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Corona-Pandemie und Solidarität
Nassehi: "Das ist unverantwortliches Verhalten!"

"Corona-Partys", Grilltreffs im Park und volle Spielplätze: Es sei schwer, Menschen allein durch Appelle zum richtigen Verhalten zu bewegen, sagte Soziologe Armin Nassehi im Dlf. Er sei kein Befürworter von Verboten, in Zeiten der Corona-Pandemie seien sie aber offensichtlich nötig.

Armin Nassehi im Gespräch mit Michael Köhler |
Im Park am Weinbergsweg in Berlin sitzen viele Menschen zum Teil dicht nebeneinander
AbiturientInnen feiern in Berlin den letzten Schultag – trotz der Aufruf, auf Distanz zu gehen, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. (imago images / Sabine Gudath)
Michael Köhler: Mit dem Münchner Soziologen Armin Nassehi, der an der Ludwig-Maximilians-Universität lehrt, habe ich über Misstrauen, das veränderte Miteinander und teilweise Gegeneinander der Menschen unter Bedingungen von Corona gesprochen. In der Demokratie als Gemeinschaft der Gleichberechtigten ändert sich nämlich gerade die Form der Nähe und Solidarität.
Kurze Alltagsszene zum Einstieg: Eine ältere rüstige Dame betritt den Lebensmittel-SB-Markt. Sie trägt Mundschutz, ein gewöhnliches Halstuch vor dem Mund und ähnelt damit dem Bild eines Bankräubers oder Western-Cowboys. Die Angestellte mit Gemüsekisten in der Hand geht, ob dieses Anblicks, an ihr vorbei und zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. Darauf entrüstet sich die Kundin, dreht sich um und geht wirsch die Angestellte mit den Worten an: "Haben Sie gerade gegrinst?" Armin Nassehi, stehen wir vor neuen Gereiztheiten, die unser Miteinander verändern?
Armin Nassehi: Ja, das tun wir natürlich. Diese Episode ist natürlich deshalb schön, weil sie – die ist ja für einen Soziologen wie gemacht – eigentlich sehr schön zeigt, wie voraussetzungsreich normalerweise unsere Praktiken im Alltag sind, also wenn man als, sagen wir mal, fremder Ethnologe auf unsere Gesellschaft gucken würde, dann würden ja wahrscheinlich die Dinge, die uns völlig normal erscheinen, auch als ganz komisch erscheinen: dass wir uns die Hände berühren, wenn wir uns sehen, wie wir uns ansprechen, wen wir grüßen, wen wir nicht grüßen, wen wir angucken, wen wir nicht angucken. Jetzt erleben wir natürlich, dass es Abweichungen davon gibt, und diese Abweichungen sind sowohl Ausdruck, kann man sagen, von, na ja, wie soll man sagen, Aufregung, aber auch dann natürlich so etwas wie ein Auslöser davon. Die Episode ist eigentlich sehr schön, weil sie zeigt, wie die Krise, die wir im Moment haben, tatsächlich so in die, man kann fast sagen: Mikrostrukturen der Gesellschaft hineingerät.
Coronavirus
Coronavirus (imago / Science Photo Library)
Starke Solidarität, aber auch Egoismus
Köhler: Ich würde gerne in den Mittelpunkt unseres Gesprächs etwas stellen, was ich die Desolidarisierung nennen möchte. Was meine ich damit? Wenn wir hören, dass wir Oma nicht besuchen sollen, dass wir bis gestern noch mehr Nähe zum Nächsten suchen sollen, jetzt aber Abstand halten sollen, dass wir soziale Kontakte meiden sollen. Heute Abend wird die Kanzlerin eine Fernsehansprache halten, wo das nochmal im Mittelpunkt stehen wird, auf freiwillige Kontakte zu verzichten. Dann führt das doch zum Paradox der Rücksichtnahme durch Geselligkeitsverzicht. Also stehen am Ende Desolidarisierung und Segregation?
Nassehi: Ich glaube nicht, dass das am Ende stehen wird, aber im Moment haben wir es natürlich tatsächlich mit einer – da haben Sie völlig recht – paradoxen Situation zu tun, dass die höchste Form der Solidarität in der Tat die Entfernung vom anderen und nicht die Nähe zum anderen ist, wobei wir natürlich zurzeit eigentlich zwei Tendenzen beobachten. Also die eine ist schon, dass auch eine neue Form von Nähe entsteht, wenn ich etwa daran denke, wie groß die Hilfsbereitschaft etwa von jüngeren Leuten ist, Älteren beim Einkaufen zu helfen, ihnen was vor die Tür zu stellen, Alltagsgeschäfte zu erledigen. Da entsteht ja tatsächlich etwas sehr sehr Positives.
Auf der anderen Seite wundere ich mich sehr, dass Leute also tatsächlich nonchalant hingehen und sagen, ich habe ein gutes Immunsystem, ich brauche eigentlich nicht auf mich aufzupassen. Wir erleben in Deutschland – darüber wundern sich übrigens unsere europäischen Nachbarn sehr – noch die Situation, dass, solange man darf, die Leute eigentlich machen, was man tun kann. Also am Samstag ist – ein berühmtes Bild inzwischen in der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlicht vom Viktualienmarkt, wo die jungen Leute tatsächlich genau das gleiche machen wie sonst auch immer, obwohl die Appelle da sind, sich tatsächlich etwas vorsichtiger zu verhalten.
Coronavirus und Ausgangssperren in Spanien: Sicherheitskräfte auf den leeren Straßen Madrids.
Ausgangssperre und Solidarität - Spanien in der Coronakrise
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Also interessant ist, dass diese Krise eigentlich so in beide Richtungen Ausschläge produziert, also auf der einen Seite tatsächlich starke Solidarität und auch Versuch der Hilfsbereitschaft, auf der anderen Seite ein Egoismus, der womöglich gar nicht egoistisch ist, sondern einfach nur gedankenlos. Das ist schon erstaunlich. Ich bin ein bisschen desillusioniert darüber, weil ich immer dafür gekämpft habe, zu sagen, eigentlich sollten wir in einer Gesellschaft leben, in der wir, wenn es um Dinge geht, die wichtig sind, auf Verbote möglichst verzichten sollten. Im Moment werden wir eines Besseren belehrt. Manches muss womöglich verboten werden. Das ist keine gute Nachricht, finde ich.
Köhler: Ich würde gerne noch mal auf den sozialen Sprengstoff ein bisschen kommen, bevor ich das aufgreife, was Sie gerade gesagt haben. Wir sehen, der Papst kann allein durch Rom gehen, weil keiner mehr auf den Straßen ist, die Europa-Fußballmeisterschaft ist abgesagt, die Grenzen schließen, wir helfen einander, indem wir es unterlassen, wir leisten uns Beistand, indem wir uns nicht nahekommen. Das sind die Paradoxien, die wir gerade zu Beginn beschrieben haben. Aber: Wer ein bisschen zu viel niest, wer vielleicht Italienisch spricht oder ein bisschen zu asiatisch aussieht, macht sich so ein bisschen verdächtig. Kehren sowas wie Rudeldenken oder archaisches Verhalten zurück?
Nassehi: Ich weiß nicht, ob das zurückkehrt oder ob es nur ein Ausdruck dessen ist, was wir doch tatsächlich kennen. Also ich meine, es ist ja nicht so, dass solche Verhaltensweisen weggewesen wären. Also es reicht ja auch schon vorher, eine dunklere Hautfarbe oder einen bestimmten Namen oder Ähnliches zu tragen, um auf dem Arbeitsmarkt oder auf dem Wohnungsmarkt nicht so berücksichtigt zu werden wie Menschen, die diese Merkmale nicht tragen. In Krisensituationen – das ist fast ein soziologisches Grundgesetz – werden solche Dinge natürlich noch einmal verstärkt.
Es ist natürlich vollkommen absurd, wenn jemand Italienisch spricht, jetzt an italienische Verhältnisse zu denken oder asiatisch aussieht, dass er irgendwie mit der Wuhan-Geschichte zu tun hat. Wir sind ja gewissermaßen geeicht darauf, sehr schnell Informationen zu verarbeiten, und das sind assoziative Informationen, die wahrscheinlich eher mit dem Reptiliengehirn als mit dem Rest des Gehirns verarbeitet werden, wo so etwas dann stattfindet. Leider Gottes muss der Soziologe sagen, dass er sich darüber nicht so richtig wundert. Das ist auch keine gute Nachricht.
Ein Mädchen sitzt während der Corona-Krise mit einem Mundschutz allein auf einer Bank in Krakau
Soziologe zu Coronakrise: "Eine Chance zur Entschleunigung"
Wegen der Coronavirus-Krise sind wochenlang Kitas und Schulen geschlossen. Der Soziologe und Risikoforscher Ortwin Renn sieht den verordneten gesellschaftlichen Stillstand aber auch als Chance.
Köhler: Kommt Ihnen also Soziologe Ihr Gegenstand abhanden, nämlich die Gesellschaft?
Nassehi: Ganz im Gegenteil. Ich würde gerade sagen, in der jetzigen Situation wird Gesellschaft noch viel sichtbarer. Also die Tatsache, dass wir uns aus dem Weg gehen, die Tatsache, dass es so etwas wie Berührungsängste gibt, die Tatsache, dass es ein Wegstoßen des anderen gibt, das heißt ja nicht, dass das nicht Gesellschaft ist, sondern das ist genau die Art von gesellschaftlicher, von sozialer Relation, mit dem wir zu tun haben. Also auch sozusagen mit jemandem nicht zu kommunizieren, ist ja ein gesellschaftliches Datum, Distanz zu halten ist ein gesellschaftliches Datum.
Es wird eigentlich im Moment noch viel, viel deutlicher, dass wir in sozialen Strukturen leben. Das fällt uns nur sonst nicht auf, weil wir die so selbstverständlich kennen, dass wir sie eigentlich nicht als Strukturen wahrnehmen, sondern so tun, als hätten wir dieses Verhalten, was wir da haben, immer schon aus unserer eigenen inneren Unendlichkeit selbst gelernt. Das ist aber ganz offensichtlich nicht der Fall, sondern das hängt viel, viel stärker von sozialen Strukturen, von Habitus, von Erwartungen und Ähnlichem ab.
Ein Mann mit Schutzkleidung und Mundschutz sitzt in einer Metrostation in Madrid auf einer Bank. 
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Seuchen hätten in der Gesellschaft immer tiefe Spuren hinterlassen, sagte der Medizin-Historiker Karl-Heinz Leven im Dlf. Soziale Bande seien zerbrochen, aber auch Zusammenhalt entstanden.
Köhler: Ich greife auf, was Sie eben schon mal erwähnt haben: Was ist von Corona-Partys oder dem zu halten, was, glaube ich, die Wochenzeitung "Die Zeit" den Wohlstandstrotz genannt hat, also ein voller Viktualienmarkt, volle Kinderspielplätze und volle Partyräume?
Nassehi: Also ich neige normalerweise nicht zum Moralisieren, aber ich muss ganz ehrlich sagen, das ist unverantwortliches Verhalten. Was ich wirklich schade daran finde – ich habe es gerade schon kurz erwähnt –, das ist, dass man ganz offensichtlich mit autoritären Charakteren zu tun zu haben scheint. Also man unterlässt die Dinge, die man unterlassen soll, tatsächlich nur, wenn sie wirklich explizit verboten werden. Man würde doch eigentlich denken, dass selbstverantwortliche Menschen so etwas wie eine Art von durchaus Selbststeuerung auch hinkriegen und sagen, dass sie womöglich Ausgangssperren vermeiden können, wenn man sich so ein bisschen einigermaßen an die Regeln hält, um die es geht.
Es geht ja jetzt gar nicht darum, irgendwie der Gesellschaft den Hahn abzudrehen, sondern einfach ein paar Verhaltensweisen zu haben, die tatsächlich wahrscheinlich helfen, diese Krise etwas kürzer zu gestalten, als sie sich sonst darstellen wird, aber das scheint im Verhalten der Menschen nicht anzukommen. Ich sage es noch mal: Als Soziologe darf man sich darüber nicht wundern, unser Verhalten ist leider Gottes so musterhaft und so erwartbar, dass es unglaublich schwer ist, Menschen sozusagen einfach durch Appelle, durch Einsicht, durch Wissen dazu zu bringen, das Richtige zu tun.
Ich meine, die Diskussion, die wir in den letzten Jahren über alle möglichen Themen hatten – nehmen Sie nur den Klimawandel zum Beispiel, alle wissen, dass man vieles anders machen sollte, aber die Routinen des Alltags sind offenbar stärker als unser Wissen, und deshalb stellen sich sozusagen geplante gesellschaftliche Veränderungen, Veränderungen sozialen Verhaltens, viel viel schwieriger dar als man so denkt.
Kennen wir auch aus dem privaten Zusammenhang. Also wie viele Fehler machen wir mehrfach? Also es ist doch ganz interessant, dass wir falsches Verhalten, worum es auch immer geht, ob es um Ernährung geht oder Bewegung oder unserer Alltagsroutinen und den Trott, den würden wir gerne ändern, und fallen immer wieder in die gleichen Verhaltensweisen zurück. Das kann man eigentlich auch auf Gesellschaften übertragen, und das ist ein Hinweis darauf, dass man vielleicht intelligentere Formen der Steuerung und der Überredung von Menschen braucht, dass sie sich tatsächlich anders verhalten.
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Köhler: Was halten Sie von der Vermutung, jetzt würde der Stillstand zur Muße, zur Ruhe oder neuen Formen von Gemeinschaft führen? Staatsministerin Dorothee Bär von der CSU hofft in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" heute, dass wir durch die Krise einen stärkeren sozialen Zusammenhalt bekommen. Also neue Geselligkeitsformen im Format der Ferne, so von Balkon zu Balkon?
Nassehi: Ja, in der Tat gibt es natürlich diese Form der Geselligkeit. Wir haben alle die schönen Bilder im Netz gesehen, aus Italien, wo dann gemeinsam musiziert wird. Das sind natürlich Ausnahmesituationen, in denen so etwas passiert. Man muss sich vorstellen, dass Menschen jetzt tatsächlich gezwungen sind, ihren gesamten Alltag mit den gleichen Personen zu verbringen. Das ist ziemlich belastend deshalb, weil wir ja eigentlich an andere Praktiken gewöhnt sind. Also ein modernes Leben besteht vor allem aus der Zerstreuung.
Das heißt also, dass wir gewissermaßen den ganzen Tag mit unterschiedlichen Leuten zu tun haben und nicht in engen Sozialverbänden leben. Das ist das, was wir im Moment machen müssen, und das produziert natürlich auch eine bestimmte Form von Stress. Wir wissen aus der Forschung ziemlich gut, dass Ehekrisen, Scheidungen, übrigens auch familiale Gewalt oftmals nach Situationen, in denen Menschen lange zusammen waren oder sind, gezwungenermaßen, etwa über Weihnachten oder in Urlauben oder Ähnlichem stattfinden, weil wir daran eigentlich gar nicht so richtig gewöhnt sind. Wer Kinder hat, wird auch erleben, dass natürlich so etwas wie ein Lagerkoller entsteht.
Also Frau Bär hat natürlich völlig recht, dass man auch ein bisschen darauf hoffen kann, dass so etwas wie kleine Lebensformen entstehen, in denen man sich gegenseitig unterstützen kann, aber das ist auch ein ziemlicher Stresstest für die Gesellschaft. Ich würde ja fast sagen, das ist ein ähnlicher Stresstest für Familien oder familienähnliche Lebensformen, wie wir natürlich auch einen Stresstest in der Öffentlichkeit oder im Ökonomischen zurzeit beobachten. Also man kann tatsächlich sagen, die Routinen des Alltags werden außer Kraft gesetzt, und das setzt natürlich in der Gesellschaft Stress frei, psychischen Stress, sozialen Stress und Stress im Hinblick darauf, dass wir nicht genau wissen, wie wir uns richtig verhalten sollen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.