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Corona-Profiteure
Zuwachs beim Klassik-Videostreaming

Live-Konzerte gibt es derzeit nicht, stattdessen erleben Video-Streams von klassischer Musik im Internet großen Aufschwung. Das Angebot ist vilefältig und reicht von kostenlosen selbstgemachten Videos bis zu hochwertig produzierten kostenpflichtigen Streams. Ein Überblick.

Von Marie König |
    Ein Frau mit schwarzen langen Haaren und schwarzer Kleidung sitzt im leeren Großen Saal der Elbphilharmonie an einem Flügel.
    Anna Vinnitskaya gibt ein Konzert im leeren Saal der Elbphilharmonie. Es wurde aufgezeichnet und Ende März ausgestrahlt. (Elbphilharmonie / Philipp Seliger)
    Ulrike Köstinger: "Ich kann sagen, dass der Monat März unser erfolgreichster war seit der Existenz von takt1. Und April wird noch besser."
    Ulrike Köstinger ist Mitglied der Geschäftsführung von takt1 – einer 2016 gegründeten Klassik-Streaming-Plattform. Seit der Corona-Pandemie erlebt das private Startup einen großen Aufschwung.
    Ulrike Köstinger: "Viele kannten uns schon, hatten nie die Möglichkeit, uns auszutesten, weil sie doch ihr Konzerthaus-Abo haben, weil sie doch fast jede Woche einmal im Konzerthaus sind. Und jetzt? Auf einmal gewöhnt man sich dran und probiert es mal aus."
    Klassik-Konzert im eigenen Wohnzimmer
    Auf takt1 gibt es Video-Livestreams von Konzerten und Opern sowie Begleitinhalte zum Pauschalpreis eines Abos. Seit Corona streamen die Abonnenten mehr, und es kommen neue User hinzu, sagt Ulrike Köstinger.
    Die aktuelle Lage verändert jedoch auch das Angebot bei takt1: Groß besetzte Orchesterkonzerte gibt es nur noch aus dem Archiv. Lediglich Kammermusikformate können frisch produziert und live ausgestrahlt werden.
    Musik: Ludwig van Beethoven. Violinsonate op. 24 "Frühlingssonate"
    Julian Rachlin und Johannes Piirto spielen Beethoven im leeren Wiener Konzerthaus. Sie treten in der neu entwickelten und auf takt1 ausgestrahlten Reihe "Moments Musicaux" auf: Kammermusik ohne Publikum.
    Ein ähnliches Konzept – mit demselben Namen – zeigt auch die französische Plattform "Medici.TV". "Medici" wurde bereits 2008 gegründet, die New York Times befand, es sei ziemlich nah dran an einem Netflix der Klassik.
    Ein Pianist sitzt an einem langen Konzertflügel. Er ist ganz schwarz gekleidet, der Flügel ist auch schwarz. Er blickt konzentriert auf die Noten vor ihm.
    Pierre-Laurent Aimard gab Ende April ein Konzert ohne Publikum, das die Streaming-Plattform takt1 live aus dem Konzerthaus Dortmund streamte. (takt1)
    Auch Medici spürt die Auswirkung der Corona-Pandemie deutlich, sagt Gründer Hervé Boissière: "Unsere Besucherzahlen explodieren, das ist offensichtlich. Es sind beeindruckende Zahlen: Ein Zuwachs von 100 Prozent, 150 Prozent, 180."
    Bis zu diesem Erfolgserlebnis war es ein langer Weg: Der Gründer von Medici.TV berichtet, dass das Unternehmen erst nach zehn Jahren, also 2018, erstmals schwarze Zahlen schrieb. Der momentane Aufschwung bestätigt Hervé Boissière in seiner Mission: "Es ist lustig, dass gerade die ganze Welt streamt, weil es nicht anders geht. Viele machen das zum ersten Mal – wohingegen wir uns bewusst dafür entschieden haben, vor mehr als zehn Jahren. Es ist amüsant, diesen Status zu haben."
    Klassik-Video-Streams sprießen
    Portale wie Medici.TV oder takt1 feiern zurzeit so große Erfolge, weil sie einerseits Streams in hoher Audio- und Video-Qualität anbieten. Andererseits, weil sie eine inhaltliche Auswahl treffen, eine Orientierung geben.
    Denn seit Mitte März schießen die Video-Formate im Bereich der klassischen Musik wie Pilze aus dem Boden: Instrumenten-Erklär-Videos, Online-Proben, Zusammengeschnittenes aus der Quarantäne, digitale Konzerthausführungen, alte und neue Produktionen, Videos für Kinder – Streams ohne Ende. Im Gewirr der Angebote kann man sich schnell verlieren und die Videoqualität lässt oft zu wünschen übrig.
    Eine positive Ausnahme bildet da die Elbphilharmonie in Hamburg. Das Konzerthaus hat schon vor der Krise akustisch und visuell hochwertige Video-Formate produziert, die jetzt weiterentwickelt werden.
    Tom Schulz: "Weil wir unser Publikum vermissen und weil wir glauben, dass unser Publikum auch uns vermisst und das Haus vermisst. Und weil es einfach naheliegt in diesen Tagen, wo dieser große Saal und auch der kleine Saal so verwaist, da liegen, wenigstens mit ganz, ganz kleinen Besteck zu zeigen, dass das Haus weiterhin lebt, dass die Musik weiterhin lebt."
    #elphiathome
    Tom Schulz ist der Pressesprecher der Elbphilharmonie. #elphiathome heißt die neue Reihe, in der Künstlerinnen wie Anna Vinnitskaya oder Annett Louisan auftreten, solistisch oder mit kleiner Band. Die technische Umsetzung der Streams sowie die Gagen werden komplett aus dem Haus bestritten. So können die Videos kostenlos bleiben, erklärt Pressesprecher Tom Schulz.
    "Da kann man irgendwann mal drüber nachdenken, ob man das auch mal anders machen möchte. Aber derzeit ist das sozusagen das Angebot, was wir liefern. Und natürlich möchten wir schon gerne, dass immer deutlich wird, dass das Programm Bestandteil aus der Elbphilharmonie ist, den wir teilen wollen mit der Welt."
    Viele Menschen schätzen die kostenlosen Streams, wie man auf den sozialen Kanälen der Elbphilharmonie sehen kann. Auch die öffentlich-rechtlichen Seiten wie arte concert werden stark genutzt.
    Ulrike Köstinger von takt 1 dagegen hat Vorbehalte gegen die vielen kostenlosen Klassik-Streams. Gerade jetzt sollte das Bewusstsein dafür gestärkt werden, dass Musik in hoher Qualität auch etwas koste.
    Ulrike Köstinger: "Wir wissen, dass wahnsinnig viele Künstler gerade arbeitslos sind, freischaffende. Wir wissen, dass die Häuser extrem viele Schulden machen. So schön diese Streams sind, die es jetzt gibt, und die Aufnahmen – wenn wir jetzt etwas machen mit Künstlern, muss das auch finanziert werden. Und ein Künstler erwartet auch eine Gage. Welche Balance finden wir, damit das gerecht fürs das Haus wird, die gerade keine Einnahmen haben? Damit das gerecht für den Künstler wird und für uns."
    Zeichen für Musikerinnen und Musiker
    Viele der Videos werden von Künstlerinnen und Künstlern selbst gefilmt – einer der ersten war Igor Levit mit seinen täglichen Hauskonzerten.
    Einen anderen Ansatz wählte der Cellist und Intendant der Dresdner Musikfestspiele, Jan Vogler. Er lebt in New York, und von dort aus organisierte er einen Streaming-Marathon mit dem Titel "Music Never Sleeps NYC". 24 Stunden lang spielten berühmte und unbekanntere Musikerinnen und Musiker vor der Kamera – teilweise live, teils aufgezeichnet. Für Jan Vogler war diese Aktion vor allem eine Solidaritätsbekundung für seine jüngeren Kollegen.
    Jan Vogler: "Ich glaube, solche Zusammenhänge brauchen wir ganz dringend, weil der bekannte Künstler, wenn er eben nur sich darstellt, in so einer Krisensituation eben nur einen Ausschnitt des Problems zeigt, dass er jetzt nicht spielen kann. Aber es ist ja nicht das Problem der Musikszene allein, dass ich jetzt gerade keine Konzerte spielen kann, sondern es geht darum, dass die gesamte Musikszene im Moment bedroht ist und dass die Kultur komplett verschwunden ist – es ist ein totaler Kahlschlag über Länder weg, über ganze Landstriche hinweg. Und in so einer Situation ist es halt die Frage, ob dann der Fürst und sein Konzert am Hof wichtiger ist oder ob Musik wieder irgendwie auf eine Ebene reduziert werden muss, wo sie die Demokratie vertritt."
    Ob die Musik als demokratisches Gut so geschätzt wird, dass Menschen auch bereit sind für gute Streams zu zahlen, das wird sich zeigen.
    Das Verhältnis zum klassischen Konzert auf dem eigenen Bildschirm zuhause hat sich jedenfalls durch die Corona-Krise spürbar geändert, für die Künstlerinnen und Künstler, für die Institutionen und die Nutzerinnen und Nutzer.