Thomas Kammerer ist katholischer Seelsorger am Münchner Uniklinikum Rechts der Isar. Er hat in den vergangenen Monaten beobachtet: "Gerade in so unfassbaren und so unbegreifbaren Situationen, wie wir sie zurzeit haben, kommen natürlich viele Fragen nach dem Sinn: Warum muss ich leiden? Warum ist überhaupt alles eingeschränkt? Warum hat sich die Welt verändert? Was müssen wir noch alles befürchten? Was kommt auf uns zu? Das sind die Fragen nach dem Lebensfundament."
Johannes Eckert ist Abt der bayerischen Klöster Sankt Bonifaz und Andechs. Er sagt:
"Ich glaube schon, dass man in solchen Situationen nochmal sensibler wird. Sensibel, dass man dankbar ist um manches. Vielleicht auch sensibel, wenn man Ängste wahrnimmt. Dass man sagt: Wie soll es wirtschaftlich weitergehen, wie kann ich meine Miete zahlen und und und."
Petra Bahr ist Regionalbischöfin in Hannover und Mitglied im Deutschen Ethikrat:
"Ich kann mir überhaupt keine Existenz vorstellen, in der man nicht auch Zukunftsträume oder Zukunftspläne schmiedet, egal wie alt man ist. Das merkt man ja auch als Mutter eines Sohnes. Unser Sohn ist zwölf. Und natürlich fragt der sich, wie geht sein Leben nach dieser Pandemie weiter. Darüber reden wir auch ganz viel."
"Nicht alles ist abgesagt"
Ziemlich zu Beginn, im frühen Frühling, als der Alltag das erste Mal aus der Bahn gerät, taucht dieser Text im E-Mail-Postfach auf – unterlegt mit dem Foto eines Regenbogens:
"Nicht alles ist abgesagt.
Sonne ist nicht abgesagt.
Lesen ist nicht abgesagt.
Musik ist nicht abgesagt.
Fantasie ist nicht abgesagt.
Hoffnung ist nicht abgesagt."
Sonne ist nicht abgesagt.
Lesen ist nicht abgesagt.
Musik ist nicht abgesagt.
Fantasie ist nicht abgesagt.
Hoffnung ist nicht abgesagt."
"Ich hatte massive Atemnot"
Schon da ahnen einige, dass in den nächsten Monaten mehr nötig sein wird als Impfstoff und Medizin. Dass neben der körperlichen Gesundheit die seelische Gesundheit wichtig ist. Auch die seelische Gesundheit jener, die das Virus gar nicht erwischt. Was zehrt, ist die Ungewissheit. Das ständige Kreisen um dieses eine Thema. Auch die Einsamkeit. Zeit, zuzuhören: der Telefonseelsorgerin, dem Klinikpfarrer, der Ethikerin. Und einem, der die Krankheit durchgemacht hat:
"Ich hatte massive Atemnot. Und ich hatte einen außerordentlich brutalen Husten, den wünsche ich also wirklich niemand."
Walter Bayerlein ist 85 und war im März schwer an Corona erkrankt. Einige Tage lang schwebte er in Lebensgefahr.
"Ich war so schwach, dass ich keinen Löffel halten konnte, ich musste im Bett gefüttert werden. Ich war nicht in der Lage, drei Schritte ins WC zu gehen. Der Pfleger hat gemeint, ich schaffe das schon. Er konnte mich nicht halten, nur so viel, dass ich an ihm entlang runtergerutscht bin. Und das ist heute noch so: Ich bin also sehr viel schwächer, als ich vorher war. Und ich war vorher schon schlecht beieinander, ich hatte ja meinen dritten Herzinfarkt vorher."
Es ist Anfang November, als der pensionierte Richter aus Vaterstetten bei München davon erzählt. Bayerlein hatte schon vor Corona mehrere Herz-OPs, ist Diabetiker und krebskrank. Er hat Corona überlebt, aber nicht überstanden. Die seelischen Folgen spürt er bis heute:
"Ich war in meinem Leben psychisch nie so fertig wie während der Corona-Zeit. Es gab dann auch mal eine Situation, wo ich gedacht habe, jetzt will ich nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich bin jetzt gefühlsmäßig schon nicht mehr nur am Boden, sondern unterm Teppich. Weiter runter geht’s eigentlich gar nicht mehr, und das hat alles keinen Sinn."
Sieben Wochen allein
Dass das Virus auch auf die Psyche schlägt, berichten COVID-19-Patienten häufiger. Auch wegen der strengen Isolation. Walter Bayerlein war sieben Wochen allein, erst in einem Münchner Krankenhaus, dann in der Reha-Klinik. Das Personal kam ausschließlich im Schutzanzug.
"Ich habe mich in meinem Leben nie so allein gefühlt wie damals. Ich habe meine Frau sieben Wochen nicht gesehen, obwohl wir 59 Jahre verheiratet sind. Das geht einfach nicht.
Ich hatte niemanden zum Reden, obwohl ich ja ganz gern einmal rede – ich habe ein sehr reiches Leben. Aber ich hatte keine Ansprache. Ich war den ganzen Tag allein. Dann kam die Schwester, die hat geschaut und Fieber gemessen. Aber für irgendeine persönliche Bemerkung war da eigentlich gar kein Platz."
Einsam waren nicht nur Corona-Patienten wie Walter Bayerlein. Kontakte einzuschränken, trifft gerade alleinstehende und ältere Menschen hart. Zumal sie besonders gefährdet sind, lebensbedrohlich zu erkranken. Als im März binnen weniger Tage fast alles geschlossen wurde, mussten Alleinlebende damit klarkommen, kaum noch andere Menschen zu sehen. Seniorennachmittage, Volkshochschule, Kaffee mit Freundinnen – alles war auf einmal weg.
Petra Bahr ist Regionalbischöfin in Hannover und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Ihre Themen dort sind gesellschaftlicher Zusammenhalt und Teilhabe sowie medizinethische Fragen. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk im Mai sagt Bahr:
"Gerade Menschen, die alleine leben, sind in so einer Quarantäne in einer Weise nochmal auf sich selbst zurückgeworfen, die ich auch erschreckend fand."
Auch das gewohnte religiöse Leben stand im Frühjahr über Wochen still: Keine Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen und Synagogen. Keine Gottesdienste, nicht einmal an Ostern. Kein Bibelkreis, kein Gemeindefest. Manch eine Seelsorgerin, manch ein Seelsorger versuchte, wenigstens über Telefon und Mail Kontakt zu Älteren und Alleinlebenden zu halten.
Leere Kirchen
Wir haben im Laufe des Corona-Jahres 2020 für diese Sendung immer wieder mit Petra Bahr darüber gesprochen, welche seelischen Folgen die Krise hat.
Bahr spricht auch über die leeren Kirchen. An Orten, die in schweren Zeiten eigentlich Trost und Geborgenheit in der Gemeinschaft versprechen, ist es nun verboten zusammenzukommen.
Am 27. März, einem Freitag, betet der Papst auf dem menschenleeren Petersplatz für ein Ende der Corona-Pandemie. Fernsehsender übertragen die Bilder in die ganze Welt.
"Mir war schon relativ schnell klar, dass diese leeren Kirchen auch zu so einer Art von Bildgedächtnis am Anfang dieser Jahrhundert-Krise führen werden. Im öffentlichen Bild und auch im Bild vieler Menschen, die unter großer Not leiden, sind überfüllte Kirchenräume eigentlich das Gebot der Stunde. Und dass das alles ausgefallen ist, dass die Religion an dieser Stelle nicht da war, wo sie eigentlich öffentlich hätte sein müssen, das empfand ich als eine ungeheuerliche Verantwortung."
"Ich war enttäuscht"
Walter Bayerlein aus Vaterstetten bei München hat die Kirche, während er an Corona erkrankt war, auch vermisst. Der frühere Richter hat sich sein Leben lang kirchlich engagiert. Als Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, dem obersten Laiengremium. Und als Mitgründer der Schwangerenberatung Donum Vitae.
Nun hätte Bayerlein selbst Hilfe nötig. Doch während sieben Wochen Isolation kommt kein Klinikseelsorger zu Besuch. Ob sie nicht dürfen oder es zu riskant finden, weiß er nicht. Und die Fernsehgottesdienste berühren ihn nicht:
"Ich war enttäuscht. Wenn du in wenigen Tagen vor dem höchsten Richter stehen wirst, fängst du an, dein Leben zu rekapitulieren: Was krumm war, was weniger krumm war. Und die Frage, was wird sein wenn? Da habe ich eigentlich keine echten Antworten bekommen. Ich habe Antworten bekommen, die banal waren, floskelhaft: Nach dem Tod ist alles gut, das Jammertal ist zu Ende und so. Oft habe ich mir gedacht, wenn einer bestimmt gesagt hat, dass alles gut wird: Woher weiß er das eigentlich?"
Nur einmal habe ihn die Fernseh-Predigt eines Bischofs überzeugt, der sagte: "Genau genommen wissen wir eigentlich so gut wie nichts. Aber wir hoffen alles. Das wär’s eigentlich gewesen."
"Kirche hat die Menschen alleingelassen"
"Die Kirche hat in dieser Zeit Hunderttausende Menschen alleingelassen. Kranke, Einsame, Alte, Sterbende." Diesen Vorwurf erhob im Mai Christine Lieberknecht, die frühere CDU-Ministerpräsidentin von Thüringen.
Auch auf andere wirkten kirchliche Akteure zu Beginn der Pandemie über Wochen wie erstarrt. Die Kirchen hätten die massiven Eingriffe in die Ausübung der Religionsfreiheit mehr oder weniger klaglos akzeptiert, stellte der evangelische Theologe Ulrich Körtner fest. Die Corona-Krise mache einen zunehmenden Bedeutungsverlust der Kirchen deutlich, so der Wiener Theologie-Professor.
Als die erste Infektions-Welle abflaut und das öffentliche Leben zurückkehrt, scheint es vielen, als würden hohe Kirchenvertreter ausschließlich um die Frage kreisen, unter welchen Bedingungen sie wieder Gottesdienste feiern und die Kommunion reichen können. Von Seelsorge in Altenheimen oder für Covid-Patienten war zunächst wenig die Rede.
Eine Spannung, die sich in der Pandemie nur schwer auflösen lässt: Seelsorge lebt von Nähe, Virenschutz von Distanz.
Thomas Kammerer ist Seelsorger am Münchner Uniklinikum Rechts der Isar. Wer wegen Covid-19 stationär behandelt wird, leide unter Isolation, einer ausgeprägten Todesangst und einem rapiden Krankheitsverlauf, so Kammerer. Klinikseelsorger wissen: Psychosoziale und spirituelle Bedürfnisse sind wichtig. Zum Gesundwerden ist mehr nötig als ein Beatmungsgerät, könnte man sagen. Und dann sind da noch die Familien der Erkrankten: Töchter, Söhne, Partnerinnen und Partner:
"Die Angehörigen leiden unter dem: Ich kann mir kein Bild machen. Ich war vielleicht noch nie in diesem Krankenhaus. Ich weiß nicht mal, wo in diesem großen Komplex mein Angehöriger verschwunden ist. Auch wenn ich nicht direkt zu ihm könnte, würde es schon helfen, wenn ich ungefähr wüsste, da hinter diesem Fenster liegt er."
Es gibt zahllose Seelsorgerinnen und Seelsorger wie Thomas Kammerer, die sich in diesem Pandemie-Jahr um die Betroffenen kümmern – abseits von Schlagzeilen und Scheinwerfern. Seelsorger im Schutzanzug, die Corona-Kranke zuhause besuchen. Seelsorgerinnen, die hartnäckig mit den Gesundheitsämtern verhandeln, damit sie zu den Isolierten in Pflegeheimen gehen dürfen. Und viele tausend Freiwillige, die für alte Menschen einkaufen. Oder ihnen technisch helfen, damit sie die geliebten Enkel wenigstens per Video sehen können.
Seelsorge ist "systemrelevant"
In der Krise kommt plötzlich ein Begriff auf, den normalerweise kein Mensch im Alltag sagen würde: "systemrelevant". Dazu zählen natürlich Ärztinnen und Pfleger. Außerdem Angestellte im Supermarkt, Bus- und Bahnfahrer. Pfarrer Thomas Kammerer sagt, neben der Virologie leiste in der Pandemie auch die Seelsorge einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag. Sie sei deshalb ebenfalls "systemrelevant":
"Wir wissen ja gar nichts. Und dieses Nichtwissen ist natürlich für uns Seelsorger unser Metier. Da wo man nicht sicher sein kann, wo man sich mit dem nicht Machbaren, dem nicht Kontrollierbaren befasst, da kommen spirituelle Aspekte nach oben. Was macht es mit einer Gesellschaft in dieser Zeit, in der nichts mehr normal ist und in der immer unwahrscheinlicher wird, dass wir zur früheren Normalität zurückkehren werden."
Die evangelische Regionalbischöfin Petra Bahr ergänzt:
"Gleichzeitig merkt man, dass immer mehr Menschen, je länger diese Pandemie dauert, vor dem Eindruck individueller Aussichtslosigkeit stehen. Sie können viele ihrer Lieben nicht treffen. Sie haben keine Ahnung, wie’s weitergeht, ökonomisch, mit ihrem Beruf, aber auch mit der Zukunft ihrer Kinder. Es gibt auch erste Untersuchungen von anderen Großstädten in der Welt, dass die Zahl der Depressionen und der Menschen, die das Gefühl haben, gar keine Zukunft mehr zu haben, enorm wächst. Und es ist eine große seelsorgerliche Aufgabe, auch für die Kirchen, zumal Seelsorge ja in der Regel im Einzelgespräch geschieht."
Merklich mehr Anrufe bei Telefonseelsorge
Die Gespräche, in denen es um depressive Stimmung und Suizidgedanken gehe, hätten im Vergleich zum Vorjahr merklich zugenommen, heißt es bei der Telefonseelsorge. Sie wird von der evangelischen und der katholischen Kirche gemeinsam getragen. Im Sommer, als sich weniger Menschen mit Corona infizierten und die Lage entspannter wirkte, sei die Zahl der Anrufe leicht zurückgegangen. Mit der zweiten Welle sei sie wieder deutlich gestiegen. An den Telefonen sitzen bundesweit sechseinhalbtausend Freiwillige. Sie führen jeden Monat mehr als 100.000 vertrauliche Telefonate.
Damit niemand eine Anruferin, einen Anrufer zufällig im Radio wiedererkennt, sind die folgenden Gesprächsinhalte anonymisiert nacherzählt.
"Eine Anruferin, von der ich weiß, dass sie 86 ist. Die verwitwet ist schon einige Jahre und kinderlos."
Ulrike Dahme ist die stellvertretende Leiterin der katholischen Telefonseelsorge im Erzbistum München-Freising. Wir sprechen mit ihr Mitte November. Sie will den Menschen eine Stimme geben, die über die vielen Monate der Pandemie hinweg immer wieder in Vergessenheit gerieten. Dazu hat sie aus mehreren Anruferinnen, die sich regelmäßig melden, ein Beispiel konstruiert.
Die Frau kam in den 80er Jahren mit ihrem Mann nach München. Familie und Jugendfreunde ließ sie hinter sich. Bis ins Alter hinein habe sie immer auf ihr Äußeres und ihre körperliche Fitness geachtet.
"Und jetzt ist es so, dass sie zusehends gebrechlich ist. Es war schon die letzten zwei, drei Jahre so, dass ich gemerkt habe: Oh je, oh je, es wird jetzt echt schwieriger. Und hatte schon immer versucht, sie irgendwohin zu kriegen, dass sie Kontakt aufnimmt. Sie wollte eigentlich mal in ein Alten- und Servicezentrum gehen. Dann kam Corona, und dann ist sie nicht mehr hin."
Die 86-Jährige habe große Angst davor, sich mit dem Virus zu infizieren, sagt Telefonseelsorgerin Ulrike Dahme. Deshalb verlasse sie kaum noch das Haus, nicht mal um spazieren zu gehen.
"Also lieber zieht sie sich noch weiter zurück. Ganz schrecklich. Und jetzt kippt es zusehends in den Telefonaten, dass sie sich so gar nicht gesehen, also übersehen fühlt. Dass sie den Eindruck hat, um alle geht es jetzt. Aber uns vielen Alten, wir interessieren eh nicht. Und das verbittert sie auch so ein bisschen."
Rituale geben Halt
Klöster erscheinen gemeinhin als Anker der Stabilität – auch in Zeiten der Ungewissheit. Seit Jahrhunderten versammeln sich die Benediktiner Tag für Tag zum Stundengebet. Während der Pandemie könnten Rituale den Menschen Halt geben, sagt Johannes Eckert, Abt der bayerischen Klöster Sankt Bonifaz und Andechs: "Es gibt einen alten Mönchsspruch, der lautet: ‚Brüder haltet die Ordnung, und die Ordnung wird euch halten.‘"
Was den Benediktinern hilft, ihren Alltag im Sinne ihres Ordensgründers und seiner Regel zu ordnen, davon können sich andere vielleicht etwas abschauen: Familien, deren gewohntes Leben aus der Bahn geraten ist. Alleinlebende, denen ihre Mitmenschen fehlen. Als Seelsorger treibt Johannes Eckert die Frage nach dem Sinn von Krankheit und Leid um. Unter bekennenden Christen gibt es einzelne, die die Pandemie als "Strafe Gottes" betrachten: "Ich kann da schwer von Strafe sprechen, denn dann müsste ich das auch tun, wenn ein Mensch schwer erkrankt. Ich glaube, es ist weniger die Frage nach dem Warum als nach dem Wozu. Wie können wir daran reifen."
Dennoch könne die Krise Menschen in ihren religiösen Grundfesten erschüttern, sagt der Benediktiner: "Der Zweifel gehört wesentlich zum Glauben dazu. Glaube ist ja nicht etwas: Jetzt hab ich’s! Sondern Glaube ist eine lebendige Beziehung zu meinem Gott. Wenn jemand schwer krank wird, oder wenn jetzt jemand vor existenziellen Nöten steht und spürt, ich fühle mich von meinem Gott allein gelassen, dann gehört der Zweifel wesentlich dazu."
Neben Ritualen, die Stabilität geben könnten, rät Abt Eckert zu einem differenzierten Blick auf die gegenwärtige Situation: "Sich zu schulen, das Gute zu sehen bei all dem, was es auch an Schlimmem gibt. Vielleicht ist das eine Überlebensstrategie, damit man nicht verbittert."
"Die Pandemie legt Wunden offen, die schon längst bluten"
Kurz vor Jahresende sprechen wir noch einmal mit Petra Bahr, Regionalbischöfin in Hannover und Mitglied im Ethikrat. Es geht um die andauernden Einschränkungen. Und um Einsamkeit, die allerdings kein neues Phänomen sei:
"Man könnte auch sagen. Die Pandemie legt diese Wunde überhaupt offen, die schon längst blutet. Es ist nicht so, dass die Pandemie Einsamkeit allererst erzeugt hat, sondern sie wird deutlich sichtbarer. Wer alleine lebt, hat eben nicht diesen natürlichen Zusammenhang, wo Berührung, Gesten, Zuwendung durch eine Stimme – etwas, was wenn man es hat, gar nicht hoch genug achten kann – fehlt."
Aber auch viele, die nicht allein sind, merken über die lange Dauer der Pandemie, dass sie dünnhäutig werden.
"Man kann die anderen nur lieben und auch ertragen in dieser Situation, wenn man sich selbst noch liebt. Das heißt, wenn man sich auch Zeit für sich nimmt, sich mit seinen Ängsten auseinandersetzt, sich aber einfach auch ablenkt. Sich was Gutes tut: Der tägliche Spaziergang durch den Wald oder durch den Kiez. Das Musikstück, was man am liebsten hört. Die Mahlzeit, die man am liebsten isst. Das Buch, was man liest."
Niemand kann absehen, wie sich die Situation im kommenden Jahr entwickelt. Mit der Ungewissheit zu leben, gelinge jenen besser, die nicht dauernd auf die Corona-Zahlen starren, ist die evangelische Theologin Petra Bahr überzeugt:
"Man ist die ganze Zeit dabei, sich mit apokalyptischen Diagrammen zu beschäftigen. Und das führt dazu, dass man über diese Diagramme hinweg gar nicht in die Zukunft sieht. Sondern nur noch sieht, was gerade alles schrecklich ist. In Wahrheit geht das Leben natürlich auch mit seinen schönen Sachen weiter."
Körperliche und seelische Gesundheit – beides gehört zum menschlichen Wohlbefinden. Walter Bayerlein, der mit Mitte 80 schwer an Covid erkrankt war, erinnert sich an seine Zeit in der Klinik. Nachts, wenn er wach lag, habe er manchmal biblische Psalmen meditiert:
"Da heißt es: Wirf mich nicht weg, weil ich alt und schwach werde. Das, finde ich, ist ein toller Satz. Und dann heißt es: Wenn mein Leben zu Ende geht, dann reiße mich heraus aus jeder Angst."