Christiane Knoll: 148 Tote - für eine große Boulevardzeitung ist das die Vorlage für diese Frage: "Ist das Virus in Italien tödlicher als in Asien?", das Ganze fettgedruckt und auf der Titelseite. Der nächste Gedanke stellt sich beim ein oder anderen da ganz schnell ein: Die Epidemie schreitet voran; sie wird gefährlicher, weil das Virus sich verändert.
Dem wollen wir jetzt einmal nachgehen, und die Fakten sichten, die dazu auf dem Tisch liegen. Im Studio ist mein Kollege Arndt Reuning, nach allem was wir bis heute wissen: Ist das Virus in Italien tödlicher als das in Asien?
Arndt Reuning: Das können wir so nicht sagen, das wäre nicht seriös. Man muss vorsichtig sein, ob denn die Zahlen überhaupt miteinander vergleichbar sind. In Italien sind es im Vergleich zu China immer noch wenige Fälle, ungefähr 4.800. Und wir haben es beim neuartigen Coronavirus mit Sterberaten zu tun, mit einer Letalität, die sich je nach Land im niedrigen einstelligen Prozentbereich bewegt – oder sogar noch darunter. Die Zahl der Todesfälle in Italien ist hoch mit knapp 150 Fällen, aber es ist eben auch eine Statistik mit kleinen Zahlen. Je größer die Datenbasis, desto sicherer, verlässlicher lässt sich natürlich einschätzen, wie gefährlich solch ein Virus tatsächlich ist.
Harmlose Ausgangsform, gefährliche Mutationsvariante?
Knoll: Aber nun gibt es eine Studie chinesischer Wissenschaftler, die von zwei verschiedenen, unterschiedlich gefährlichen Virus-Typen sprechen. Was hat es damit auf sich?
Reuning: Ja, das ist eine Veröffentlichung, die bereits seit einigen Tagen kursiert. Forscher aus China haben über einhundert bereits entzifferte Viren-Genome von SARS-CoV-2 heruntergeladen und untersucht, wie ähnlich sich diese Erbanlagen sind. Und dabei festgestellt: Das Erbgut verändert sich, und das ist keine Überraschung, besonders nicht bei RNA-Viren wie CoV-2, die haben ein eher instabiles Erbgut. Eine weitere Feststellung der Forscher: Es existieren offenbar zwei Varianten des Virus. Auch das wusste man vorher schon; nun haben diese Varianten auch einen Namen bekommen: L-Typ und S-Typ.
Interessant ist nun die Schlussfolgerung. Die chinesischen Forscher sagen, anhand der Verbreitung der beiden Typen während der Anfangszeit der Epidemie in China lasse sich ableiten: Der S-Typ sei die ursprüngliche Form gewesen, und eher harmlos. Daraus entstanden sei dann der wesentlich aggressivere L-Typ. Der sei vor allem für den großen Ausbruch verantwortlich. Es gebe also eine harmlosere Varianten, die sich dafür aber immer etwas unter dem Radar bewegt habe, und eine gefährlichere Variante.
Kritik vom Corona-Experten Drosten
Christian Drosten, Virologe von der Charité, hat sich im NDR kritisch dazu geäußert: Allein am Genom lasse sich üblicherweise nicht ablesen, wie gefährlich ein Virus sei. Er wirft den chinesischen Forschern vor, dass sie ihre Befunde überinterpretierten. Es sei eben keine kontrollierte Studie unter isolierten Bedingungen. Die Reaktion der Behörden in China, die ganzen Abläufe waren so dynamisch, dass man all diese Einflüsse mitberücksichtigen müsse. Aber das sEi in dieser Studie eben nicht geschehen.
Statistik mit kleinen Zahlen
Knoll: Irritierend, dass es in Italien so viele Tote gibt, ist es trotzdem. Lässt sich das wirklich nur mit den kleinen Fallzahlen und entsprechend großen statistischen Schwankungen erklären?
Reuning: Es ist noch immer eine Statistik mit kleinen Zahlen, das muss man im Hinterkopf behalten. Aber entscheidend ist ja auch die absolute Zahl der Infizierten, wenn man die Letalität, die Sterblichkeit berechnen will. Da gibt es natürlich eine große Dunkelziffer in der Bevölkerung, die hängt auch davon ab, wie intensiv denn überhaupt getestet wird auf Infektionen mit diesem Virus. Die nicht entdeckten Fälle sind die harmlosen Fälle, deshalb wirkt in einem solchen Fall die Sterblichkeit größer als sie tatsächlich ist.
Wie viele Menschen erkranken, eventuell schwer erkranken, vielleicht sogar sterben, hängt nicht nur vom Virus selbst ab. Eine Reihe anderer Faktoren spielt eine Rolle: Wie gut ist das Gesundheitssystem aufgestellt, um Epidemien einzudämmen, um Erkrankte zu behandeln? Wie sieht die Demographie eines betroffenen Landes aus? Es gibt ja die bekannten Risikofaktoren: Eher ältere Menschen sind von schweren Verläufen betroffen. Menschen mit einer Vorerkrankung. All das muss in Betracht ziehen, wer die unterschiedlichen Sterberaten in den verschiedenen Ländern beurteilen will.
Man vergleicht die Mortalität von SARS-CoV-2 mit derjenigen der Influenza. Wenn man das als Maßstab, als Vergleich anlegt, dann liegen die Corona-Zahlen je nach Land entweder darüber oder darunter. Aber die sind eben auch noch mit einer gewissen Ungewissheit behaftet. Eine Bewertung fällt also schwer. Die Zahlen werden umso genauer, je weiter die Pandemie voranschreitet. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist es noch zu früh, Verlässliches zu sagen.