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Corona-Pandemie
Schweden: Bislang keine vierte Welle in Sicht

Ende September endeten in Schweden fast alle Corona-Restriktionen. Kritiker befürchteten einen erneuten Anstieg der Infektionszahlen. Doch der blieb bislang aus - anders als in Großbritannien, wo sich die Dynamik seit dem "Freedom Day" zuspitzt. Wie lässt sich die unterschiedliche Entwicklung erklären?

Von Christine Westerhaus |
Menschen in Stockholm feiern das Ende der Corona-Restriktionen
Menschen in Stockholm feiern das Ende der Corona-Restriktionen in Schweden (imago/Pontus Lundahl/TT)
Schwedens "Freedom Day" liegt inzwischen fast einen Monat zurück. Endlich wieder in die Oper oder einfach nur ins Büro gehen zu können, war für diese Schwedin Anfang 50 eine verlockende Aussicht: "Das wird schön. Vielleicht mache ich mir auch etwas Sorgen. Aber ich hoffe, dass genug Menschen geimpft und immun sind und nicht wieder mehr Menschen ins Krankenhaus müssen."
Bislang haben sich ihre Sorgen nicht bestätigt. Denn trotz vermehrter Kontakte sind die Infektionszahlen in Schweden nicht angestiegen. Die Sieben-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner liegt konstant um die 40 pro Woche. In Schweden sind inzwischen 80 Prozent der über 16-Jährigen vollständig geimpft.

Hohe Impfquote in allen Bevölkerungsgruppen

Diese hohe Impfbereitschaft verhindere, dass sich das Coronavirus ausbreitet, sagt Anders Tegnell, Schwedens Chefepidemiologe: "Die wichtigste Bremse sind Impfungen. Und hier ist Schweden sehr gut vorangekommen. Wir haben sehr viele der Allerschwächsten in der Gesellschaft durch unsere Impfanstrengungen erreicht. Und wir glauben, dass das momentan verhindert, dass die Infektionszahlen trotz vermehrter sozialer Kontakte wieder ansteigen."
In Großbritannien wurden schon Mitte Juli alle Coronamaßnahmen aufgehoben. Anders als in Schweden hat die vierte Welle die Briten aber voll erwischt. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt im Vereinigten Königreich momentan bei fast 460 - über zehnmal so hoch wie in Schweden. Damit gehören die Briten zu den negativen Spitzenreitern in Europa.

Großbritannien: Niedrigere Impfquote, mehr Neuinfektionen

Die Situation sei dramatisch, sagt Irene Petersen, die als Professorin für Epidemiologie und Gesundheitsinformatik am University College London arbeitet: "Wir sehen täglich etwa 50.000 Neuinfektionen. Auch die Zahl der Menschen, die ins Krankenhaus müssen, ist hoch. Und etliche Menschen sterben jeden Tag."
Dennoch sei es kein Fehler gewesen, die Corona Restriktionen in Großbritannien aufzuheben, meint die Epidemiologin: "Ich denke, es war richtig. Das Problem ist aber, dass es mit den Impfungen bei Jugendlichen zu langsam vorangeht. In vielen Ländern Europas wurde schon im Sommer damit begonnen, Jugendliche zu impfen. Doch in Großbritannien hat man zu lange gewartet, weshalb die Schüler ungeimpft in die Schulen zurückkehrten. Das ist ein Grund dafür, warum wir so hohe Infektionszahlen sehen."

"Momentan werden einfach nicht genügend Menschen geimpft"

Ein weiteres Problem: Die Booster-Impfungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen kämen zu langsam voran, sagt Irene Petersen: "Momentan werden einfach nicht genügend Menschen geimpft. Zu wenige Impfzentren sind geöffnet, man kommt nicht mit den Auffrischungsimpfungen hinterher. Aber auch die vielen Ungeimpften sind ein Problem."
In Schweden sind zwar 80 Prozent der über 16-Jährigen vollständig geimpft. Doch unter den 12- bis 15-Jährigen haben erst 12 Prozent ihre erste Dosis erhalten. Chefepidemiologe Anders Tegnell hält es deshalb nicht für ausgeschlossen, dass die vierte Welle auch Schweden noch erwischt: "Man sollte da sehr vorsichtig sein. Wir verfolgen das Impfniveau der Bevölkerung aber sehr genau und empfehlen eine Auffrischungsimpfung dort, wo wir sehen, dass der Schutz vor einer Ansteckung nicht mehr ausreicht. Deshalb hoffe und glaube ich auch nicht, dass wir eine dramatische vierte Welle erleben werden."

Die meisten Schweden achten weiter auf Hygiene und Abstand

Im öffentlichen Leben fällt zudem auf: Die Schweden sind trotz der Zurücknahme viele Einschränkungen weiterhin vorsichtig. Viele halten sich noch immer an die Hygiene- und Abstandsregeln. Auch das verhindere womöglich, dass die vierte Welle an Fahrt aufnimmt, sagt Anders Tegnell.
"Außerdem ging es in Schweden nicht so viel hin und her mit Lockdowns und Öffnungen. Das ist jetzt nur meine persönliche Spekulation, aber wir hatten ja während der gesamten Pandemie ein relativ konstantes Niveau an sozialen Kontakten. Das Ende der Restriktionen war für die Menschen deshalb keine dramatische Veränderung. Wenn man aber eine Gesellschaft aus dem Lockdown heraus plötzlich öffnet, sieht man natürlich einen größeren Unterschied bei den Infektionszahlen."
Womöglich erklärt auch das, warum sich die Infektionszahlen in Großbritannien und Schweden derzeit so unterschiedlich entwickeln.

Ein Patentrezept für Lockerungen wird es nicht geben

Ein Öffnungskonzept zu entwickeln, das für alle Länder funktioniert, hält Anders Tegnell für unmöglich: "Eine Maßnahme, die in einem Land funktioniert, bringt in einer anderen Gesellschaft womöglich gar nichts. Ich denke aber, in einem Punkt sind wir uns alle einig: Wir müssen jetzt so viele Menschen impfen wie möglich. Vor allem die anfälligsten Teile der Bevölkerung. Das ist der einzige Weg, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Alle anderen Maßnahmen helfen vielleicht ein bisschen. Aber den wirklichen Unterschied machen die Impfungen."