Iquitos, eine chaotische Hafenstadt mitten in Perus Amazonasregion. Eine halbe Million Menschen drängen sich hier, das Leben spielt sich auf der Straße ab, die Infrastruktur ist prekär. Als hier im März die erste Corona-Infektion auftauchte, hatte man im regionalen Hospital kaum Information über die seltsame Krankheit aus China, erinnert sich der Infektiologe Dr. Juan Celis.
"Doch dann hat das Virus hier mit einer Geschwindigkeit eingeschlagen, die wir noch nie erlebt haben. Innerhalb von 15 Tagen ist hier das System kollabiert: Wir haben in unserem Krankenhaus, das insgesamt 220 Betten hat, 620 Patienten versorgt, auf dem Gang, in Büros, wo es eben ging. Personal erkrankte, Kollegen starben, irgendwann waren wir nur noch zehn oder zwölf Ärzte für 600 Patienten. Hier herrschte pure Verzweiflung."
Die "Infodemie" greift um sich
Auf der ganzen Welt wird damals fieberhaft nach möglichen COVID-19-Therapien gesucht – dabei gerät auch das Medikament Ivermectin in den Fokus: ein billiges, rezeptfreies Arzneimittel, das seit Jahrzehnten gegen Parasiten und Würmer eingesetzt wird. Ein präklinische In-Vitro-Studie aus Australien ließ vermuten, hohe Dosen Ivermectin könnten die Viruslast in Zellen verringern. Ein weiteres Pre-Print-Paper aus den USA macht die Runde, wird dann aber wegen falscher Datensätze zurückgezogen. Doch in vielen Ländern Südamerikas hieß es da bereits, Ivermectin sei ein Wundermittel gegen das Virus, sagt Patricia Garcia. Die renommierte Epidemiologin und ehemalige Gesundheitsministerin forscht zu globaler Gesundheit.
"In dieser Pandemie haben die sozialen Medien eine zentrale Rolle gespielt: Die 'Infodemie' war atemberaubend. Alle redeten von Ivermectin. 'Hast du gehört? Das hilft!' Selbst ein bekannter Journalist verbreitet das in seinem Radioprogramm und die Leute drehten durch, das war eine regelrechte Hysterie."
Am 8. Mai empfiehlt selbst das peruanische Gesundheitsministerium die Verwendung von Ivermectin zur Behandlung von COVID-19. Südamerika ist zu dieser Zeit der Hotspot der Pandemie und Peru eines der am härtesten betroffenen Länder: Es fehlt an Sauerstoff, an Personal, an allem. Auch Juan Celis klammert sich im Krankenhaus von Iquitos an jeden Strohhalm, sei es das Malariamittel Hydroxychloroquin oder das Anti-Parasitikum Ivermectin.
Nachweis der Wirksamkeit steht noch aus
"Nach einem Monat merkten wir schon, dass diese Medikamente nicht halfen, sondern eher zu mehr Verwirrung führten: Wenn jemand Herzrasen bekam oder Zittern, wussten wir nicht mehr, ob es vom Medikament kommt oder von COVID. Die Patienten nahmen das Medikament in ihrer Verzweiflung in viel zu hohen Dosen, völlig unkontrolliert, sie nahmen Ivermectin, das zum Gebrauch für Tiere gedacht ist, sie spritzten es sich. Evangelikale Missionare trugen es zu indigenen Gemeinden in Regenwald als angebliche magische Impfung."
Dabei gibt es nach wie vor keinen wissenschaftlichen Nachweis darüber, ob und wie Ivermectin gegen SARS-CoV-2 wirkt. Derzeit laufen, laut der Zeitschrift Nature, rund 40 klinische Studien weltweit – das Team um die Epidemiologin Dr. Patricia Garcia aus Lima leitet eine davon. Das Problem dabei: Erst bekam sie keine Finanzierung, jetzt findet sie nicht genug Teilnehmer:
"Von zehn Personen, die kamen, hatten acht bereits Ivermectin genommen und konnten nicht teilnehmen. Auch das Gesundheitsministerium unterstützt uns nicht. Es fehlt an Bewusstsein, wie wichtig Wissenschaft ist, selbst bei medizinischem Personal."
Die Beliebtheit des Mittels steht der Forschung im Weg
Erste Daten zum Wurmmittel liegen nun vor, aus kleinen klinische Studien aus Argentinien und Bangladesch. Sie seien ermutigend, jedoch noch nicht von Experten begutachtet, sagt Carlos Chaccour. Der venezolanische Forscher führt am Barcelona Institute of Global Health in Spanien selbst eine Pilotstudie durch:
"Das Problem ist für mich nicht, dass ein Arzt das Arzneimittel in Einzelfällen einsetzt, sondern dass es völlig ungeprüft Teil der öffentlichen Gesundheitspolitik wurde. Entscheidungen wurden aus politischen Gründen getroffen, nicht auf Basis von Evidenz."
Die Folgen sind weitreichend: Je mehr Menschen Ivermectin in Lateinamerika unkontrolliert einnehmen, umso schwieriger wird es, größer angelegte Phase-III-Studien durchzuführen, die verlässliche Daten darüber liefern, ob das Medikament eine COVID-19-Therapie unterstützen kann oder nicht.