Vor rund vier Jahrzehnten, im Jahr 1979, wurde der Faxdienst von der damals staatseigenen Deutschen Bundespost eingeführt. Im Verlauf der 1980er-Jahre wurde die Fernkopie in allen Büros heimisch. Heute im Jahr 2020 ist das Faxgerät immer noch Standard in vielen Gesundheitsämtern. Das Robert-Koch-Institut erhält die Infektionszahlen erst einige Tage später. Die Coronakrise zeigt in vielen Bereichen die digitalen Schwachstellen der Bundesrepublik. Schulen, Behörden, der öffentliche Sektor insgesamt arbeiten häufig analog, haben den Anschluss an das digitale Zeitalter scheinbar verpasst.
Nun zwingt die Pandemie zum Umdenken. Homeoffice, Skype-Konferenzen, Online-Unterricht sind das Corona-Gebot der Stunde. Deutschland und die Digitalisierung, darüber redet der Deutschlandfunk mit Lena-Sophie Müller. Sie ist Geschäftsführerin der Denkfabrik Initiative D21, Netzwerk für die digitale Gesellschaft.
Nun zwingt die Pandemie zum Umdenken. Homeoffice, Skype-Konferenzen, Online-Unterricht sind das Corona-Gebot der Stunde. Deutschland und die Digitalisierung, darüber redet der Deutschlandfunk mit Lena-Sophie Müller. Sie ist Geschäftsführerin der Denkfabrik Initiative D21, Netzwerk für die digitale Gesellschaft.
Stefan Heinlein: Ist die Pandemie eine Art Weckruf für die Digitalisierung in Deutschland?
Lena-Sophie Müller: Ja, das kann man ein Stück weit so sagen. Was wir aktuell sehen ist, dass die Menschen und die Institutionen, die sich der Digitalisierung schon früh geöffnet haben, die dem Ganzen offen gegenüberstanden, die konnten sich jetzt relativ schnell an die neue Situation anpassen und sie auch zu ihrem Vorteil nutzen. Die Menschen, die bisher wenig Routine mit digitalen Themen hatten, die standen einfach vor sehr großen Herausforderungen. Das ging los damit, wie erreiche ich zum Beispiel meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie erreiche ich Familienmitglieder, wenn ich sie nicht mehr persönlich sehen kann, wie kann ich Dokumente digital zur Verfügung stellen, wo sind überhaupt die notwendigen Geräte. Wenn die einfach nicht vorhanden waren, dann stand man da wirklich erst mal noch am Anfang und musste erst mal sehr schnell seine Hausaufgaben machen.
Heinlein: Hat die Pandemie auch die Schwachstellen unseres Landes im Bereich der Digitalisierung gnadenlos öffentlich gemacht?
Müller: Richtig. Wir haben einfach gesehen, dass an vielen Stellen zu wenig strategisch an dieses Thema herangegangen wird, dass die infrastrukturellen Voraussetzungen nicht geschaffen wurden, dass aber auch die Kompetenzen zum Beispiel bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht frühzeitig durch Weiterbildung, Fortbildung, durch tägliche Routine vorhanden waren, aber auch, dass an vielen Stellen rechtliche Rahmenbedingungen oder auch Themen der IT-Sicherheit einfach noch keine innige Praxis war. Das musste jetzt nachgeholt werden und deswegen ist das in der Tat ein Weckruf, den die Corona-Krise da in Punkte Digitalisierung mit sich gebracht hat.
"Sind denn zum Beispiel die ganzen Akten schon digitalisiert?"
Heinlein: Können Sie das noch ein wenig schildern, Frau Müller? In welchen Bereichen gibt es hier in Deutschland die größten digitalen Defizite? Ist es vor allem der öffentliche Sektor?
Müller: Eigentlich kann man sagen, es betrifft alle Bereiche. Aber ein großer Bereich ist zum Beispiel das ganze Thema des digitalen Arbeitens. Alle Branchen waren vor die Herausforderung gestellt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jetzt Distanzregeln einhalten sollten. Das heißt, sie sollten aus dem Homeoffice arbeiten, da wo das möglich war, und es musste erst mal sichergestellt werden, wie können sie auf Daten zugreifen, haben sie die notwendigen mobilen Geräte, Laptops oder Tablets, PCs zur Verfügung gestellt, sind diese Geräte dann auch so, dass sie sicher sind, haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die notwendigen Kompetenzen, um diese Geräte so auch zu bedienen. Das ist ein großer Bereich.
Sie sprachen den öffentlichen Sektor an. An vielen Stellen ist natürlich auch immer die Frage, sind denn zum Beispiel die ganzen Akten, die Informationen, die Prozesse intern schon digitalisiert, um sie dann auch wirklich virtuell an die Menschen draußen als Angebot machen zu können. Da sind zwar in der Vergangenheit auch Schritte gegangen worden, dass zum Beispiel Gesetzesveränderungen gefasst werden, dass man jetzt Dienste über das Internet nutzen kann, aber da sind wir einfach nicht weit genug.
Heinlein: Sie haben es bereits angedeutet, aber was sind die Gründe, dass Deutschland im internationalen Vergleich, aber auch im europäischen Vergleich zu den baltischen Ländern, die da immer gerne angeführt werden, immer noch eher ein digitales Entwicklungsland ist?
Müller: Im Vergleich zu den baltischen Ländern haben wir zum Beispiel in Deutschland die Situation: Wir hatten gar nicht so viele Umbrüche, dass wir von null gestartet sind, sondern in Deutschland hat sich sehr viel einfach immer in kleinen Schritten entwickelt. Und das muss man auch sagen, dass in Deutschland vieles auch lange Zeit sehr, sehr gut lief. Wir haben ein sehr gutes Bildungssystem und ein sehr gutes Gesundheitssystem und auch ein gutes System der öffentlichen Verwaltung. Aber wo wir dann einfach ein bisschen faul geworden sind, ist mit dem Schritt der Digitalisierung mitzugehen und die notwendige Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Viele Schulen haben bis heute keinen Zugriff auf WLAN und keinen Zugriff auf das Internet. Lehrer sind an vielen Stellen einfach gar nicht mit Dienstgeräten oder mit E-Mail-Adressen ausgestattet – alles Dinge, die eigentlich heute zum Standard gehören sollten, wenn man digital arbeiten möchte. Da haben wir einfach Versäumnisse gemacht, die müssen wir dringend jetzt nachholen.
Heinlein: Wir sind zu faul geworden, zu träge, zu satt. Zwingt jetzt die Pandemie Politik, Gesellschaft, Unternehmen, die Wirtschaft insgesamt, rascher voranzuschreiten mit der Digitalisierung?
Müller: Ja. Corona ist ein Weckruf, was die Digitalisierung angeht, und vor allem müssen wir uns bewusst machen, was Digitalfragen angeht: Die Herausforderungen, vor denen wir jetzt in der Coronakrise stehen, die sind eigentlich noch sehr klein im Vergleich zu den Herausforderungen, die mit dem digitalen Wandel noch auf uns zukommen. Ich denke dabei daran, wenn künstliche Intelligenz in die Unternehmen Einzug hält. Das wird zu einer Veränderung der Arbeitsweisen führen. Bestimmte Aufgaben, die vorher nur von Menschen übernommen werden konnten, können zukünftig von Maschinen übernommen werden. Das wird zu Umschichtungen, zu Aufgabenverteilungen in den Betrieben führen. Denken Sie daran, wie wir immer stärker mit Daten arbeiten müssen. Das ist übrigens etwas, was wir jetzt in der Corona-Pandemie auch gesehen haben. Wir haben uns stark immer an den Daten orientiert, an den neuen Zahlen, die reinkamen. Diese datenorientierte Denkweise muss auch in den Unternehmen noch viel stärker Einzug halten. Das erfordert aber auch, dass wir dafür die richtigen Fachkräfte haben, dass wir genügend Nachwuchskräfte ausbilden, und das ist dann immer ein bisschen eine Kettenreaktion. Das heißt, wir müssen ganz stark auch an Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungssysteme denken.
"Wir müssen sehen, dass es diese digitalen Spaltungen gibt"
Heinlein: Das ist ein ganz wichtiges Stichwort, denn Digitalisierung, das macht ja auch vielen Menschen Angst. Sie haben Sorge, zurückgelassen zu werden. Wie groß ist, Frau Müller, tatsächlich die Gefahr, dass Teile unserer Gesellschaft überfordert sind mit der Digitalisierung? Schon jetzt sind ja gerade viele alte Menschen abgehängt von vielen Entwicklungen.
Müller: Da sprechen Sie einen ganz wichtigen Punkt an. Eines unserer Ziele bei der Initiative D21 ist, dass die Digitalisierung das Leben aller Menschen besser macht, und die Herausforderung ist in der Tat, dass nicht alle Menschen in gleicher Form von der Digitalisierung profitieren können. Wir erheben das jährlich mit einer Studie, wo wir sehen, dass besonders die Menschen zum Beispiel mit niedriger Bildung eine deutliche digitale Spaltung haben. Sie können nicht so stark von diesen Veränderungen profitieren, können sich nicht diese ganzen neuen Jobs erschließen, die da vielleicht auch entstehen. Gerade ältere Menschen, auch da ist es so, dass sie viel weniger Zugang zum Internet, zu den neuen Diensten haben. Da ist es nicht so, dass dann einfach gesagt wird, wenn ich jetzt nicht mehr in den Supermarkt gehen kann, dann bestelle ich mir das einfach online, weil ihnen diese Welt bisher noch gar nicht zugänglich ist.
Das heißt: Was muss da gemacht werden? – Wir brauchen einen Blick dafür. Wir müssen sehen, dass es diese digitalen Spaltungen gibt. Wir müssen sie strategisch angehen. Bei älteren Menschen heißt das zum Beispiel Hilfsangebote schaffen, dass man zum Beispiel auch telefonische Hotlines hat, wo man was bestellen kann, jetzt gerade in dieser Pandemie. Das heißt aber auch für all die Menschen, die schon digitalaffin sind und die da schon weiter sind, immer auch mal ins Umfeld zu schauen und zu schauen, wo kann man eigentlich Hilfeleistung machen, Dinge erklären und diese Menschen dann letztlich auch mitnehmen.
Heinlein: Sie haben es beschrieben: Die Pandemie hat ja in manchen Bereichen die Digitalisierung beschleunigt, oder wir sind auf dem Weg in Richtung Digitalisierung. Hat damit die Pandemie die digitale Spaltung in unserer Gesellschaft, die Sie gerade beschrieben haben, weiter vertieft?
Müller: Ja. Es ist in der Pandemie jetzt in der Tat die Situation, dass die Menschen, die der Digitalisierung gegenüber schon offen waren, die konnten davon sehr viel stärker profitieren. Sie konnten den Kontakt mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über Videokonferenzen halten. Zum Beispiel konnten sie über Kooperations-Tools gemeinsam an Dokumenten arbeiten, oder auch im Privaten konnte man sich mit den Großeltern zum Beispiel über Videokonferenzen austauschen und so den Kontakt halten. Das hat ja auch immer eine zwischenmenschliche Komponente.
Die, die das nicht können, waren aber an vielen Stellen jetzt abgeschlossen und abgehängt, und das hat man vor allem gesehen zum Beispiel bei älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oder bei den Menschen, die in Altersheimen etwa sind, wo einfach der Kontakt fehlt und dann auch diese Interaktionen. Da müssen wir wirklich aufpassen, dass man da jetzt nach der Krise weiter einen ganz starken Blick drauf hat, um diese Spaltung wieder stärker zu schließen.
Die, die das nicht können, waren aber an vielen Stellen jetzt abgeschlossen und abgehängt, und das hat man vor allem gesehen zum Beispiel bei älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oder bei den Menschen, die in Altersheimen etwa sind, wo einfach der Kontakt fehlt und dann auch diese Interaktionen. Da müssen wir wirklich aufpassen, dass man da jetzt nach der Krise weiter einen ganz starken Blick drauf hat, um diese Spaltung wieder stärker zu schließen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.