Vor dem Bund-Länder-Treffen am Mittwoch (10.02.2021) spricht sich die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig für eine No-Covid-Strategie aus. Man könne zwar ganz klar sagen, dass die Zahlen der Infektionen sinken. "Das darf keine falsche Sicherheit geben. Das Problem ist, dass wir immer noch in einem Bereich sind, die noch sehr hoch sind."
Auch die aktuelle Ziel-Inzidenz von 50 sei immer noch zu hoch. "Es ist eine von der Politik festgelegte Zahl, für die es wissenschaftlich keine Evidenz gibt, dass es bei dieser Zahl gut funktionieren kann." Sie appelliert für einen Inzidenzwert von zehn, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Dann gebe es eine realistische Möglichkeit, um Kontakte bei Infektionen nachzuverfolgen, so die Virologin.
Auch die aktuelle Ziel-Inzidenz von 50 sei immer noch zu hoch. "Es ist eine von der Politik festgelegte Zahl, für die es wissenschaftlich keine Evidenz gibt, dass es bei dieser Zahl gut funktionieren kann." Sie appelliert für einen Inzidenzwert von zehn, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Dann gebe es eine realistische Möglichkeit, um Kontakte bei Infektionen nachzuverfolgen, so die Virologin.
Die Virologin befürchtet, dass frühe Lockerungen die bisherigen Erfolge aufs Spiel setzen könnten. Wieder von vorne anzufangen, sei zermürbend. "So, darf es nicht weitergehen, weil wir die Bevölkerung verlieren." Man müsse den Menschen wieder Perspektive geben. Das sei ihrer Meinung nach der Blick auf die Null bei den Inzidenzen. Man könne das erreichen, indem man Hygienekonzepte ernsthaft durchführe und jeder dabei mitmache. Auch strengere Kontrollen seien nötig.
Würde der Inzidenzwert im Sinne der No-Covid-Strategie auf nahe Null gesenkt werden, bräuchte es keinen flächendeckenden Lockdown mehr. Würden die Zahlen dann in gewissen Regionen wieder steigen, könnte man dort gezielt lokal eingreifen.
Vor allem die Corona-Variante B.1.1.7 werde sich in Deutschland durchsetzen, so Brinkmann. "Das wird sie tun, denn sie ist infektiöser." Sie habe die Sorge, dass "wir in eine dritte Welle hineinlaufen werden und dann wieder mit noch viel schärferen Maßnahmen nachsteuern müssen. Und das ist etwas, dass wir auf jeden Fall verhindern sollten."
Das Interview in ganzer Länge
Dirk Müller: Die Zahlen liegen auf dem Tisch, sie liegen auf der Hand. Die Neuinfektionen gehen nach unten, die Zahl der täglichen Todesopfer auch. Ebenso sinkt der Inzidenzwert in Deutschland seit gut 14 Tagen. Frau Brinkmann, sind für Sie die jüngsten Zahlen Schall und Rauch?
Melanie Brinkmann: Man kann ganz klar sagen, dass die Zahlen der Infektionen sinken, und das ist total gut und das kann einem total auch Hoffnung machen. Aber es darf einem auch keine falsche Hoffnung machen oder keine falsche Sicherheit geben. Sagen wir es mal so. Denn das Problem ist, dass wir immer noch in einem Bereich sind, der relativ hoch ist. In vielen Landkreisen sind wir noch bei einer Anzahl von Infektionen, die noch so hoch ist, dass man tatsächlich nicht über Lockerungen nachdenken sollte. Aber in einigen Landkreisen sind wir tatsächlich schon ganz gut dabei. Da sind wir schon unter der 50. Das ist für mich ein total positives Signal. Aber man darf sich jetzt auch nicht in einer trügerischen Sicherheit wiegen. Das wäre jetzt gefährlich.
Keine wissenschaftliche Evidenz für die 50
Müller: Aber Sie haben auch immer wieder gesagt, die 50 ist eine willkürliche Zahl, die von der Politik gar nicht so sehr evidenzbasiert festgelegt worden ist. Warum ist das für Sie auch zu wenig, um etwas zu tun?
Brinkmann: Die 50 ist einfach immer noch zu hoch und das ist tatsächlich eine von der Politik festgelegte Zahl, für die es keine wirkliche wissenschaftliche Evidenz gibt, dass es bei dieser Zahl gut funktionieren kann. Einfach mal nur ein Beispiel: Für eine Stadt wie Braunschweig bedeutet eine Hunderter-Inzidenz, dass ich 250 Neuinfektionen pro [Woche]* habe, und da ist es überhaupt nicht ansatzweise vorstellbar, dass jeder Kontakt nachverfolgt werden kann. Wenn wir aber von einer Zehner-Inzidenz sprechen, dann haben wir nur noch 25 Neuinfektionen pro [Woche]*, und da kann man sich schon vorstellen, ja, das kann tatsächlich ein Gesundheitsamt schaffen, Kontakte ganz gezielt nachzuverfolgen. Denn was wir im Moment sehen ist: Wir haben Maßnahmen, die nicht sehr zielgerichtet sind. Wir haben Lockdown-Maßnahmen. Wir legen eigentlich das Leben so ziemlich brach. Es wäre ja viel schlauer und intelligenter, wenn man wirklich zielgerichtete Maßnahmen treffen kann. Eine sehr gute Maßnahme ist und bleibt die Kontaktnachverfolgung und die sollte wieder gegeben sein.
Müller: Aber das ist ja das Ziel der Politik, unter 50 zu kommen, weil da ist ja die These vorhanden oder steht im Raum, dass es den Behörden dann gelingt, konkret nachzuverfolgen.
Brinkmann: Ja, und da fehlt mir jegliche Evidenz für, dass das so sein kann. Deshalb ist es, glaube ich, wichtig, dass man tatsächlich mal einen Perspektivwechsel jetzt anstrebt, dass man sagt, wir wollen nicht verhandeln um irgendwelche Inzidenzen, das eine Gesundheitsamt sagt, ich kann 80 Neuinfektionen pro Tag oder pro 100.000 pro sieben Tage nachverfolgen, ein anderes Gesundheitsamt kann das vielleicht nicht, weil es personell schlechter ausgestattet ist. Ich glaube, es ist wirklich besser, man sagt, wir wollen so niedrig wie möglich, was die Zahl der Neuinfektionen angeht, und am besten auch sagen, jede Infektion ist eigentlich eine zu viel. Dann hat man wirklich eine Ernsthaftigkeit bei dieser Strategie, wo dann auch jeder motiviert wird mitzumachen.
Auch ohne Mutationen Angst vor Anstieg
Müller: Diese Zahl, Frau Brinkmann, wenn ich hier reingehen darf, die sie genannt haben, zehn; da haben Sie gesagt, ab dann kann man über vieles reden, nicht über alles, aber über einiges. Wenn wir den Wert zehn haben in der Region, in der wir leben, in dem Bezirk, wie auch immer definiert, könnte ich beispielsweise wieder zum Friseur gehen?
Brinkmann: Genau. Wir haben es ja gerade von Herrn Weil gehört in Ihrem Beitrag. Er sagt, die Menschen wollen wissen, wann kann ich mir wieder was erlauben, und da stimme ich ihm total zu. Das ist ganz, ganz wichtig, dass wir wieder eine Perspektive bekommen, wie es weitergeht. Er sagt aber auch, die Menschen müssen auch wissen, was uns droht, was passiert, wenn die Zahlen wieder hochgehen. Ich fürchte – und da bin ich nicht alleine -, dass wir bei den hohen Inzidenzen ganz schnell wieder bei der Kommunikation sind, so, jetzt steigen die Zahlen wieder, weil das System nicht stabilisiert werden kann bei hohen Fallzahlen, und jetzt müssen wir wieder Maßnahmen ergreifen, jetzt müssen wir doch den Friseur wieder schließen. Das ist genau das, wo wir nicht wieder hinkommen wollen.
Müller: Liegt das große, ganz große Risiko in den nicht berechenbaren Mutationen?
Brinkmann: Sogar ohne die Mutationen würde ich so argumentieren. Wir brauchen eine Strategie, die jetzt etwas langfristiger ist und die auch wirklich nachhaltig ist. Was die No-Covid-Strategie sagt ist, wir brauchen eine Stabilität und wir wollen nicht in die Situation geraten, dass wir jetzt bei einer gewissen Inzidenz lockern, um dann nur wieder einsehen zu müssen, verflixt, wir können das nicht halten, diesen Zustand, wir müssen wieder weiter nachschärfen.
Regionale Lockdowns möglich in No-Covid-Strategie
Müller: Aber wäre das nicht bei No-Covid dann auch so? Sie sagen, wir müssen so tief wie möglich gehen. Das würde keiner bestreiten, auch keiner in der Politik. No-Covid, wenn wir das richtig notiert haben, wenn ich da zwei, drei Beispiele nennen darf: Mehr testen, vollständige Nachverfolgung der Infektionsketten – haben Sie gerade schon betont -, grüne Zonen, davon ist die Rede, bei niedrigen Werten. Aber auch da kann es doch immer wieder passieren, dass es plötzlich, aus welchen Gründen auch immer, nach oben geht. Dann muss wieder nachgesteuert werden, dann gibt es wieder einen Lockdown.
Brinkmann: Ja, tatsächlich, aber das wären dann regionale Ausbrüche. Da würde man wirklich nicht mehr einen flächendeckenden Lockdown benötigen für das ganze Land, sondern wenn es Ausbrüche gibt, muss das oberste Ziel sein, wir müssen das so schnell wie möglich eindämmen. Und tatsächlich kann es auch bei dieser Strategie zu regionalen Lockdowns kommen. Die wären aber sehr kurz. Die wären nicht so lang wie das, was wir jetzt seit November haben. Die wären wirklich zeitlich sehr begrenzt.
Müller: Jetzt müssen Sie uns noch mal helfen, Frau Brinkmann. Wenn wir jetzt bei dem Regime bleiben, was wir jetzt im Moment haben und vorfinden, und blicken auf den Mittwoch und wir gehen jetzt einmal potenziell davon aus, dass sich die Ministerpräsidenten samt Kanzlerin dagegen entscheiden, irgendetwas zu verändern, gehen Sie davon aus, dass es weiter nach unten geht, oder doch nach oben?
Brinkmann: Ja. Ich fürchte genau das, was Sie sagen, dass es dann wieder weiter nach oben geht. Ich glaube, wir sind jetzt eh schon in einem Lockdown. Wenn wir jetzt aber zu frühzeitig wieder lockern – es ist ein bisschen so wie den Stein, den man den Berg jetzt mühsam hochgeschoben hat über die letzten Wochen und Monate. Wenn man jetzt wieder lockert, wird es so passieren, dass dieser Stein einem wieder entgleitet und dass man wieder von vorne anfangen muss. Das ist zermürbend und ich bin total bei den Menschen. Mir geht es selber so. Man ist zermürbt, man hat irgendwie keine Perspektive im Moment. So darf es nicht weitergehen, weil wir, glaube ich, die Bevölkerung wirklich verlieren. Es ist auch ganz interessant, dass Studien das mittlerweile auch klar sagen. Die Menschen, die eigentlich mit der Politik mitgehen und sagen, ja, wir wollen tatsächlich, dass wir die Zahlen unter Kontrolle bekommen, die verlieren langsam ein bisschen das Vertrauen in die Politik, und die dürfen wir jetzt nicht verlieren. Denen müssen wir wieder eine neue Perspektive geben. Das ist in meiner Meinung der Blick auf die null, wirklich ernsthaft jeder Infektion nachzugehen. Das können wir erreichen, indem wir Hygienekonzepte wirklich konsequent auch durchführen, dass jeder mitmacht. Da kann sich keiner mehr rausreden und sagen, na ja, wenn wir eine 50er-Inzidenz erlauben, dann muss ich in meinem Betrieb ja nicht so darauf achten, das tun ja die anderen schon.
B.1.1.7 wird sich durchsetzen
Müller: Mehr und strengere Kontrollen für Sie auch wesentlich?
Brinkmann: Ja! Wir müssten nichts in dem Sinne verschärfen, was wir nicht schon haben. Wir haben ja klar die Ansage, liebe Betriebe, ihr braucht Hygienekonzepte. Aber wir kontrollieren es nicht. Tatsächlich müsste man mehr kontrollieren, ob das wirklich effizient umgesetzt wird.
Müller: Jetzt muss ich Sie trotzdem noch mal fragen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe. Ich hatte ja versucht, Sie zu fragen, festzulegen, wenn wir alles beibehalten wie es ist, werden die Zahlen trotzdem steigen. Das war meine Frage. Jetzt hatte ich Sie so verstanden, wenn wir lockern, dann auf jeden Fall. Wie ist es denn, wenn die Sanktionen, die Restriktionen einfach nur verlängert werden?
Brinkmann: Ich glaube, gerade dieser Abfall der Kurve wird bei manchen Menschen bewirken, dass ja jetzt alles gut ist und dass man sich jetzt entspannen kann. Das ist im Hinblick – Sie haben es vorhin schon angesprochen – auf die Varianten, die jetzt sich auch in Deutschland durchsetzen – ich spreche von der Variante B.1.1.7 -, das ist jetzt die große Gefahr. Wenn diese Variante sich jetzt hier durchsetzt – und das wird sie tun, denn sie ist in ihrem Verhalten infektiöser und wird mehr Menschen zur gleichen Zeit anstecken wie die alte Variante -, dann werden wir tatsächlich sehen, wenn wir jetzt weiter so machen, wenn die Menschen langsam nachlassen mit ihrem Verhalten, mit ihrem strengen Verhalten, dass wir wieder mehr Infektionen bekommen, und ich habe tatsächlich die Sorge, dass wir in eine dritte Welle hineinlaufen werden und dann wieder mit noch viel schärferen Maßnahmen nachsteuern müssen. Das ist etwas, was ich meine, was wir unbedingt verhindern sollten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
[*] Anmerkung der Redaktion: Melanie Brinkmann hat sich an dieser Stelle im Interview versprochen. Statt Neuinfektionen pro Tag meinte sie Neuinfektionen pro Woche. Wir haben das in der Textfassung des Gesprächs korrigiert.