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Coronaausbruch bei Tönnies
"Es trifft die Schwächeren in unserer Gesellschaft"

Mehr als 1.500 nachweislich Infizierte gibt es inzwischen unter der Tönnies-Belegschaft. Das sei kein kleiner Hotspot mehr, den man leicht unter Kontrolle bringen können, sondern ein bedrohliches Szenario, sagte Stephan Ludwig, Virologe an der Uni Münster, im Dlf.

Stephan Ludwig im Gespräch mit Niklas Potthoff |
21.06.2020, Nordrhein-Westfalen, Verl: Bewohner der abgesperrten Siedlung in Sürenheide gehen zurück zu ihren Wohnhäusern, gefolgt von Bundeswehr-Soldaten in Schutzanzügen und mit Mund-Nasenschutzmasken, um weitere Personen auf das Coronavirus zu testen. Die Stadt Verl hat nach positiven Corona-Tests bei zahlreichen Tönnies-Mitarbeitern im Stadtteil Sürenheide eine Quarantäne eingerichtet. Mehrere Mehrfamilienhäuser, in denen Werkvertragsarbeiter der Firma Tönnies leben, wurden unter Quarantäne gestellt. In den betroffenen drei Straßenzügen wohnen insgesamt knapp 670 Menschen. Foto: David Inderlied/dpa | Verwendung weltweit
"Die Testerei nützt so lange nichts, solange man die Bedingungen, unter denen Menschen miteinander in Kontakt kommen, nicht ändert", sagt der Virologe Stephan Ludwig (picture alliance / dpa / David Inderlied)
Nach dem Coronavirusausbruch beim Fleischkonzern Tönnies hat NRW-Ministerpräsident Armin Laschet strenge regionale Schutzmaßnahmen verhängt. Heute konferieren die Gesundheitsminister der Länder, um ein bundeseinheitliches Vorgehen abzustimmen. Vielerorts steigt die Sorge, ob nach den neuesten Ausbrüchen doch schon die zweite Welle droht. Die Situation werfe ein Schlaglicht auf die Wohn- und Arbeitsbedingungen - und es treffe eher die Schwächeren in unserer Gesellschaft, sagte Stephan Ludwig, Virologe an der Univeristät Münster.
Schlachtstraße in einem Schlachthof
Warum häufen sich Corona-Infektionen in Schlachthöfen?
In verschiedenen Schlachthöfen kam es zu einer starken Häufung von Corona-Infektionen. Die hohe Zahl Infizierter lenkt den Fokus auf die Arbeitsbedingungen in Schlachtbetrieben. Ein Überblick.

Das Interview in voller Länge:
Niklas Potthoff: Wie erklären sie sich einen so massiven Ausbruch wie in Gütersloh mit so hohen Zahlen in kurzer Zeit?
Stephan Ludwig: Das ist tatsächlich überraschend und das ist auch nicht zu erklären mit ein paar Leuten, die genug Geld angespart hatten, um dann nach Rumänien oder Bulgarien über das Wochenende zu fahren. Das muss einen anderen Hintergrund auch noch haben. Das muss man wahrscheinlich noch genau untersuchen. Was auch erschreckend ist, sind die hohen Zahlen. Wir haben jetzt eigentlich gedacht, dass wir in einer Phase sind, wo wir immer mal hier und dort einen Hotspot bekommen mit ein paar Infizierten, den man leicht kontrollieren kann. Infektionszahlen von 2.000 Menschen auf einmal, das ist kein kleiner Hotspot mehr, den man leicht unter Kontrolle bringen kann. Das ist schon ein ziemlich bedrohliches Szenario.
Schlaglicht fällt auf Bestimmte Wohn- und Arbeitsbedingungen
Potthoff: Jetzt gibt es ja zeitgleich Meldungen über einige neue Fälle in einem Berliner Wohnhaus und jetzt auch gerade in einem Schlachthof in Niedersachsen, natürlich noch niedriger. Sehen wir hier jetzt den Beginn der viel befürchteten zweiten Welle?
Ludwig: Das könnte man so sehen. Das war auch das, was viele Experten erwartet haben, dass man hier und da dieses Aufflammen sieht. Es wirft natürlich jetzt auch ein Schlaglicht auf bestimmte Wohn- und Arbeitsbedingungen, und das wirklich Schlimme ist, dass es jetzt wirklich auch die eher Schwächeren unserer Gesellschaft trifft. Die Rückkehrer aus den Skiurlauben, das waren ja eher die Begüterten. Die haben das Virus bei uns hier eingeschleppt, könnte man sagen. Jetzt sind wir da angekommen, wo es wirklich die Schwachen in der Bevölkerung trifft, und das ist keine schöne Entwicklung.
19.06.2020, Nordrhein-Westfalen, Rheda-Wiedenbrück: Mitarbeiter des Ordnungsamtes sprechen mit ausländischen Bewohnern einer Unterkunft, die im fleischproduzierenden Gewerbe arbeiten. Beim Schlachtereibetrieb Tönnies in Rheda-Wiedenbrück sind seit Anfang der Woche mehrere hundert Mitarbeiter positiv auf das Coronavirus getestet worden. Foto: Friso Gentsch/dpa | Verwendung weltweit
Das Schattendasein der Tönnies-Leiharbeiter
In und um die ostwestfälische Stadt Rheda-Wiedenbrück leben schätzungsweise 6.000 Schlachthof-Leiharbeiter in Sammelunterkünften. Genau weiß man es nicht, die Bewohner werden kaum je gesehen. Wie kann es sein, dass eine Stadt solchen Lebensbedingungen jahrelang zusieht? Besuch in einer Schattenwelt.
Zweifel an Saisonalität der SARS-CoV-2-Viren
Potthoff: Es wurde ja am Anfang gemutmaßt, nach der ersten Welle im Frühjahr habe man eventuell eine Verschnaufpause bis zum Herbst, auch wegen des Wetters. Jetzt diese neuen Fälle gerade in einer Art Hitzephase. Muss man diese Hoffnung jetzt begraben, dass man ein bisschen Ruhe hat bis zum Herbst?
Ludwig: Diese sogenannte Saisonalität der SARS-CoV-2-Viren, die wurde von den meisten Fachleuten schon immer angezweifelt. Während man bei den ersten Maßnahmen des Lockdowns gesehen hat, dass die normalen grippalen Infekte oder auch die Grippeviren mit einem Schlag quasi beendet werden konnten, hat sich das SARS-CoV-2-Virus, die Covid-19-Erkrankung, doch wacker gehalten, auch in die warmen Tage rein. Es ist nicht diese Art von Saisonalität, die wir beispielsweise bei Grippe sehen. Das könnte im Umkehrschluss bedeuten, dass es dann auch im Winter oder im Herbst, wenn es kühler wird, nicht so schlimm kommt, wie das beispielsweise bei einer Grippewelle passieren kann, aber das ist im Moment auch alles eher auf der Ebene der Hoffnung als auf der Ebene des Wissens.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Potthoff: Man war ja in den letzten Wochen scheinbar auf einem guten Kurs. Jetzt kommt dieser Fall Gütersloh. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat die Reaktion auf den Virusausbruch in der Tönnies-Fabrik als zu zögerlich bezeichnet und gemeint, das Virus sei vermutlich schon seit Wochen in und um Gütersloh, nur so seien diese Fallzahlen zu erklären. Hätte auch Ihrer Meinung nach hier schneller drastisch reagiert werden müssen?
Ludwig: Ich finde diese ganze Geschichte äußerst ärgerlich, weil Herr Tönnies ja bei der ersten Welle, die wir damals in den Westfleisch-Betrieben hatten, noch laut frohlockt hat vor Kameras, dass man hier Dinge nicht über einen Kamm scheren dürfe und dass bei ihm alles in Ordnung sei. Wie man sieht, ist überhaupt nichts in Ordnung gewesen. Man hat da Tests gemacht, aber die Tests allein genügen ja nicht. Man weiß ja, dass es die Arbeitsbedingungen, Wohnbedingungen der Angestellten dort sind, und man hätte da tatsächlich viel eher was ändern müssen. Die Testerei nützt so lange nichts, solange man die Bedingungen, unter denen Menschen miteinander in Kontakt kommen, nicht ändert. Das wäre quasi angesagt gewesen auch bei Tönnies, dass man in wohlweißlicher Sicht, was da passieren kann, da schon was ändert, aber das ist natürlich nicht passiert.
Konstantin Kuhle (FDP), Bundestagsabgeordneter und Beisitzer im Bundesvorstand seiner Partei, spricht während einer Sitzung des Deutschen Bundestages im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes.
Kuhle (FDP): Lockdown "so lokal und regional wie möglich" halten
Lokale Corona-Schutzmaßnahmen in den Kreisen Gütersloh und Warendorf – für FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle sind sie "der richtige Weg". Die Beschränkungen örtlich noch weiter auszuweiten, wäre nicht mehr verhältnismäßig, sagte er im Dlf.
Arbeitsbedingungen – "kalt, feucht und laut"
Potthoff: Jetzt weiß man ja auch um die schwierigen Wohnbedingungen in der Fleischverarbeitung. Was ist denn an den Arbeitsbedingungen so problematisch, dass es so schnell zu einer steigenden Fallzahl kommen kann?
Ludwig: Da kann man mit drei Begriffen antworten. Das ist kalt, feucht und laut. Man hat da eine kalte feuchte Luft und das trägt dazu bei, dass sich die Viren da ganz gut in dieser feuchtigkeitsgeschwängerten Luft halten können. Kälte ist ja sowieso etwas, was die Viren stabilisiert. Und dann ist es in diesen Firmen so laut, dass sich die Mitarbeiter quasi nur schreiend unterhalten können. Wir wissen ja von schreien und singen und laut sprechen, dass wir da sehr viel mehr Aerosole und auch Tröpfchen ausstoßen. Da kommt es bei der beengten Arbeitssituation natürlich sehr leicht zu einer Übertragung.
"Virus bleibt mysteriös und schon ein bisschen unberechenbar"
Potthoff: Im März zu Beginn der Ausbreitung des Virus in Europa, da meinten Sie noch in einem Interview, Covid-19 sei ein neues Virus, aber beherrschbar, und da ging es auch noch viel um den Vergleich zum Influenza-Virus. Zu dem Zeitpunkt war noch wenig bekannt von Covid-19. Wie hat sich Ihr Bild persönlich von dem Virus in den letzten drei Monaten verändert?
Ludwig: Man kann es nach wie vor mit einer schweren Influenza-Pandemie vergleichen. Ich meine da nicht die Pandemie von 1918, sondern eher die dann etwas später im letzten Jahrhundert stattgefundenen Pandemien. Da haben wir ähnliche Fallzahlen, ähnliche schwere Verläufe gehabt. Das Bild des Virus hat sich für mich insofern geändert, dass es anscheinend doch nicht so berechenbar ist. Es gibt viele, viele offene Fragen, die Fragen, warum einige Menschen überhaupt keine Symptome haben, andere wiederum sehr, sehr schwer infiziert werden, sehr, sehr schwere Verläufe haben, und dass das auch nicht nur begrenzt ist auf die ältere Bevölkerung. Es gibt da extrem viele Fragen, die wir noch beantworten müssen in der Wissenschaft, und insofern bleibt das Virus mysteriös und in gewisser Weise dann schon ein bisschen unberechenbar.
Potthoff: Und auch unberechenbarer als das Influenza-Virus in diesen Vergleichen?
Ludwig: Das Influenza-Virus kennen wir jetzt schon sehr, sehr lange. Das wurde isoliert 1933. Da kannte man dann den Erreger tatsächlich schon. Auch 1918 hat man schon von dem Grippe-Erreger geredet. Man wusste zwar nicht, um was es sich da genau handelt, aber man wusste, dass es ein infektiöser Erreger ist. Seit dieser Zeit wird ja extrem intensiv geforscht. Das Grippevirus kennen wir ziemlich gut. Auch da gibt es immer mal wieder Überraschungen, wie beispielsweise das Vogelgrippe-Virus oder dann auch dieses pandemische Virus von 2009, das sehr ungewöhnlich hinsichtlich seiner Genomstruktur zusammengesetzt ist, aber bei dem Corona-Virus ist vieles neu. Das ist auch nicht vergleichbar mit dem ersten SARS-Corona-Virus oder dem MERS-Corona-Virus. Da sind viele Dinge, die ganz speziell sind für diesen neuen Erreger, und das muss erst intensiv erforscht werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.