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Kinder und Jugendliche nach der Pandemie
Psyche im Leerlauf

Die Corona-Pandemie traf gerade junge Menschen hart. Über Monate fehlten Struktur und der Kontakt zu Gleichaltrigen - wie viele haben nicht mehr in den Alltag zurückgefunden? Und bekommen sie die Hilfe, die sie jetzt brauchen?

Von Wibke Bergemann | 08.01.2023
Vier Jugendliche sitzen auf einer Mauer im Riemer Park in München.
Kontaktsperren, Bewegungsmangel, "Home-Schooling" und Verlust der Alltags-Strukturen - die Einschränkungen in der Corona-Pandemie haben Kinder und Jugendliche besonders hart getroffen (dpa / picture alliance / Sven Simon)
„Erstmal sind wir in dieser Zeit ja erwachsen geworden.“ „Ich meine, ich war 15, und du hast da halt angefangen, dein Leben zu genießen. Du warst ein jugendliches Mädchen, bist rausgegangen, hast Leute kennengelernt, ältere Jungs kennengelernt. Und dann wurde das halt wirklich super abrupt gestoppt.“
Die Corona-Pandemie war für Kinder und Jugendliche eine Ausnahme-Zeit, bei nicht wenigen hat sie Spuren hinterlassen. „Ein paar Freunde von mir, die haben dann wirklich exzessiv angefangen, weil sie einfach nichts Anderes zu tun haben. Auch Alkoholexzesse, weil diese Einsamkeit, das war für viele schon sehr schwierig.“
Erst die Angst, sich oder andere anzustecken. Dann machten die Schulen zu, der gewohnte Alltag brach weg, Sport war fast nicht möglich, monatelang gab es kaum noch Kontakt mit Gleichaltrigen. Stattdessen die Probleme in der Familie, bis hin zu häuslicher Gewalt. Die ersten Studien zum Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen hatten teils alarmierende Befunde.
Jetzt sind die Pandemie-Beschränkungen weitestgehend aufgehoben. Das Leben ist fast wie „früher“. Geht es jungen Leuten wieder besser? Wie viele von ihnen sind psychisch ernsthaft krank geworden? Und was brauchen sie, um sich zu erholen?

Rückkehr zur Schule nicht mehr geschafft

„Ich glaub, sie hat die Schulbindung verloren. Mit anderen Worten, meine Tochter ist dann nicht mehr zur Schule gegangen“, erzählt der Vater einer 13-Jährigen. Während die meisten Schüler und Schülerinnen froh waren, nach dem langen, zweiten Lockdown wieder in die Schule und ins normale Leben zurückzukehren, schaffte seine Tochter es nicht mehr, ihre Schutzzone zu verlassen.
„Das Eintreten von Corona, das Einsetzen vom Homeschooling war für meine Tochter Fluch und Segen zugleich in gewisser Weise. Weil sie ja Schwierigkeiten hatte, anzudocken in ihrer Klasse und ihren Platz zu finden. Obwohl sie zwei Freundinnen hatte, hat sie sich gefreut, dort nicht mehr in Präsenz aufschlagen zu müssen.“
Jelena, die eigentlich anders heißt, war immer eine gute Schülerin. Doch bis heute schafft sie es nicht, ihre Ängste zu überwinden. Wie verzweifelt Jelena wirklich ist, wird deutlich, als sie einige Monate nach der Schulöffnung anfängt, sich mit Rasierklingen in den Arm zu ritzen. „Als wir merkten, dass meine Tochter sich zurückzieht und wir bemerkten auch, dass sie wohl so sehr unter Druck ist, so sehr, dass sie sich selber geritzt hat, gingen die Alarmglocken natürlich an, spätestens da, und wir haben uns um eine Psychotherapie bemüht.“
Jeden Morgen aufs Neue versuchen die Eltern, Jelena zu überzeugen, in die Schule zu gehen. Meistens ohne Erfolg. Als das Mädchen andeutet, sich umbringen zu wollen, wird sie in einer jugendpsychiatrischen Tagesklinik aufgenommen. Nun geht sie täglich in die Ambulanz statt in die Schule. „Es gibt die Diagnose. Da ist ein Hinweis auf eine leichte Depression und auch eine Sozialphobie. Das heißt also, dass sie immer wieder in Phasen stärkerer Niedergeschlagenheit gerät. Und dass sie Schwierigkeiten hat, an Menschen anzudocken.“

Studien mit alarmierenden Ergebnissen

Klar ist: Jelena ist nicht die einzige Jugendliche, der es nicht gelungen ist, einfach wieder in den gewohnten Alltag zurückzukehren. Doch wie viele von ihnen sind betroffen? Auch wenn inzwischen einige Studien vorliegen – das Ausmaß der psychischen Folgen ist schwer zu fassen.
„In den ersten Ergebnissen der COH-FIT Studie haben wir gezeigt, dass sich bei Kindern und Jugendlichen in der ersten Phase die Gefühle von Frustration, Leere, Langeweile, Ärger, Depressivität und Ängstlichkeit verdoppelt haben. Und dann sogar in der nächsten Phase, da war es sogar nochmal schlechter“, berichtet Christoph Correll, Direktor der Klinik für Jugendpsychiatrie an der Berliner Charité.
„Wir kennen alle diese Jugendkrisen, Identitätssuche, wo viel in Bewegung ist, wo man ganz viel sich Erleben und Austausch braucht. Man hat vielleicht nicht mehr die Außenmöglichkeit, das abzukoffern, was zu Hause schwierig ist. Da gibt es den Trainer, da gibt es die Lehrerin. Das ist weg, der Stress hat sich also erhöht.“

Für Schlagzeilen sorgte im vergangenen Jahr die sogenannten COPSY-Studie am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf. Während der beiden Lockdowns wurden über 1.000 Kinder und Jugendliche nach ihrer seelischen Gesundheit befragt, mit alarmierendem Ergebnis: 30 Prozent der Befragten zeigten psychische Auffälligkeiten. Allerdings waren auch vor der Pandemie bereits 18 Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen. Die Zahlen beruhen allein auf den Selbstauskünften, nicht auf belastbaren Diagnosen. Zudem wurde nicht nach psychischen Störungen gefragt, sondern nach Auffälligkeiten, nach psychischen „Themen“, wie der Direktor der Kinder- und Jugendklinik am Universitätsklinikum Leipzig, Prof. Wieland Kiess die mehr oder weniger großen individuellen Probleme bezeichnet:
„Das heißt nicht, dass die eine schwere Depression haben, die man beim Psychiater behandeln lassen muss. Sondern ein Thema: Dass die weniger belastbar sind, dass die Aufmerksamkeitsthemen haben, dass sie Verhaltensthemen haben, das ist etwas, was zunimmt, natürlich auch in der Gesellschaft, Unsicherheiten, Ängste, Angststörungen dann. Das geht alles natürlich über in Krankheit.“

Wie verlässlich sind die Daten?

In Leipzig befragte ein Team um Kies Kinder und Jugendliche aus einer Kohorte, für die schon Daten aus der Zeit vor Corona vorlagen. Bei diesen Befragten verschlechterte sich ebenfalls das psychische Wohlbefinden während der beiden Corona-Lockdowns, wenn auch nur leicht. Kiess geht davon aus, dass die meisten Kinder und Jugendlichen sich wieder erholen werden. Wie viele von ihnen langfristige Probleme davontragen, kann er derzeit noch nicht sagen.
„Ich möchte noch 1 bis 2 Jahre beobachten, bis es belastbar ist. Es wird sich einiges bessern, weil Kinder sehr resilient sind. Und wenn wir die Kinder unterstützen, dann werden die wieder Sport machen, werden merken, dass das schön ist, und werden ihre Freunde auch wieder in den Arm nehmen.“
Zahlen über tatsächliche Erkrankungen liefert ein Kinder- und Jugendreport der DAK, der die Neuerkrankungen von minderjährigen Versicherten wegen psychischer Probleme auswertet. Zunächst fällt auf, dass demnach körperliche und psychische Erkrankungen zwischen 2019 und 2021 zurückgegangen sind – auch weil Jugendliche aus verschiedenen Gründen seltener zum Arzt gegangen sind. Dagegen nahmen laut dem Report bestimmte psychische Störungen während der Pandemie deutlich zu: 54 % mehr Essstörungen, 24 % mehr Angststörungen, 23 % mehr depressive Episoden wurden 2021 gegenüber 2019 diagnostiziert. Und diese Anstiege gab es ausschließlich bei weiblichen Teenagern. Für Jungen gingen die Neudiagnosen laut DAK-Report zurück. Die Zahlen sind erschreckend. Doch wie verlässlich sind sie?
„Da ist ganz wichtig, genau zu hinterfragen, was wird da untersucht? Die Krankenkassendaten gucken nach Krankenhausaufenthalten oder Vorstellungen wegen einer bestimmten Diagnose. Es wird noch nicht mal überprüft, ob die Diagnose stimmt“, gibt Wieland Kiess zu bedenken. Wer stellte die Diagnosen, wie sicher waren sie? Das ist vor allem bei den depressiven Episoden nicht immer einfach.

Auffällige Zunahme von Essstörungen

Sehr eindeutig sei jedoch die Zunahme bei den Essstörungen, sagt Jugendpsychiater Correll: „Sonst müsste man fragen, wie depressiv bist du? Bist du wirklich suizidal? Aber hier wissen wir, wie viel Kilo unter dem Normgewicht sind die Patientinnen? Und da sehen wir bei unseren Aufnahmen, dass die deutlich nochmal drunter sind zu dem, was wir gewohnt sind. Und dass wir jetzt mehr Patientinnen und Patienten aufnehmen, die gegen ihren Willen über eine Nasensonde oder sogar über eine Sonde durch die Bauchdecke ernährt werden müssen, weil sie sich so sträuben, überhaupt zuzunehmen.“
Es sei erwartbar gewesen, dass in der besonderen Situation einer Pandemie Depressionen und vor allem Ängste zunehmen, meint Correll. Die große Zunahme an Essstörungen habe ihn aber überrascht. Viele der Betroffenen seien zuvor nicht auffällig gewesen, im Gegenteil: „Junge Menschen, die sich vorher gut stabilisieren konnten durch einmal die Woche Geige, außerdem Klavier und dann noch Ballett dazu. Die dazu noch gut in der Schule waren und alles so mit ihren großen Ansprüchen zusammenhalten konnten. Auf einmal fällt das weg und dann fangen sie an, sich selbst zu optimieren, Kalorien zu zählen, abzunehmen.“
Was sich in fast allen Studien und Berichten abzeichnet: Betroffen sind besonders Mädchen, besonders ab 14 Jahren und außerdem Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien. Den Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status der Familie und der psychischen Gesundheit gab es auch vor Corona schon. Denn auch wenn Corona ein tiefer Einschnitt war – eine psychische Störung oder Erkrankung hat in den meisten Fällen mehr als eine Ursache. Meist kommen verschiedene widrige Umstände zusammen.
Die Corona-Pandemie war nicht schuld, sie hat aber bereits bestehende Probleme verstärkt. Wieland Kiess: „Wissen Sie, was der Hauptfaktor dafür ist, dass ein Kind psychische Themen entwickelt? Psychische Erkrankung der Mutter. Zweiter Punkt, Armut der Familie. Das arme Kind, das keine Ressourcen hat, dem nicht geholfen werden kann, das nicht gestärkt werden kann, das hat die Probleme. Und welche Kinder haben unter Corona am meisten gelitten?“

Gefühl der Sinnlosigkeit

In der COPSY-Studie war beispielsweise die Chance, psychische Auffälligkeiten zu entwickeln, für Kinder und Jugendliche aus Risikofamilien zwei bis viermal so hoch. Das heißt, Kinder und Jugendliche, die es ohnehin schwerer haben, waren in der Krise noch einmal höheren Belastungen ausgesetzt. Christoph Correll:

„Gerade wenn alles eng wird, man wenig Zeit hat, die Leute zwei Jobs haben, irgendwie sich durchkämpfen, selbst abgekämpft sind, weniger Ressourcen haben für Kinder, dann ist es noch schwieriger, den Druck abzufedern. Dabei spielt es keine Rolle, ob es Diabetes ist oder Fettleibigkeit oder Depression oder was anderes. Das Problem ist nicht, dass da weniger Liebe in den Familien ist, da ist nur einfach weniger Raum, um irgendwas zu schaffen.“
Auch im eigenen Bekanntenkreis hört man hier und dort von der Tochter oder dem Sohn, der in der Pandemie den Halt verloren hat. Etwa das junge Mädchen, das vom Lockdown erwischt wurde, als es im ersten Studienjahr in einer neuen Stadt ziemlich alleine in der ersten eigenen Wohnung saß und weggefallene Alltagsroutinen durch eine eigene Struktur ersetzte: früh aufstehen, Sport im Wohnzimmer, dann ein Knäckebrot zum Frühstück, für die Uni lernen, noch ein Knäckebrot und wieder Sport. War Corona der Auslöser ihrer Essstörung? Oder spielte eher eine Rolle, dass ihr Freund gleich zu Semesterbeginn mit ihr Schluss gemacht hatte? Nicht bei jeder psychischen Erkrankung zu dieser Zeit ist die Pandemie die Ursache. Und nicht immer ist es eine direkte Wirkung.
„Keine Ahnung, irgendwie ist bei vielen diese Sinnlosigkeit noch da. Schwierig zu beschreiben.“ „Vielleicht gab es Menschen, die sich motivieren konnten in ihrem Zimmer zuhause. Ich konnte das nicht. Und hab dementsprechend auch nicht Sachen gemacht, die mich weitergebracht haben. Deswegen, ja, Sinnlosigkeit ist wirklich ein sehr, sehr guter Ausdruck.“

Wichtiger Teil der Jugend verloren

Heiko und Claudia, wie sich die beiden nennen, um anonym zu bleiben, sitzen im Park. Noch immer treffen sie sich im Freundeskreis viel draußen, so wie sie es sich zu Pandemie-Zeiten angewöhnt haben. „Ja, ja, die Spaziergänge sind geblieben.“
Beide haben gerade Abitur gemacht, beide wissen noch nicht so genau, wie es weiter gehen wird. Corona, das sei hart gewesen, sagen sie. Von ihren vier besten Freundinnen habe eine eine Essstörung entwickelt, erzählt Claudia.
„Sie ist monatelang nicht aus dem Haus gegangen. Es war auch sehr schwer, sie da rauszukriegen. Und das lag wahrscheinlich daran, dass sie sich immer alleine gefühlt hat, und mit dem Lockdown dann sowieso noch viel mehr.“ „Und wie schlimm ist die Essstörung jetzt?“ „Schlimm. Also, es ist fortgeschritten. Sie ist an dem Punkt, wo sie noch den Schritt zurück machen kann. Aber sie den machen muss, weil wenn sie den nicht macht, dann wird es sehr, sehr schwer.“
Claudia und Heiko wirken entspannt, sie selbst hat Corona nicht aus der Bahn geworfen. Aber ihnen eine wichtige Zeit in ihrer Jugend genommen, wie sie frustriert feststellen.
„Was ich mitbekommen hab bei meinen Freunden, das war ganz krass, dass der Kontakt zu Frauen wirklich gefehlt hat. Und was ich heute noch mitbekomme, dass viele von meinen Freunden sehr einsam geworden sind. Und dass die Art mit Frauen oder vielleicht auch mit Männern zu sprechen schwierig geworden ist.“

Mehr Gaming- und Smartphone-Sucht bei den Jungs

Christoph Correll: „Was, glaube ich, unter dem Radar ist, ist Sucht. Mit Sucht kann man sich auch in andere Welten flüchten, wenn alles wankt. Das wäre einmal die nicht-stoffgebundene, die Internetsucht. Da haben wir bestimmt viele junge betroffene Menschen, von denen wir nichts wissen. Die hängen irgendwo im Verborgenen und werden jetzt vielleicht von der Schule nicht so identifiziert. Und dann stellt sich die Frage, wie sieht es mit Alkohol und anderen Süchten aus, die im Moment noch nicht so an die Oberfläche kommen. Hier sind das dann wahrscheinlich mehr die Jungs, die betroffen sind.“
Der erheblich gestiegene Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie bereitet den Fachleuten große Sorgen. Das Internet war ein wichtiges Mittel, um mit der besonderen Situation zurechtzukommen: Um mit anderen Menschen in Verbindung zu bleiben, aber auch mit der Schule und der Welt.
Laut einer DAK-Studie stieg die Zeit, die Teenager mit digitalen Spielen verbrachten, um 60 Prozent an. Danach ging die Nutzungszeit zwar zurück, blieb aber deutlich über dem Durchschnitt aus der Vor-Corona-Zeit. Wieland Kiess: „Das ist ein Thema, das wir in unserer Psychosomatik-Station inzwischen dramatisch sehen. Und da warne ich davor, dass auf Covid abzuschieben. Diesen Trend sehen wir seit 11 Jahren. Es gibt Kinder, die so weit mit der Handysucht sind, dass es eine Krankheit ist.“
2019 hat die Weltgesundheitsorganisation die Computerspiel-Störung als Krankheit in das ICD-Klassifikationssystem aufgenommen. Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens 3 Prozent der Jugendlichen in Deutschland schon vor Corona davon betroffen waren. Laut der DAK-Studie stieg die Zahl der Gaming-süchtigen 10–17-Jährigen von 2,7 auf 4,1 Prozent.
„Wir haben Jugendliche auf unserer Psychosomatik-Station, die nicht mehr sprechen und nicht mehr in die Schule gehen, und sich nur noch mit ihrem Smartphone beschäftigen. Die sind nicht mehr sozial kompatibel, die können nicht mehr beschult werden, die sind krank. Häufig assoziiert mit Schmerzsyndromen, also chronischen Kopfschmerzen, mit chronischen Bauchschmerzen. Da kommt ganz viel zusammen.“
Grundschülerinnen sitzen mit Mund-Nasen-Schutz in einem Klassenraum in Düsseldorf, vor ihnen liegen die Corona-Teststäbchen für den sogenannten Lolli-Test
Auch nach der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts war der Schulbetrieb noch lange nicht "normal" - nicht zuletzt wegen der Maskenpflicht (Imago/ Political Moments)

Schulischer Druck viel höher als vorher

„Über die Bildschirmzeit kann ich das kontrollieren. Dass das manchmal bis zu 8 Stunden am Tag ist. Und das ist schon echt krass. Sie sagt dann, ja, das läuft dann halt durch. Ich schalte das nicht immer ab. Ich bin online und lass die Apps dann einfach laufen. Aber ich weiß, dass sie sich eigentlich immer bespielen lässt. Also, Stille hält sie fast gar nicht aus“, erzählt auch der Vater von Jelena. Das Abgleiten in digitale Welten begann in der Zeit, als die gewohnten Routinen wegbrachen:
„Das Abhandenkommen der Schulstruktur hat ihr letztendlich gar nicht gut getan. Was dadurch wahrzunehmen war, dass sie nachmittags um vier noch im Pyjama rumlief und ihre Mathehausaufgaben gerade mal so erledigt hatte. Und da ist mir bewusst geworden, wie kostbar diese Einrichtung Schule eigentlich ist. Weil sie Struktur vermittelt und man da hingeht zum gemeinsamen Lernen.“

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Einer, der einen guten Einblick in die Welt von Jugendlichen hat, ist der Jesuit Pater Sebastian Maly. Er hat die letzten fünf Jahre als Seelsorger am Canisius-Kolleg verbracht, einem katholischen Gymnasium mit integrierter Sekundarschule in Berlin. Im Team mit einer Schulpsychologin war er Anlaufstelle für alle, die über ihre Sorgen und Nöte sprechen wollten. Als im vergangenen Sommer die Schulen wieder öffneten, zeigte sich, dass eben nicht alles wieder normal war:
„Das war für mich das Erstaunliche, dass wir plötzlich auch im Gymnasium Schuldistanz haben. Dass Kinder und Jugendliche nicht mehr in die Schule gehen wollen. Obwohl wir eigentlich eine Schule sind, wo die Kinder und auch die Eltern sagen, mein Kind geht gerne in der Schule.“
Eine Belastung, die erst nach den Lockdowns auftrat und deswegen in vielen Studien bisher nicht berücksichtigt wurde, ist der gestiegene Leistungsdruck, seit die Schulen wieder geöffnet haben. „Was auf jeden Fall zugenommen hat, auch wenn wir das jetzt nicht evaluiert haben, sind Belastungen, die dann in die Richtung gehen Burn Out und depressive Symptome. Also, so ein Gefühl von Erschöpfung, ich komme mit der Situation nicht mehr zurecht. Und zwar vor allem in der ersten Zeit, als man dann wieder in der Schule war.“

Noch keine Entwarnung bei Suizidgefahr

Julian Schmitz, Kinder- und Jugendpsychotherapeut an der Universität Leipzig: „Wenn Sie sich überlegen, jetzt ist der schulische Druck viel höher als vorher und trifft auf eine Generation, die eigentlich in ihren Lernfähigkeiten deutlich beeinträchtigt ist aufgrund ihrer psychischen Verfassung, dann kann man sich gut ausrechnen, dass die Belastungen weiter eine Rolle spielen.“
Wie groß die psychischen Belastungen durch die Pandemie waren und noch sind, lässt sich auch daran ablesen, wie viele Jugendliche vor Verzweiflung nur noch einen Ausweg gesehen haben: sich selbst zu töten. Eine Befragung unter 27 deutschen Kliniken brachte Anfang des Jahres scheinbar alarmierende Zahlen. Die Suizidversuche seien 2020 um das Dreifache gestiegen. Fraglich ist jedoch, wie repräsentativ diese Zahlen sind. Christoph Correll:
„Wir wissen, dass Selbstmorde in der akuten Krise weniger sind, weil alle sich mit der aktuellen Krisenbewältigung beschäftigen und Menschen ein Stück zusammenrücken als Gruppe. Wir sind im gleichen Sturm. Wir sind zwar nicht im gleichen Boot, die einen in einem Ruderboot mit einem Loch drin, die anderen in einer Fähre, na gut, aber trotzdem. Wir sind vereint in dem großen Sturm.“
Laut Statistischem Bundesamt ging die Zahl der Suizide bei 15–19-Jährigen im ersten Corona-Jahr leicht zurück. Auch 2021 gab es keine signifikante Veränderung, wie die Auswertung der Polizeistatistiken dreier Bundesländer ergab. Noch könne es aber keine Entwarnung geben, meint Christoph Correll. Vielmehr könnten die Suizide mit zeitlicher Verzögerung durchaus noch zunehmen.
„Wenn das aufhört und man merkt, ich bin hier auf Land mit meinem kleinen Bötchen und die anderen sind weggeschippert in die Karibik, dann fühlt man sich noch mehr allein und noch ausgesetzter und dann kann es vielleicht auch zu mehr Suiziden kommen. Also, wir machen uns da Sorgen, dass es da ein Nachschwingen nach der Pandemie gibt.“
Eine Mitarbeiterin steht in der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie.
Bei Suizidgefahr bräuchten Jugendliche (und auch Erwachsene...) eigentlich sofortige therapeutische Hilfe - derzeit völlig illusorisch (dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte)

Therapie-Angebote völlig unzureichend

Auch wenn nicht jeder, der psychisch in der Corona-Zeit gelitten hat, davon richtig krank wird – die Pandemie hat Spuren hinterlassen. Was inzwischen sehr deutlich wird, ist, dass die Wartezeiten für psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen steigen. Ein großes Problem: Mitunter vergehen Monate, bis ein Jugendlicher die Hilfe bekommt, die er braucht.
„Und wenn wir jetzt davon ausgehen, es kommt mehr Druck und es kommen mehr Patienten, aber die Ressourcen sind ja nicht größer geworden. Wo nehmen wir denn die Betten her? Also, wir haben schon ein Problem. Deswegen ist die Frage, wie gehen wir damit um?“
Auch in der ambulanten Psychotherapie waren die Plätze schon vor Corona knapp. Inzwischen warten Kinder und Jugendliche doppelt so lange auf eine Therapie wie vor der Pandemie: im Durchschnitt sechs Monate, in ländlichen Regionen sogar ein Jahr, sagt der Leipziger Psychotherapeut Schmitz, der mit seinem Team über 300 Therapeutinnen und Therapeuten befragt hat.
„Man darf ja nicht vergessen, dass man erst ins ambulante Versorgungssystem kommt, dauert teilweise ein Jahr. Wenn da festgestellt wird, es gibt eine stationäre Indikation, dann dauert es wieder ein Jahr. Und wir sehen Mädchen und Jungen mit wiederkehrenden Suizidgedanken, wir sehen Kinder und Jugendliche, die eine manifeste Essproblematik haben und die finden keine Versorgung. Und was das bedeutet für die Biografie der Kinder, aber für die Belastung der Eltern. Die werden schier verrückt, weil sie sehen, den Kindern geht es wahnsinnig schlecht und sie kriegen einfach keine Hilfe, das ist einfach.“

"Thema psychische Gesundheit in die Schulen tragen"

Was also tun? Während in einigen Bundesländern bereits die Möglichkeiten für kurzfristige und zeitlich begrenzte Neuzulassungen von psychotherapeutischen Praxen geschaffen werden, spricht sich Schmitz auch für mehr niedrigschwellige Angebote aus – Angebote, die den Kindern und Jugendlichen helfen, mit der psychischen Belastung umzugehen und in denen Probleme erkannt werden, bevor die Betroffenen erkranken.
„Also beispielsweise durch einen Ausbau der Schulsozialarbeiterstellen, die eben vor Ort sind und die sowohl Einzelgespräche führen können als auch qualifizierte präventive Gruppenprogramme zu Umgang mit Gefühlen, Umgang mit ersten depressiven Symptomen. Wie gehe ich mit Konflikten um? Also, solche Angebote machen und das Thema psychische Gesundheit in die Schulen tragen, eben darüber aufklären, entstigmatisieren.“
Mehr Schulsozialarbeiter und -Psychologinnen – damit könnten auch Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien erreicht werden, die andernfalls häufig nicht den Weg in das Versorgungssystem finden, wie Studien zeigen. Charité-Psychiater Christoph Correll: „Niederschwelliger Dinge anzubieten; also, in die Community gehen, können wir da Beratungsangebote setzen? Können wir versuchen, Resilienzfaktoren zu steigern, indem wir online Therapieangebote machen. Dass Kinder, Jugendliche und ihre Familien darüber Copingstrategien entwickeln. Selbsthilfeangebote fördern. Also alles, was so ein bisschen niederschwelliger ist, um Verschlechterungen zu verhindern. Das wäre jetzt wichtig.“
Eine „Generation Corona“, die werde es nicht geben, sagt Christoph Correll. Die meisten Jugendlichen würden sich nach den belastenden Zeiten wieder erholen und langsam in ihr altes Leben zurückkehren. Manche könnten sogar gestärkt aus der Pandemie gehen, weil sie Selbstwirksamkeit, Freundschaft und Gemeinschaft in der Krise erlebt haben.
„Ich denke, ein Vorteil der Pandemie ist, dass wir psychische Erkrankung ein Stück entstigmatisieren. Warum? Weil alle so ein bisschen das Gefühl haben, Mensch, ich fühle mich frustriert, depressiv, ängstlich. Das ist jetzt eher hoffähig, das auch auszusprechen. Das ist jetzt nicht mehr so eine schwache Subgruppe, die psychisch etwas komisch ist. Nein, wir sind alle vulnerabel und das ist ok. Wir müssen darüber reden können. Wir müssen Strukturen von der Politik, von der Familie, von der Gesellschaft mit einfordern, die uns helfen können.“

Ukraine-Krieg und Klima-Krise: Ohnmacht und Ungewissheit bleiben

Wie viele Jugendliche die Pandemie-Zeit psychisch krank gemacht hat, ist zwar noch nicht klar. Sicher ist, dass mehr Jugendliche professionelle Hilfe brauchen als vor Corona. So wie Jelena, die nach dem Rückzug in die Isolation alleine nicht mehr herausfindet. Ihr Vater: „Ich erlebe ein junges Mädchen, das die Maske aufhat, sogar wenn sie mit mir im Café sitzt. Sie nimmt die Maske nur runter um kurz ein Stück Kuchen nachzuschieben, ansonsten hat sie die Maske auf.“
Am Ende der fast zwei Monate in der Tagesklinik sollte Jelena eigentlich langsam in ihre alte Schule zurückkehren und erst stundenweise, dann tageweise wieder am Unterricht teilnehmen. Doch die Wiedereingliederung hat nicht geklappt. Die 15-Jährige ist inzwischen stationär in einem Krankenhaus untergebracht.
„Ich weiß, dass meine Tochter einmal aus der Klasse geflohen ist und sich auf einen Baum geflüchtet hat. Die mussten sie aus einem Baum zurückholen. Deswegen sage ich, es ist nicht nur Corona. Es ist auch eine gewisse Disposition, wie resilient wir sind und wie widerstandsfähig wir mit solchen Krisenzeiten umgehen.“
Und es wird nicht nur darum gehen, die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Die Generation, deren Alltag von der Corona-Pandemie auf den Kopf gestellt wurde, blickt in eine ungewisse Zukunft, die durch die Klima-Krise bedroht ist. Und sie erlebt derzeit in der Ukraine, wie schnell aus Frieden Krieg werden kann. Eine Zeit schwerer Krisen, in der viele Jugendlichen mit dem Gefühl aufwachsen, dass man eh nichts ändern könne, meint der Schulseelsorger Pater Maly. Dem müsse man gegensteuern.
„Also, Kinder und Jugendliche zu ermutigen, ihre demokratischen Selbstbestimmungsrechte wahrzunehmen. Also, letztendlich gute Laune verbreiten, Zuversicht schaffen, das scheint mir so wichtig zu sein, weil das die Atmosphäre ist, in der die Kinder groß werden, das Historische, das Zeitgeschichtliche. Das kann einen wirklich ohnmächtig machen. Und was setzt man da dagegen?“