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Corona-Pandemie
Modellierer: Keine Entspannung beim Infektionsgeschehen in Sicht

Der Corona-Modellierer Thorsten Lehr rechnet mit deutlich steigenden Corona-Infektionszahlen in den nächsten Wochen. Auch bei der Bettenbelegung der Intensivstationen sei nicht mehr viel Luft nach oben. „Die Maßnahmen bleiben Impfen und natürlich Kontaktbeschränkungen“, sagte er im Dlf.

Thorsten Lehr im Gespräch mit Ralf Krauter |
Eine Mitarbeiterin der Pflege steht in einem Patientenzimmer auf der Corona-Intensivstation des Universitätsklinikums Essen
"Jeder ungeimpfte Covid-Patient, den wir auf ein Intensivbett verlegen, nimmt letztendlich auch einem Non-Covid-Patienten ein dringend benötigtes Bett weg," sagt Thorsten Lehr. (picture alliance / dpa - Fabian Strauch)
Die Corona-Zahlen steigen in Deutschland derzeit schnell. Allein am 21. Oktober wurden dem Robert Koch-Institut fast 20.000 bestätigte Neuinfektionen gemeldet, rund 8.000 mehr als in der vorherigen Woche. Die Siebentagesinzidenz liegt derzeit bei 95 Fälle je 100.000 Einwohner und erreicht damit den höchsten Stand seit Mai.
Thorsten Lehr ist Professor für klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Er pflegt das Computermodell Covid-Simulator alle zwei Wochen mit den neuesten Daten, um das zu erwartende Infektionsgeschehen in Deutschland vorherzusagen.
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Ralf Krauter: Müssen wir uns darauf einstellen, dass die Infektionszahlen in den nächsten zwei Wochen weiter in die Höhe schießen?
Thorsten Lehr: Im Moment stehen wirklich die Zeichen auf Sturm, und ich gehe schon davon aus, dass die Inzidenzen auch in den nächsten Wochen noch deutlich steigen werden. Ob das jetzt so steil sein wird, wie wir das gerade gesehen haben, oder ein bisschen gemäßigter weitergeht, das werden die nächsten Tage zeigen, aber eine Entspannung ist jetzt erst mal nicht in Sicht.
Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie der Saar-Uni, erläutert den Covid19-Online-Simulator
Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie der Saar-Uni, erläutert den Covid19-Online-Simulator (Oliver Dietze, Universität des Saarlandes)

Der aktuelle R-Wert sagt aus, dass es aktuell ein relativ starken Anstieg gibt

Krauter: Ist denn der R-Wert, die Reproduktionszahl, die im Bundesdurchschnitt aktuell über 1,25 liegt, immer noch ein guter Indikator für die mittelfristige Entwicklung – und wenn ja, was verrät der uns gerade, auch im Licht der Tatsache, dass der auch Ihren Analysen zufolge ja in verschiedenen Bundesländern ganz unterschiedlich hoch ist?
Lehr: Ich glaube, bei dem R-Wert zeigt sich auch hier, dass diese Totgesagten doch länger leben. Und der R-Wert gibt uns immer noch einen der besten Indikatoren aus für das aktuelle Infektionsgeschehen und übersetzt sich ja auch direkt in Inzidenzen und indirekt auch in Krankenüberweisungen. Momentan sagt uns der R-Wert über eins, dass also erst mal die Infektionen bundesweit zunehmen, und der R-Wert von 1,2 oder 1,25 eben auch, dass es ein relativ starker Anstieg ist, den wir da sehen, der aber, wie Sie schon richtig gesagt haben, in den einzelnen Bundesländern auch unterschiedliche Muster wirklich zeigt.
Krauter: Nehmen wir mal zwei konkrete Beispiele, ich habe vorhin nachgeschaut in Ihrer neuesten Rechnung, die vor zwei Tagen online gestellt wurde: Sachsen zum Beispiel hat einen R-Wert von 1,25 diesen Berechnungen zufolge, was eben ein schnelles exponentielles Wachstum bedeutet, das Saarland, wo Sie wohnen, einen R-Wert von 0,95, dort sinken die Infektionszahlen also de facto. Wie sind denn diese Unterschiede in der Dynamik zu erklären?
Lehr: Wir sehen im Moment in Bremen und im Saarland R-Werte, die eher klein, um die eins herum, das heißt, dort ist kein sehr starker Anstieg. Das lässt sich mit zwei Gründen erklären, zum einen sind das die Bundesländer mit der höchsten Impfquote, das sind aber auch die kleinsten Bundesländer, dadurch sind dort Schwankungen auch größer. Aber in allen anderen Bundesländern, wenn wir uns das so anschauen, da sehen wir in den letzten Tagen bis Wochen teils massive Anstiege. Und was wir auch in der Vergangenheit sehen, ist, dass sich bisher kein Bundesland diesem allgemeinen Trend von einem Anstieg hat entziehen können. Deshalb gehe ich auch davon aus, dass diese letzten gallischen Dörfer wie Bremen und das Saarland auch hier noch Infektionsdynamik zulegen werden in der nächsten Zeit.
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Impfquote, Infektionsgeschehen und Krankenhausbelegung wichtig zur Beurteilung der Corona-Lage

Krauter: Die Impfquote ist ein entscheidender Faktor, sagen Sie. Gibt es andere, die Sie Ihren Analysen entnehmen können?
Lehr: Die Impfquote ist natürlich ganz wichtig und die Kontakte, das sind die zwei wichtigen Faktoren, also wie viele Kontakte haben wir, die beiden Sachen triggern natürlich das, wie der R-Wert sich entwickelt. Und in Deutschland haben wir einfach eine zu niedrige Impfquote im Moment mit 65 Prozent vollständig Geimpfter, und die Kontakte sind einfach zu stark. Und die Delta-Variante hat natürlich auch ein Zumaß an Infektionsgeschehen gebracht. Von daher glaube ich, bleibt die Impfquote und natürlich auch das Infektionsgeschehen ganz wichtig, aber auch natürlich die Krankenhausbelegungen müssen wir uns irgendwie anschauen, damit wir sehen, welche Kapazitäten wir da noch frei haben und wie dort die Entwicklung entsprechend ist.

Infektionsgeschehen und Krankenhausbelegung möglichst niedrig halten

Krauter: Wir haben jetzt gelernt, dass die Inzidenzen pro 100.000 Einwohner, die sich im Bundesmittel aktuell der 100 nähert, alleine nicht mehr so viel darüber verrät, wie viele Infizierte dann letztlich ernsthaft krank werden, weil eben viele Junge, aber auch Geimpfte meist nur milde Verläufe haben. Derzeit sind auf deutschen Intensivstationen rund 1.500 Patienten und Patientinnen in Behandlung wegen Covid, da ist also durchaus noch Luft oben. Heißt das nicht, wir können den gegenwärtigen, raschen Anstieg vielleicht auch einfach aussitzen und die Dinge erst mal laufen lassen?
Lehr: Ja, also prinzipiell hat sich ja in der letzten Zeit an dem Verhältnis zwischen der Inzidenz und der Krankenhauseinweisung nicht viel geändert. Was sich geändert hat durch die Impfung, ist, dass die Altersstruktur der Infizierten sich zu deutlich Jüngeren hin verschoben hat, die damit theoretisch auch einen milderen Verlauf haben. Was wir aber nicht vergessen dürfen, durch die Delta-Variante haben im Vergleich zum Wildtyp auch deutlich schwerere Verläufe auch bei jüngeren Patienten. Und der Trend in der Bettenbelegung, da sehen wir auch, dass wir wieder einen Anstieg sehen, das wird auch mit den steigenden Infektionszahlen sich noch weiter verschärfen. Was wir auch sehen, ist, dass in den Krankenhäusern im Moment vor allem die Kapazität von Non-Covid-Patienten auf den Intensivstationen deutlich über dem jahresüblichen Durchschnitt liegt. Das heißt, dort ist es schon sehr voll durch Nicht-Covid-Patienten, deshalb ist meiner Meinung nach gar nicht mehr so viel Luft nach oben. Wir dürfen einfach nicht vergessen, jeder ungeimpfte Covid-Patient, den wir auf ein Intensivbett verlegen, nimmt letztendlich auch einem Non-Covid-Patienten ein dringend benötigtes Bett weg. Hier müssen wir einfach schauen, dass wir versuchen, dieses Infektionsgeschehen und auch einfach das Geschehen in den Krankenhäusern trotzdem niedrig zu halten.

"Die Maßnahmen bleiben Impfen und natürlich Kontaktbeschränkungen"

Krauter: An welchen Schwellwerten, an welchen Parametern sollten wir denn unsere Aktivitäten dann festmachen? Woran würden wir erkennen, dass wir gut beraten wären, jetzt wieder aktiv und entschlossen gegenzusteuern – wie das ja auch in manchen europäischen Nachbarländern auch gerade schon passiert?
Lehr: Das kommt natürlich ein bisschen auch darauf an, was eigentlich unser Ziel für den Herbst ist. Falls das Ziel der Regierung sein sollte, dass wir eine Immunisierung der Bevölkerung durch Masseninfektionen erzielen, dann sind wir eigentlich gerade ganz gut, dann müssen wir nichts machen, das erreichen wir dann ganz gut, aber ich glaube nicht, dass das das Ziel sein sollte. Wir sehen in den Nachbarländern zum Beispiel, dass dort, wo Lockerungen stattfinden wie zum Beispiel Niederlande oder Dänemark, die auch eine bessere Impfquote als Deutschland zeigen, dass dort logischerweise nach den Lockerungen auch die Infektionszahlen wieder massiv ansteigen. Wenn wir aber auch sehen, wie zum Beispiel in Ländern wie Portugal, wo über 85 Prozent vollständig geimpft sind, dass dort auch eine hohe Impfquote zu niedrigen Infektionszahlen führt, das ist alles nicht ganz unlogisch und altbekannt. Das scheint aber viele doch immer wieder zu überraschen, dass Corona nicht einfach so verschwindet. Wir müssen uns da letztendlich einfach überlegen, was wollen wir denn erreichen. Die Maßnahmen bleiben Impfen und natürlich Kontaktbeschränkungen, da müssen wir schauen, wie wir denn eigentlich in der Bevölkerung noch vorankommen, das weiter zu vermitteln.
Erstsemester-Studenten stehen bei einer Willkommensveranstaltung auf dem Universitätsplatz vor dem Gebäude der Neuen Universität hinter dem mit Kreide auf dem Boden aufgemalten Schriftzug "corona"
Was das Ende der epidemischen Lage bedeutet
Die "epidemische Lage von nationaler Tragweite" könnte am 25. November auslaufen, obwohl die Coronazahlen inzwischen wieder deutlich steigen – dank der Impfungen allerdings mit weniger dramatischen Folgen. Wie könnten die Regelungen im Winter aussehen?
Krauter: Genau darüber beraten ja jetzt die Ministerpräsidenten der Länder heute am Nachmittag des 22. Oktobers wieder, die sollen die künftige Corona-Strategie beraten oder entscheiden, auch mit Blick auf die Tatsache, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ja die epidemische Notlage von nationaler Tragweite im November auslaufen lassen will. Was würden Sie denn den versammelten Ministerpräsidenten raten?
Lehr: Ich glaube, es ist wirklich wichtig, durch diese Aufhebung der Notlage nicht das falsche Signal in die Bevölkerung zu senden, die ja sowieso schon komplett verwirrt ist. Wir müssen auf jeden Fall weiter versuchen, zu impfen – und das möglichst auch mit einem niederschwelligen Zugang und in Bevölkerungsteilen, die wir noch nicht ausreichend erreicht haben wie Bevölkerungsteile mit Migrationshintergrund, um wirklich von der Impfung auch Gebrauch zu machen. Wir dürfen aber auch letztendlich die Booster-Impfungen nicht aus den Augen verlieren, damit wir die vulnerablen Gruppen weiter schützen. Und letztendlich muss auch die Politik einfach in Zeiten dieser Regierungsbildung dieses unangenehme Thema wieder auf den Tisch bringen und an die Bevölkerung kommunizieren, was sie erwartet und was das Ziel eben für den Herbst und Winter sein sollte – und das bitte einheitlich und auch abgestimmt zwischen den Bundesländern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.