Nach den Beschlüssen der Bundesregierung haben wieder mehr Geschäfte ihre Türen geöffnet. Das Robert-Koch-Institut sieht angesichts der Corona-Pandemie eine Rückkehr zu einem normalen Alltag in Deutschland noch in weiter Ferne. Das RKI fordert deshalb weitere und intensive Testungen sowie die konsequente Nachverfolgung der Infektionsketten durch die Gesundheitsämter. In diesem Zusammenhang ist auch eine weitere Reform zur Bekämpfung der Epidemie zu sehen, für die jetzt eine erste Formulierungshilfe für die Fraktionen vorliegt. Das Gesundheitsministerium will unter anderem die Zahl der Corona-Tests erheblich steigern - auf bis zu viereinhalb Millionen. Auch mit dabei: eine dauerhafte gesetzliche Meldepflicht für COVID-19-Erkrankungen. Achim Kessler (Linke), Obmann im Gesundheitsausschuss trägt diesen Vorschlag mit, fordert aber zusätzlich eine unabhängige Beobachtung und Bewertung.
Silvia Engels: Dann nehmen wir uns mal den Stand der Pläne, die die Regierung schmiedet, vor. Da soll die Meldepflicht für Corona-Verdachtsfälle strenger werden und dauerhaft gelten. Tragen Sie das mit?
Achim Kessler: Das ist prinzipiell eine sehr sinnvolle Maßnahme, weil das natürlich dann auch nachvollziehbar macht, wie der Verlauf der Pandemie sein wird. Wir halten aber unabhängig davon auch eine unabhängige Beobachtung und Bewertung auch der ergriffenen Maßnahmen für sinnvoll. Bislang ist nur vorgesehen, dass das Bundesministerium nächstes Jahr selbst berichten wird, also selbst die eigenen ergriffenen Maßnahmen auch bewerten wird, das halten wir für unzureichend.
"Sehr viele Gesundheitsämter sind personell stark unterbesetzt"
Engels: Welche Institution schwebt Ihnen denn da vor?
Kessler: Ich denke, man könnte dazu einen Sachverständigenrat einberufen, da sind wir auch gar nicht so festgelegt, aber es muss auf jeden Fall wissenschaftlich unabhängiger Sachverstand die Maßnahmen bewerten.
Engels: Ist denn das Meldewesen so schlecht, oder ist das nicht eher ein Problem, dass wir einfach mit der Dunkelziffer, die es dort gibt, noch nicht so richtig zu Rande kommen?
Kessler: Ich glaube, dass man die Dunkelziffer – das Problem wird man letztendlich nie lösen können, weil wir sind weit davon entfernt, die gesamte Bevölkerung testen zu können. Da kommen wir sicher nachher noch mal drauf zurück. Ein grundsätzliches Problem ist aber tatsächlich auch das Meldewesen. Sehr, sehr viele Gesundheitsämter sind personell stark unterbesetzt, es gibt sogar einzelne Gesundheitsämter, in denen noch nicht mal ein Arzt oder eine Ärztin mehr arbeitet. Diese Unterfinanzierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes muss dringend beendet werden. Die Gesundheitsdienste sind kaputtgespart worden, das war ein großer Fehler in der Vergangenheit.
Gesundheitspersonal täglich testen
Engels: Dann kommen wir jetzt auf die Testkapazitäten zu sprechen – Sie haben es schon angedeutet –, hier soll der Corona-Testumfang erhöht werden und natürlich weiter kassenärztlich bezahlt werden. Dieses Ziel hören wir seit Wochen, und es wird auch von allen angestrebt. 700.000 sollten es pro Woche sein, aber nur rund die Hälfte wird geleistet – wir haben es gerade noch mal gehört. Ist es nach Ihrer Beobachtung allein der Mangel an Testsubstanzen, der hier Grenzen setzt?
Kessler: Das ist mein Eindruck. Von daher verstehe ich auch nicht, wie das erreicht werden soll. Wenn ich das richtig gelesen habe in dem Entwurf für das Gesetz, soll die Testkapazität auf fünf Millionen pro Woche erhöht werden (*), also meiner Meinung nach eine völlig utopische Zahl. Im Moment ist es so, ich bekomme viele Berichte von Menschen, die in Krankenhäusern oder auch in Pflegeeinrichtungen arbeiten, die Kontakt hatten mit infizierten Personen und die nicht getestet werden können, weil die Testkapazitäten nicht vorhanden sind. Meine Forderung wäre, jetzt schnellstmöglich dazu überzugehen, dass das Gesundheitspersonal, dass sehr, sehr viel Außenkontakte hat, täglich getestet werden kann, um zu verhindern, dass auf dem Wege die Pandemie sich weiter ausbreiten kann. Ich finde, wir brauchen eine realistische Zielstellung und müssen wegkommen von utopischen Zahlen, die den Gesundheitsminister in einem positiven Licht dastehen lassen, die aber zumindest mit meinem momentanen Kenntnisstand nicht erreicht werden können.
Engels: Bleiben wir noch kurz beim Mangel an Testsubstanzen: Gibt es denn hier irgendeine Perspektive, hier die Vorräte oder die Möglichkeiten kurzfristig zu erhöhen, oder ist das einfach nicht machbar?
Kessler: Ich habe in der letzten Sitzung, in der letzten Telefonkonferenz mit dem Gesundheitsminister, die der Gesundheitsausschuss hatte, auf die Testkapazitäten in den veterinärmedizinischen Laboren hingewiesen. Ich freue mich sehr, dass die Bundesregierung in dem vorliegenden Gesetzentwurf diesen Vorschlag aufgegriffen hat, weil ich glaube, dass das wirklich eine Maßnahme sein könnte, um Testkapazitäten auszubauen. Ich glaube, dass wir hier wirklich kreativ sein müssen und alle Mittel ausschöpfen müssen, um die Testkapazitäten auszuweiten, aber wie schon mal gesagt, ist es auch wichtig, einfach realistisch zu bleiben und dann auf einer Basis die weiteren Maßnahmen zu planen, was realistisch erreichbar ist an Testkapazitäten.
Pandemie zeigt Probleme des Gesundheitssystems
Engels: So viel zu dem medizinischen Bereich. In dem Gesetzentwurf ist ja offenbar auch vorgesehen, weiterhin finanzielle Folgen dieser Pandemie abzumildern, Stichwort hier die privat Krankenversicherten. Da sollen die privaten Kassen eine zeitlich begrenzte Tarifgarantie geben. Stimmen Sie zu?
Kessler: Dem stimme ich zu. Es ist so, dass in ganz vielen Bereichen jetzt die Pandemie Probleme unseres Gesundheitssystems noch mal sehr, sehr scharf deutlich macht. Ich bekomme immer – immer, zu jeder Zeit – auch außerhalb der Pandemie ganz viele Briefe von privat Versicherten, die entweder, weil sie in Pension oder in Rente sind, die teuren Beiträge der privaten Krankenkasse nicht mehr bezahlen können, oder aber von Beitragssäumigen in der Privatversicherung, zum Beispiel Selbstständige, bei denen die Geschäfte nicht so gut laufen, die ihre Beiträge nicht mehr bezahlen können, die rutschen automatisch dann in einen Basistarif, haben dann nur noch ein eingeschränktes Leistungsniveau, das unterhalb der gesetzlichen Krankenversicherung liegt. Das ist ein grundsätzliches Problem der privaten Krankenversicherungen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen halte ich für richtig, sie müssten dauerhaft gelten. Darüber hinaus wäre eine umfassende Lösung für dieses Problem nur möglich – und das ist auch unser Vorschlag – durch eine solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung, in die alle einzahlen. Das bedeutet, die private Krankenversicherung würde als Vollversicherung abgelöst, und alle Menschen, die in Deutschland leben, wären Mitglied in dieser Gesundheits- und Pflegeversicherung. Dann hätten wir diese Problemlage, dass Menschen ihre Beiträge nicht mehr bezahlen können, weil sie in den privaten Versicherungen mit zunehmendem Alter und zunehmendem Gesundheitsrisiko steigen. Dieses Problem hätten wir dann nicht mehr.
Engels: Das ist natürlich eine alte Forderung der Linken, insofern nicht überraschend, dass Sie das jetzt ansprechen. Aber wenn wir kurzfristig hinschauen und diese Tarifgarantie gegeben werden soll, müsste man dann nicht, um zu verhindern, dass private Krankenversicherungen pleite gehen, hier auch staatliche Finanzhilfe an die PKVs geben, damit sie überhaupt diese Tarifgarantie geben können?
Kessler: Auch das ist ein grundsätzliches Problem. Durch die Situation an den Finanzmärkten stehen die privaten Krankenversicherungen enorm unter Druck, ihre Leistungen überhaupt erbringen zu können, das ist ein bekanntes Problem. Notfalls muss der Staat hier auch meiner Meinung nach jetzt in der Krise dafür sorgen, dass das geleistet werden kann. Aber ich möchte das noch mal wiederholen: Das Problem ist ein grundsätzliches. Das duale Versicherungssystem in der Krankenversicherung ist für ganz, ganz viele auch privat Versicherte von Nachteil, und hier muss, glaube ich, wirklich eine grundlegende Lösung angeschoben werden, und das macht die Krise, finde ich, jetzt noch mal verschärft deutlich.
Versorgung der Bevölkerung muss oberster Maßstab sein
Engels: Letzter Aspekt dieses Pakets, soweit wir es kennen, die Krankenhäuser sollen noch stärker finanziell weiter unterstützt werden, da sie ja durch die Bereitstellung weiterer Betten für potenzielle Corona-Patienten in ihrer Bilanz wohl ins Minus gehen werden. Ist hier noch nicht genug an Hilfe auf dem Weg, denn da wurde ja schon einiges beschlossen?
Kessler: Den Weg, den das Bundesministerium eingeschlagen hat, war falsch unserer Einschätzung nach. Wir hatten vorgeschlagen, dass den Krankenhäusern auf der Grundlage der Ausgaben des vergangenen Jahres pro Monat ein Zwölftel der Ausgaben von 2019 zugewiesen werden als Pauschale plus eines Prozentsatzes von fünf oder zehn Prozent, um die Mehrbelastung durch die Krise auszugleichen, dann hätten die Krankenhäuser eine solide Finanzierung gehabt. Das Bundesministerium hat sich dafür entschieden, das Fallpauschalensystem, also ein bestimmter Pauschalbetrag pro Krankheitsfall, zu modifizieren, mit der Folge, dass wir jetzt einige Krankenhäuser haben, die gut finanziert sind, nämlich wenn die freigemachten Kapazitäten jetzt durch Corona-Fälle belegt sind. Auf der anderen Seite haben wir Krankenhäuser, die zwar Betten freigemacht haben, die jetzt aber leer stehen und die ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken müssen. Auch das offenbart wieder ein grundlegendes Problem unseres Gesundheitssystems. Das Festhalten am Wettbewerb führt dazu, dass ein leeres Bett automatisch Verlust bedeutet, und das ist einfach jetzt – das offenbart die Krise – das falsche Prinzip. Im Gesundheitssystem muss wieder das Prinzip gelten, dass die Versorgung der Bevölkerung der oberste Maßstab ist und nicht der Wettbewerb unter den Leistungserbringern.
(*) Anmerkung der Redaktion: Laut Gesetzentwurf sollen künftig rund 4,5 Millionen Tests auf das Coronavirus zusätzlich pro Woche durch die gesetzlichen Krankenkassen finanziert werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.