Eine Krise mit solcher Wucht hat die Welt schon lange nicht mehr erlebt. Der Börsencrash von 2007? Unangenehm, aber beherrschbar. Die Flüchtlingsströme 2015 Richtung Europa? "Wir schaffen das!" Der drohende harte Brexit? Federt Brüssel schon irgendwie ab. Bei der Coronakrise ist die Situation aber brisanter: Lockdown, verzweifelte Eltern, die parallel zum Homeoffice ihren Kindern Mathematik beibringen, verunsicherte Lehrer, ungeliebte Masken- und Abstands-Regeln, Millionen Menschen in Kurzarbeit, drohende Insolvenzwellen, weltweit viele Hunderttausend Tote – SARS-CoV-2 wütet ungebrochen.
Bei Licht betrachtet haben sich manche dieser gesellschaftlichen und ökonomischen Verwerfungen aber schon vor Ausbruch der Pandemie angedeutet. Dr. Timur Ergen, Soziologe am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln:
"Seit den 90er-Jahren arbeitet ein Großteil der Bevölkerung in reichen Ländern in einfachen Dienstleistungsberufen, und einfache Dienstleistungsberufe werden bei uns traditionell stiefmütterlich behandelt. Im Gegensatz zur Landwirtschaft und zur fertigenden Industrie haben wir so gut wie keine Programme zur Veredelung, Aufwertung, Produktivitätssteigerung in einfachen Dienstleistungsberufen. Jetzt nennen wir sie zwar ‚systemrelevant‘, aber jetzt schlägt das natürlich durch, dass das ein kläglich vernachlässigter Sektor in unserer Beschäftigungsstruktur ist."
Fragwürdige Verteilung finanzieller Coronahilfen
Hinzu kommt, so Ergen, die ungleiche Verteilung finanzieller Coronahilfen: "Man kann durchaus sagen, dass sich westliche Regierungen und westliche Zentralbanken darauf festgelegt haben, dass sie Kapitalmärkte praktisch schadlos halten - im Unterschied zu Beziehern von Arbeitseinkommen."
Das Ergebnis lässt sich unter anderem am DAX und Dow Jones ablesen, die schon fast wieder Vor-Corona-Niveau erreicht haben, während gleichzeitig die Arbeitslosenzahlen in Europa und in den USA drastisch gestiegen sind. Parallel bahnen sich gesellschaftspolitische Umbrüche an: Nationale und antisemitische Gesinnungen, Populisten und Verschwörungstheoretiker bekommen Aufwind und prägen gesellschaftspolitische Debatten. Die Krise wirkt als Brandbeschleuniger für alles Autoritäre.
Wobei nicht jede gesellschaftliche Veränderung gleich eine Krise sein muss, so Prof. Wilhelm Heitmeyer, Soziologe am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld: "Sondern erst dann - und da müssen zwei Kriterien zusammen kommen - wenn die Routinen, mit denen man politische, ökonomische und soziale Probleme bearbeitet hat, nicht mehr funktionieren, das ist das erste Kriterium. Das zweite ist, dass die Zustände vor den Krisen nicht wieder herstellbar sind."
Krisen kennzeichnen sich durch Kontrollverlust
Krisen nach dieser Definition, so Heitmeyer, führen immer zu Kontrollverlusten: "Diese Kontrollverluste können sich zeigen in den Biografien von Menschen, aber auch in den Handlungsweisen von Institutionen und Organisationen. Und man muss ja bezogen auf die Coronakrise auch sagen: Auch die staatlichen Institutionen hatten Kontrollverluste zu verzeichnen, und daraus entstehen dann bestimmte Bedrängungen und Irritationen, die darauf hinwirken, dass es in gewisser Weise eine gesellschaftliche Unordnung gibt. Und das drängt dann auf Wiederherstellung von Ordnung - darin steckt dann das Autoritäre."
Ein Blick auf die Kommentare von Identitären, Reichsbürgern, AfD-Anhängern und Rechtsradikalen zur Coronakrise bestätigt diese These. Das Bedürfnis nach autoritärer Führung – was immer das im Detail auch heißen mag – scheint groß zu sein. In solchen Situationen ist der Blick in die Zukunft notgedrungen vernebelt; Visionen, die aus der Krise herausführen, gibt es nicht. Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas hat schon 1985 dafür den Begriff der "neuen Unübersichtlichkeit" geprägt.
"Damals ging es um die Unübersichtlichkeit, wie sich der Wohlfahrtsstaat entwickelt", erklärt Heitmeyer. "Das hat sich jetzt natürlich alles dramatisch ausgeweitet. Insofern haben wir auch neue Unübersichtlichkeiten, die uns sehr zu schaffen machen. Das heißt, es gibt kaum noch Visionen, wie es nach vorne geht. Habermas hat damals von einer Erschöpfung von Visionen gesprochen."
Sicht auf die Zukunft prägt unser Handeln
Der Blick in die Zukunft entscheide aber mit über die Bewältigung der Krise; so Dr. Lisa Suckert, Wirtschaftssoziologin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln: "Wie wir denken, wie wir entscheiden und wie wir letztendlich auch handeln, ist geprägt von der Vergangenheit und der Gegenwart. Aber neben den Erfahrungen, die wir gemacht haben, die wir erlernt haben, beispielsweise den direkten Reaktionen von unseren Mitmenschen, wird unser Handeln, Denken und Entscheiden auch maßgeblich davon geprägt, wie wir uns die Zukunft vorstellen."
Kredite nimmt nur jemand mit stabilem Einkommen auf; demokratische Parteien werden gewählt, wenn ihre Programme erfolgreiche Zukunftsperspektiven versprechen und so weiter. Entscheidend für das Handeln sind die Erwartungshaltungen an die Zukunft. Natürlich lasse sich Zukunft nie bis ins letzte Detail vorhersagen, wichtig sei ein positives Grundgefühl, so Lisa Suckert. Genau das fehlt vielen Menschen aber in Zeiten der SARS-CoV-2-Pandemie: Ehemals feste Fundamente weichen auf und vertraute Strukturen geraten ins Wanken – sozial, ökonomisch, politisch.
Der italienische Philosoph Antonio Gramsci nannte vor rund hundert Jahren diesen Zustand ein Interregnum, erläutert Suckert: "Das, was bisher gegolten hat, gilt nicht mehr, aber das Neue kann noch nicht geboren werden. Das Resultat davon ist eben diese starke Verunsicherung, weil wir eben keine Orientierungspunkte haben, an denen wir unsere Zukunftserwartungen fest machen können. Wir verstehen sozusagen die Welt nicht mehr."
Die Folgen dieser Orientierungslosigkeit lassen sich unter anderem bei den "Querdenkern" und QAnon-Anhängern beobachten: Viel mehr Verschwörung und Wirrnis gehen kaum.
Mehr Vorsorge könnte Krisen abfedern
Unabhängig davon, warum diese Entwicklungen gerade jetzt hochkochen, stellt sich aber doch die Frage, ob Gesellschaften sich nicht mit vorsorgenden Maßnahmen gegen Krisen schützen können. Wie schwierig das ist, zeigt ein Blick auf die Anfänge der Corona-Pandemie: Desinfektionsmittel und Mundmasken, ganz zu schweigen von Intensivbetten mit Beatmungsgeräten, waren Mangelware, so Timur Ergen vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung: "Selbstverständlich ist es auch wahr, dass man jetzt nicht für alle Eventualitäten Vorsorge treffen kann, aber ein Stück weit sollte man sich auf diese sehr unwahrscheinlichen, aber mit unheimlichen Kosten einhergehenden Ereignisse einstellen gesellschaftlich."
Das setzt allerdings einen Konsens darüber voraus, ob die Gesellschaft tatsächlich gerade eine Krise erlebt und erleidet oder vielleicht doch nur eine lässliche Störung. Darüber entbrennen Deutungskämpfe zwischen verschiedenen Gruppen: Virologen gegen Verschwörungstheoretiker, kritische Politiker gegen Abwiegler, seien es nun Impfgegner oder stramme Reichsbürger.
"Und solche Deutungskämpfe sehen wir in allen Krisen", sagt Lisa Suckert vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. "Also wenn Sie sich zum Beispiel die Finanzkrise anschauen, die ja schon ein paar Jahre zurückliegt, da war es natürlich auch so, dass da drüber diskutiert wurde: Ist das jetzt ein Versagen von einzelnen Finanzakteuren, ist da irgendetwas Fundamentaleres mit unserem Finanzsystem nicht in Ordnung, vielleicht sogar mit unserem Wirtschaftssystem nicht in Ordnung? Und jetzt haben wir natürlich auch diese Diskussionen, ist das Ganze wirklich schlimmer als eine normale Grippewelle?"
Die Coronakrise macht uns nicht zu besseren Menschen
Krisen setzen destruktive wie konstruktive Kräfte frei. Im besten Fall erzeugen sie eine Atmosphäre des Aufbruchs – auch wenn die Gesellschaft sich noch im Interregnum befindet: Das Alte stirbt, das Neue ist noch nicht geboren. Immerhin lässt sich das Neue schon jetzt als Erwartung formulieren, die hier und da auch schon praktisch umgesetzt wird. Suckert:
"Die Art und Weise, wie wir Zukunft denken, ist natürlich von dem beeinflusst, was wir um uns sehen. Und wir machen jetzt alle viele neue Erfahrungen, auch wenn Sie an die ganze Sache denken wie Homeoffice und Videokonferenzen und keine Dienstreisen mehr und solche Sachen. Das sind auch alles neue Erfahrungen, die wir machen, neue Erfahrungen, die wir auch als Gesellschaft diskutieren und natürlich können da auch veränderte Zukunftserwartungen daraus resultieren."
Gehen wir gar gestärkt aus der Krise hervor? Als bessere Menschen, die Solidarität und Empathie gelernt haben? Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer ist skeptisch:"Nein, ich sehe das in keiner Weise so. Es war wirklich sehr bemerkenswert, wie in den ersten Wochen der Pandemie Solidaritäten vorhanden waren, die sind aber damals in Leerlaufzeiten vollbracht worden. Die Frage ist ja, wie Solidaritäten sich strukturell verankern und nicht aus einer besonderen kurzzeitigen Situation."
Die Welt steht inmitten heftiger Deutungskämpfe, was die Corona-Pandemie genau ist und wie man mit ihr langfristig umgehen soll. Sie steht aber auch vor der Frage, welche Zukunft offene und demokratische Gesellschaften noch haben. Die Auseinandersetzung mit autoritären und rechtsradikalen Positionen und Personen hat gerade erst begonnen.