letzten 18 Monate habe deutliche Spuren beim Personal hinterlassen und zu Überlastungen geführt. "Wenn jetzt nicht gehandelt wird und wenn diese Überlastungssituation nicht begrenzt wird, mache ich mir ernsthaft Sorgen dauerhaft für die Personalbesetzung auf den Intensivstationen", sagte Johna.
Das Interview im Wortlaut:
Stefan Heinlein: Eine Rekord-Sieben-Tage-Inzidenz von über 200 heute Morgen. 213,3 genau, das ist ein trauriger Rekord in Deutschland. Frau Johna, ist das eine epidemische Lage von nationaler Tragweite?
Susanne Johna: Ja, die ist es ohne Zweifel. Letztlich ist aber nicht die Frage, wie es, sage ich mal, gesetzlich eingestuft wird, sondern die entscheidende Frage ist, welche Maßnahmen ergriffen werden, und die kann der Bund ergreifen, die können die Länder ergreifen, auch wenn diese Lage aufgehoben wurde. Wichtig ist, dass sie ergriffen werden.
Heinlein: Reden wir noch mal über diese Inzidenz, bevor wir über die Maßnahmen diskutieren. Wie aussagekräftig ist denn überhaupt noch diese Sieben-Tage-Inzidenz, diese 200er-Zahlen, diese 300er-Zahlen zur Beurteilung der Corona-Situation? In den letzten Wochen und Monaten hieß es ja immer wieder, man müsse aufhören, nur auf diese Zahl zu starren.
Johna: Das ist ja auch richtig. Nur die Zahl sagt nichts, aber wir sehen ja leider, dass weiterhin, wenn auch mit einem anderen Faktor, ein linearer Zusammenhang zwischen dieser Zahl und der Anzahl der Patienten, die wir in den Krankenhäusern aufnehmen, besteht. Diese Linearität hat einen anderen Faktor, aber sie ist weiter vorhanden, und deswegen sehen wir auch in den Ländern, wo die Inzidenz besonders hoch ist, besonders viele Patienten in den Krankenhäusern und leider auch auf den Intensivstationen.
Heinlein: Diese Patienten in den Krankenhäusern, sind das vornehmlich aus Ihrer Sicht, aus Sicht des Marburger Bundes Patienten, die ungeimpft sind? Erleben wir eine Pandemie der Ungeimpften, obwohl es ja immer mehr Berichte von Impfdurchbrüchen gibt und schwere Verläufe auch bei doppelt geimpften?
Johna: Es ist im Wesentlichen schon eine Pandemie der Ungeimpften. Aber ja, es gibt auch Impfdurchbrüche, und deswegen geht es darum, sowohl zu impfen als auch zu testen. Nur die Impfung gibt uns keine hundertprozentige Sicherheit. Aber wenn wir erheblich höhere Impfquoten hätten, wie sie andere Länder ja erreicht haben wie beispielsweise Portugal mit einer Impfquote von über 87 Prozent oder Spanien oder auch Italien, dann sehen wir auch, dass dort sich weniger Menschen infizieren. Insofern hängt das schon miteinander zusammen.
"Es geht um Solidarität für die Bevölkerung"
Heinlein: Haben Sie eine Erklärung, warum die Impfquote bei uns so viel geringer ist als etwa in Spanien, Portugal oder Dänemark?
Johna: Vielleicht gibt es in diesen Ländern noch etwas mehr Solidaritätsgedanken. Hier wird die Freiheit der Entscheidung hochgehängt. Freiheit bedeutet aber nicht, dass jeder immer das tun kann was er will, sondern die Freiheit des einzelnen endet – und das hat Immanuel Kant gesagt -, dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Uns allen ginge es besser, wenn wir deutlich höhere Impfquoten hätten, und wir könnten auch wieder zu viel mehr Freiheit im Leben zurückkommen. Insofern geht es um den einzelnen, aber auch um die Solidarität für die Bevölkerung.
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Heinlein: Welche Folgen für die Impfbereitschaft, die ja nicht sehr hoch ist bei einem Teil der Bevölkerung, hat denn nun die Wiedereinführung der kostenlosen Corona-Tests? Das ist ja eine der Maßnahmen, die offenbar jetzt die kommende Ampel-Koalition beschließt.
Johna: Wenn es dann dazu führt, dass diejenigen, die positiv getestet werden, sich dann auch an die Quarantäne halten, dann hilft das schon. Auch da hören wir ja immer mehr, dass Menschen trotz der Tatsache, dass sie wissen, dass sie positiv getestet sind, nicht komplett in Quarantäne gehen. Da muss die Quarantäne dann auch durchgesetzt werden. Aus unserer Sicht wäre es richtig, 2G überall im öffentlichen Raum einzuführen, und zwar letztlich für alle Länder. Dann kann es immer noch Ausnahmen geben in Ländern mit sehr niedrigen Inzidenzen und Hospitalisierungsraten wie beispielsweise in Schleswig-Holstein, aber in den meisten anderen Ländern wäre das aus unserer Sicht richtig.
Gefahr neuer Virus-Varianten
Heinlein: Warum fehlt offenbar sowohl der geschäftsführenden Bundesregierung als auch der kommenden Ampel-Koalition der Mut, wie in Österreich diese 2G-Regelungen einzuführen?
Johna: Es wurde ja argumentiert, man mache sich Sorgen, dass möglicherweise auch Regelungen wieder durch Gerichte kassiert werden. Ob man sich diese Sorgen machen muss, kann ich juristisch nicht beurteilen. Das Entscheidende ist doch, die Bevölkerung zu schützen. Diese Aufgabe hat die Politik. Aus unserer Sicht ist es jetzt auch enorm wichtig, gerade die vulnerablen Gruppen zu schützen, ältere Menschen, die jetzt dringend, sehr schnell ihre Booster-Auffrischimpfung, die dritte Impfung brauchen.
Heinlein: Macht Sie das wütend, macht Sie das ratlos, wenn Sie jetzt über die Grenze blicken nach Österreich? Dort gilt 2G. Und man sieht dann gleichzeitig mit Einführung dieser Regelung, dass die Schlangen vor den Impfstationen wieder länger werden, und Sie denken, das könnten wir auch in Deutschland haben, wenn 2G da ist.
Johna: Ja, ein Stück weit schon schaut man da ein bisschen neidisch. Auch andere europäische Länder haben sich ja zu, sage ich mal, Schritten entschieden, teilweise berufsbezogene Impfpflicht eingeführt. Wir müssen die Bevölkerung schützen und wir dürfen auch nicht vergessen, dass nach wie vor ein Selektionsdruck auch besteht. Je mehr Infizierte es gibt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass noch einmal andere Virus-Varianten entstehen.
"Halten es für richtig, die kostenfreien Tests wieder einzuführen"
Heinlein: 2G – wenn man das übersetzt, kann man sagen, das ist eine Art Lockdown Light für die Ungeimpften, für den ungeimpften Teil der Bevölkerung. Wer sich und andere nicht schützt durch eine Impfung, wird vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Das ist aus Ihrer Sicht, aus ärztlicher Sicht, aus Sicht des Marburger Bundes notwendig?
Johna: Man kann es auch genau anders herum formulieren, Herr Heinlein. Das ist für die geimpfte und genesene Bevölkerung die Sicherstellung der Freiheiten, die sie leben sollen könnten. Wir betrachten es immer aus Sicht der Ungeimpften. Wir sollten es doch mal aus der Sicht der Mehrheit der gut 58 Millionen deutschen Geimpften sehen. Es betrifft auch nicht die Kinder oder diejenigen, die sich nicht impfen lassen können. Für die muss der Zutritt dann zum öffentlichen Raum auch möglich sein.
Heinlein: Jetzt liegen – Frau Johna, Sie haben es sicherlich mitbekommen – die Eckpunkte eines neuen Infektionsschutzgesetzes auf dem Tisch. In dieser Woche beginnen die Beratungen im Bundestag. Da steht nicht viel Neues drin: Abstandsgebote, Maskenpflicht, 3G für Veranstaltungen und Reisen sowie die Verpflichtung zu Hygienekonzepten und vielleicht wieder Einführung von kostenlosen Bürgertests, Corona-Tests. Wie beurteilen Sie diese Vorschläge der Ampel?
Johna: Es ist schon richtig. Wir waren von Anfang an skeptisch, diese kostenlosen Tests abzuschaffen. Natürlich hatten wir gehofft wie andere, dass dadurch die Impfquote steigt. Das ist sie nicht. Insofern halten wir es für richtig, die kostenfreien Tests wieder einzuführen. Es ist aber auch wichtig, dass wir Personal und Besucher in Krankenhäusern, in Alten- und Seniorenheimen regelmäßig testen und nicht nur am Arbeitsplatz die Möglichkeit dafür schaffen. Das heißt, da braucht es klare Regelungen. Es sind kleine Schritte gegangen worden. Wir hätten uns etwas mehr Mut gewünscht.
"Wir haben auf den Intensivstationen eine Personalknappheit"
Heinlein: Etwas mehr Mut, kleine Schritte. Frau Johna, es ist schwierig für Sie, das politisch zu beurteilen. Dennoch: Macht es sich aus Ihrer Sicht aktuell bemerkbar, dass wir uns in einer politischen Übergangsphase befinden, zwischen zwei Regierungen? Es fehlt der Mut, die notwendigen Entscheidungen zu fällen und die Dinge ernsthaft voranzubringen?
Johna: Als Ärztin muss ich sagen, wir haben ohnehin immer eine starke Beanspruchung in den Krankenhäusern. Wir erleben jetzt seit mehr als 18 Monaten eine Ausnahmesituation. Die haben deutliche Spuren hinterlassen. Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte können durch Überlastung auch krank werden, und das ist ja genau das, was wir erleben. Wir haben auf den Intensivstationen eine Personalknappheit. Wir haben deutlich weniger Personal zur Verfügung als noch vor einem Jahr. Wenn jetzt nicht gehandelt wird und wenn diese Überlastungssituation nicht begrenzt wird, mache ich mir ernsthaft Sorgen dauerhaft für die Personalbesetzung auf den Intensivstationen. Deswegen ist es wichtig, die Last aus den Krankenhäusern möglichst rauszuhalten.
Auslastung der Intensivbetten in Deutschland
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