"Irgendwie fühlt man sich wie ein Versuchskaninchen. Alles hat geschlossen und wir sind die ersten, die wieder rausdürfen oder müssen. Man fühlt sich wirklich wie eine Testperson."
Isabelle Vogt schreibt heute ihre erste Abiprüfung im Fach Musik, Leistungskurs. Um 9 Uhr geht es los, am Rheingaugymnasium in Berlin-Friedenau. Sehr viel mehr weiß ich nicht, sagt die 17-Jährige. Sie wirkt verunsichert.
"Es ist eine ziemlich wichtige Prüfung. Die bisher wichtigste in unserem Leben. Und gleichzeitig muss man auf so viele Dinge achten. Ich weiß auch nicht, das uns da erwarten wird."
Protestbriefe brachten nichts
Isabelle Vogt hat in den letzten Wochen eine ganze Reihe von Briefen geschrieben. An die Bundesbildungsministerin, an Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres, an Schulminister anderer Bundesländer. Unverantwortlich sei es, derzeit Abiprüfungen durchzuführen. Ungerecht denjenigen gegenüber, die in den letzten Wochen keine Gelegenheit hatten, sich ordentlich vorzubereiten.
"Ich hab noch Glück, ich hab jetzt keine Geschwister zuhause, aber es gibt ja Großfamilien, Abiturienten, die sich um ihre Geschwister kümmern müssen, die Bibliotheken haben zu, viele wollten mit ihren Freunden zusammen lernen, das finde ich einfach nicht fair."
Anerkennung des Abiturs in allen Bundesländern
Ähnlich wie Isabelle Vogt haben Elternvertreter argumentiert, Schulleiter und auch die Bildungsgewerkschaft GEW. Schleswig-Holstein hatte schon angekündigt, die Abiprüfungen abzusagen, musste nach Beschluss der Kultusministerkonferenz diese Entscheidung aber wieder zurücknehmen. Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres, SPD.
"Hintergrund ist es, dass wir hier eine einheitliche Regelung benötigen, damit die Abiturabschlüsse auch wirklich in allen Bundesländern anerkannt werden. Also für unsere jungen Menschen in Berlin ist es wichtig, dass sie überall im Land und auch in anderen Ländern studieren können und keine Einschränkungen erfahren. Und deshalb ist dieser zentrale Weg der Kultusministerkonferenz sehr sehr wichtig."
Mangelnder politischer Wille?
Doch: Hätten die Kultusminister nicht einfach vereinbaren können, das Abitur gegenseitig anzuerkennen, auch ohne Prüfungen? Dieser Ansicht ist die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Ilka Hoffmann, verantwortlich für den Bereich Schule in der GEW.
"Zwei Drittel der Zensuren stehen durch die Kursnoten schon fest. Es geht um ein Drittel. Und wir wissen aus vielen Studien, dass sich die Noten gar nicht mehr wesentlich verändern durch diese Prüfung. Eine saubere Entscheidung wäre gewesen: Wo sie gelaufen sind, da sind sie gelaufen, ansonsten werden sie nicht durchgeführt, die Noten als Durchschnitt ermittelt und gegenseitig anerkannt. Das hat einfach etwas mit dem politischen Willen zu tun."
Berliner Abiturienten zogen vor Gericht
Einige Berliner Abiturienten versuchen auf gerichtlichem Wege, die Prüfungen noch zu stoppen. Eine erste Entscheidung des Verwaltungsgerichts Ende letzter Woche fiel negativ aus – die Richter entschieden: Die Klägerin muss teilnehmen, die Durchführung der Prüfungen sei unter seuchenrechtlichen Gesichtspunkten zulässig, denn den Schulen seien eine ganze Reihe von Schutzmaßnahmen vorgeschrieben worden. Nur acht bis zehn Prüflinge in einem Klassenraum, der Mindestabstand von 1,5 Metern muss eingehalten werden, der Aufenthalt in Gruppen ist in jedem Fall untersagt. Schade, sagt Isabelle Vogt, die nach ihrem Abi gerne Schauspiel studieren möchte. So gerne würde ich meine Freundinnen umarmen.
"Dieses Social Distancing schafft so eine Kühle und so eine Anspannung. Noch dazu die ganzen Informationen abrufen und dabei die ganze Zeit denken, oh Gott, wer im Raum hier könnte infiziert sein oder könnte ich sogar jemanden anstecken, ohne dass ich es weiß."
Die Berliner Abiturientin ist überzeugt: Diese Abiprüfungen sind eine Zumutung.