Eine freie Journalistin aus Berlin hat eine ungeschwärzte Version der sogenannten RKI-Files - also von Protokollen des Robert Koch-Instituts - zur Coronapandemie hochgeladen. Seither werden im Internet einzelne Passagen daraus zu angeblichen Skandalen und Lügen erklärt.
Dazu zählt die Äußerung des damaligen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (CDU) von der „Pandemie der Ungeimpften“. Ist das aufgebauscht oder stimmen die Vorwürfe – zumindest zum Teil?
Was sind die RKI-Protokolle?
Die Protokolle des Robert Koch-Instituts (RKI) dokumentieren, was der Covid-19-Krisenstab 2020 bis 2023 überlegt und diskutiert hat. Aus den 3.800 Seiten geht hervor, dass sich vor allem in den Hochzeiten der Pandemie Expertinnen und Experten alle paar Tage trafen und die Lage in Deutschland und der Welt sowie neue Studien und Richtlinien in den Blick nahmen. Es sind allerdings keine Wortprotokolle, sondern Zusammenfassungen der Ergebnisse.
Ist es gut, dass die RKI-Files nun ungeschwärzt vorliegen?
Breites Interesse an den Files besteht schon länger. Das RKI musste zuvor erst über eine Klage nach dem Informationsfreiheitsgesetz zur Veröffentlichung gezwungen werden. Diese kamen zunächst weitgehend geschwärzt – angeblich, um personenbezogene Daten und Betriebsgeheimnisse zu schützen. Das lieferte Futter für Verschwörungstheorien.
Erst im Mai 2024 stellte das RKI eine weitgehend klare Version aus der Anfangszeit der Pandemie zur Verfügung. Der Rest sollte folgen – Termin unklar.
Nun ist die Journalistin vorangeprescht, ohne Rücksicht auf den Datenschutz. Das ist problematisch. Andererseits kann sich nun jeder selbst ein Bild machen.
Was sind die angeblichen Skandale?
Viele der angeblichen Skandale in den Protokollen verpuffen, wenn man den Zusammenhang berücksichtigt. Es geht um mehrere Punkte:
- Jens Spahns Ausdruck “Pandemie der Ungeimpften”
Für besonderen Wirbel sorgt eine Stelle in den Protokollen vom November 2021. Der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn sprach damals wiederholt von einer „Pandemie der Ungeimpften“. In den RKI-Files ist zu lesen: "In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei.“
Hat Spahn gelogen? Fakt ist: Im Herbst 2021 steckten sich auch Geimpfte immer noch an und verbreiteten das Virus auch weiter. Doch nach einer Modellrechnung der Humboldt-Universität gingen zu dieser Zeit drei Viertel der Infektionen von den Ungeimpften aus. Das DIVI-Intensivregister meldete kurze Zeit später, dass Ungeimpfte die Mehrheit aller COVID-19-Fälle auf Intensivstationen ausmachten, deutlich mehr als der Anteil an der Bevölkerung.
Es stimmt also, dass es zu dieser Zeit nicht nur eine Pandemie der Ungeimpften war. Doch Ungeimpfte verbreiteten deutlich mehr Infektionen und hatten schwerere Verläufe. Spahn wollte die Menschen zur Impfung motivieren. Dafür stellte er die Daten zwar verkürzt dar, lag aber in der Tendenz richtig.
- Angeblicher Maulkorb für Christian Drosten
Wirbel gibt es auch um den Virologen Christian Drosten, der ebenfalls in den Protokollen erwähnt wird. Im Juli 2020 heißt es da: „Herr Drosten hat zwischenzeitlich entschieden, das Papier nicht zu publizieren, da dies dem Regierungshandeln widerspricht.“ Das klingt problematisch – als hätte Drosten einen Maulkorb von der Regierung bekommen.
Es ging um die Frage der Testung einer zweiten Welle, die man erwartete. Die Bundesregierung wollte alle testen lassen. Drosten fand es besser, sich auf Superspreading-Ereignisse zu konzentrieren.
Tatsächlich hielt sich der Virologe nur kurz zurück: Schon eine Woche später äußerte er sich in der "Zeit".
- Wirksamkeit von Masken
Die AfD interpretiert einen Satz vom Januar 2020 so, dass das Tragen von Masken angeblich überflüssig gewesen sei. Es heißt in den Files: „Tragen von Mund-Nasen-Schutz für Bevölkerung bei asymptomatischen Patienten nicht sinnvoll“. Es war allerdings der Anfang der Pandemie, die Datenlage entwickelte sich weiter.
Heute steht fest: Die Masken haben geholfen, besser durch die Pandemie zu kommen, genauso wie die Impfung.
Wo hat die Politik auf das RKI Einfluss genommen?
Es gibt durchaus Problematisches in den Protokollen. Demnach setzte das Gesundheitsministerium offenbar eine Änderung durch. Damals ging es um das Freitesten: Das Ministerium wollte es schon nach fünf Tagen, das RKI wollte mehrere Tests, die alle negativ sein sollten.
Im September 2021 heißt es: „Eine derartige Einflussnahme seitens des BMG in RKI-Dokumente ist ungewöhnlich. Die Weisungsbefugnis des Ministers bei technischen Dokumenten wird rechtlich geprüft.“ Und weiter: „Die wissenschaftliche Unabhängigkeit des RKI von der Politik ist insofern eingeschränkt.“ Das ist bedenklich, denn das RKI ist eigentlich eine unabhängige Institution.
Insgesamt lässt sich sagen: Eine Aufarbeitung der Corona-Politik ist sicher notwendig. Dabei können die öffentlichen Protokolle wertvolle Einblicke liefern. Aber wegen "einzelner Sätze Skandal zu rufen, das greift in jedem Fall viel zu kurz", so die Einschätzung von Wissenschaftsjournalist Volkart Wildermuth.
bth