Was macht eigentlich die Einheit einer Gesellschaft aus? Eine gemeinsame Sprache, eine geteilte Kultur, ein Glauben oder Grundwerte, die eine Mehrheit verbinden? Auch wenn sie sich sonst ziemlich uneins ist. Das Aufweichen solcher kulturellen Gemeinsamkeiten – sei es nun die eine Landessprache oder die "christlich‑abendländischen Werte" – haben die Gesellschaft vielfältiger gemacht, aber auch stärker segmentiert. Aber selbst unterschiedliche Sprachen, soziale Codes, Religionszugehörigkeiten, Wertsysteme und Interessen verhindern nicht die Diskussion darüber, was man als Gesellschaft will, was man duldet und was nicht. Und was überhaupt als politisches Problem wahrgenommen und diskutiert werden kann.
"Der französische Philosoph Jacques Rancière hat argumentiert, dass genau in diesem 'Unvernehmen' Politik besteht. Sie ist nicht das Lösen von Problemen, sondern besteht im ständigen Streit darüber, was überhaupt ein Problem sei, wer mitreden darf, welche Interessen repräsentiert werden müssen. So divers und kontrovers eine Gesellschaft sein mag, muss sie doch, um überhaupt streiten zu können, eines teilen: einen Konsens darüber, was als wirklich anerkannt wird und was nicht", schreibt Eva Horn in einem Essay der "Berliner Zeitung", den sie für den Deutschlandfunk weiterdenkt.
Eva Horn, geboren 1965 in Frankfurt am Main, studierte Literaturwissenschaften und Philosophie unter anderem in Bielefeld, Konstanz und Paris. Sie ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Wien. 2007 erschien "Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion". Im Herbst 2019 veröffentlichte sie ihr Buch "Anthropozän zur Einführung".
Im August 2020 bekam ich von einem alten Freund aus New York eine Email. Er hatte mir zum Geburtstag gratuliert und ich hatte zurückgefragt: "Wie war der Lockdown in New York für dich? Und ist bei dir sonst alles OK?"- Ich bekam folgende Antwort:
"Liebe Eva,
alles bestens. Ich hab sowieso nie an diese Geschichte geglaubt. Ich hab seit 2016 Kontakt mit einer Gruppe, die den ganzen Nonsense hinter dieser Hexenjagd gegen Trump entlarvt. Erst waren wir gegen Trump wie alle anderen auch, und dann haben wir das eigentliche Problem gefunden. Alles, was die Linke gegen Trump vorbringt, hat sie selbst doch schon längst gemacht! Oder macht es gerade. Ich verstehe deine Haltung zu diesem Thema oder zum sogenannten 'Klimawandel' oder was sonst an den Universitäten so für progressiv gehalten wird. Die 'Black Lives Matter'-Bewegung ist marxistisch wie ihre Gründerin Patrisse Cullors zugibt. Ich hab nie eine Maske getragen und weigere mich, bei diesem Unsinn mitzumachen. Das ist etwas, vor dem ich seit Jahren gewarnt habe und es heißt 'Agenda 21'. Aber die sogenannten Intellektuellen werden sich da nie dranwagen. Wenn sie es täten, würden sie ja ihre tollen Dauerstellen verlieren oder sowas. Kurz gesagt ist das ein großes Gebräu von Schwachsinn, das große Tiere wie Bill und Melinda Gates zusammengerührt haben. Die sind ja aus Indien rausgeflogen, weil sie Hunderttausende von Leuten getötet oder verstümmelt haben. Und da gibt’s noch sehr viel mehr.
Aber wirst Du darüber schreiben? Sicher nicht! Wie alle anderen Lemminge hast du vorschnell ein Urteil gefällt und einen gewählten Präsidenten einem Impeachment‑Verfahren unterzogen in einem Land, das dich nichts angeht. Warum??? Na ja, viel Glück. Die Lehre aus der Geschichte kommt vor der Konditionierung durch die Medien und durch blinden Hass. Ich hoffe, du kapiersts, bevor die Geschichte sich wiederholt.
Ich vermisse deinen Witz und fantastischen Humor.
J"
Eine Weile lang dachte ich, sein Konto sei gehackt worden und die Mail sei gar nicht für mich, sondern irgendein unpersönlicher Spam. Ein buntes Potpourri aus den Gerüchten und Verschwörungstheorien um Corona, um die Trump-Regierung und den Wahlkampf in den USA, das von irgendeinem irren Breitbart-Follower herumgeschickt worden war. Aber seine bizarre Rechtschreibung erkannte ich wieder. Auch die Seitenhiebe auf die Intellektuellen und die Universität passten schon auf mich, ich bin ja an der Uni.
Trotzdem war ich erst mal sprachlos. Diesen wirren, monologischen Ausbruch konnte ich wohl kaum mit der harmlosen Frage "Wie geht’s Dir?" ausgelöst haben. Nie haben wir über das Impeachment-Verfahren gesprochen, nie über Bill und Melinda Gates, nie über Corona. Wie passten die giftigen Invektiven gegen die duckmäuserischen "Lemminge" an der Uni zu den Geburtstagsgrüßen und seiner netten Bemerkung über meinen Witz? Ich habe bis heute nicht alles verstanden, was in dieser Mail behauptet oder angespielt wird. Auch nicht, warum man eine Geste der Freundschaft mit einer so giftigen Invektive verbindet. Aber eines wusste ich: Ich würde darüber schreiben.
Man merkt, dass man nicht in der gleichen Wirklichkeit lebt
Der Brief meines New Yorker Freundes scheint mir symptomatisch für ein neues soziales Phänomen. Bei Gesprächen mit Nachbarn oder Kolleginnen, Zufallsbekanntschaften oder beruflichen Kontakten kommt immer öfter ein Moment, in dem man plötzlich merkt, dass man nicht nur verschiedene politische Meinungen vertritt. Man merkt, dass man nicht in der gleichen Wirklichkeit lebt. Dabei geht es nicht einfach darum, unterschiedliche Parteien zu wählen oder andere Werte zu vertreten. Plötzlich fragt man sich: "In welcher Welt lebt der oder die andere? In welcher ich? Was halte ich für wahr oder für wahrscheinlich, was der andere? Welchen Informationsquellen vertraue ich, welchen mein Gegenüber?"
So divers und kontrovers eine Gesellschaft sein mag, muss sie doch, um überhaupt streiten zu können, einen Konsens darüber haben, was als wirklich anerkannt wird und was nicht. Das mag auf den ersten Blick banal klingen. Es ist ja nicht so, dass einige Teile der Gesellschaft etwa die Existenz der Schwerkraft leugnen, andere nicht. Aber seien wir ehrlich: Außer der Schwerkraft scheint es heute kaum mehr einen Sachverhalt zu geben, der nicht von der einen oder anderen Seite bestritten würde.
Hier nur einige Beispiele:
"COVID-19 ist nicht mehr als eine Grippe."
"Die ganze Pandemie ist eine aufgeblasene Krise, die dazu dient, einen Polizeistaat durchzusetzen und die Freiheit der Bevölkerung zu beschränken. Das Virus wurde absichtlich in die Welt gesetzt."
"Die Maßnahmen gegen COVID-19 sind überflüssig und dienen in Wirklichkeit ganz anderen Zwecken."
"Bei den Impfungen sollen den Menschen heimlich Mikrochips implantiert werden."
"Außerdem machen Impfungen krank. Wie übrigens auch Handystrahlen, Wasseradern oder Elektrosmog."
"Klimawandel ist nichts als die Wichtigtuerei von einigen wenigen Klimaforschern."
"Einen wissenschaftlichen Konsens über globale Erwärmung gibt es gar nicht. Die Flüchtlingsströme nach Europa sind ein groß angelegter Versuch, die ansässige Bevölkerung auszutauschen und die abendländische Kultur abzuschaffen."
"Am Ende steht dann die Islamisierung Europas. Militär und Geheimdienste bilden einen Staat im Staate, der die offizielle Politik der Regierung manipuliert oder unterläuft."
"Traditionelle Medien wie Zeitungen oder Fernsehen sind längst gleichgeschaltet und verbreiten nur noch 'Fake News', die der Regierung oder den internationalen Eliten in die Hände spielen."
Und so weiter und so weiter...
Das zunehmende Zerbröseln einer geteilten Wirklichkeit
Diese Kakophonie von Hypothesen und Verdächtigungen, kleinen Ängsten und massiven Verschwörungstheorien ist kein Produkt der Corona-Demonstrationen. Seit 20 Jahren kann man das zunehmende Zerbröseln einer geteilten Wirklichkeit beobachten. Erinnert sich noch jemand an die World Trade Center Conspiracy? Unmittelbar nach dem Terrorangriff vom 11. September 2001 begannen Vermutungen zu zirkulieren, das Pentagon sei von einer Rakete, nicht einem Flugzeug getroffen worden. Die US-Regierung, so wurde geraunt, habe von den Anschlägen gewusst, ja die Türme seien absichtlich von innen gesprengt worden. Und die Bushs und Bin Ladens steckten alle unter einer Decke.
Mag sein, dass man heute nur noch die Achseln zuckt über solche bizarren Spekulationen. Angesichts der heutigen Szenerie an Verdächtigungen erscheinen die Theorien um Nine-Eleven aber geradezu erfrischend vernünftig. Schließlich wurden damals tatsächlich auch unbequeme Fragen gestellt, Hintergründe recherchiert, das Versagen der Geheimdienste rekonstruiert. Aber die Verschwörungstheorien um Nine-Eleven markieren auch den Moment, wo gänzlich inkompatible Interpretationen der Wirklichkeit plötzlich nicht mehr nur von einigen Eingeweihten oder Paranoikerinnen geteilt werden, sondern von einer breiten Öffentlichkeit. "Zwei Mal täglich googlen." Das empfahl damals der Journalist Mathias Bröckers für die selbstbestimmte Informationsrecherche. Heute googlen wir eher zwei Mal pro Minute, und gewinnen unseren Wissensstand aus Quellen wie Facebook, Twitter, Youtube oder obskuren Foren. Wer hat heute noch die Geduld, sich mit den langatmigen Hintergrundberichten der Qualitätsmedien rumzuquälen?
Was steckt dahinter? Was ist der Sinn des Ganzen?
An sich ist dieser Impuls zur eigenen Recherche verständlich und sympathisch. Einschneidende historische Ereignisse werden oft begleitet von Geschichten und Vermutungen, die sich nicht mit den offiziellen Erklärungen zufriedengeben. Es geht darum, das Ereignis in eine größere Matrix von Welterklärung einzupassen. Was steckt dahinter? Was ist der Sinn des Ganzen? Gibt es unterliegende Absichten oder Gruppen, die davon profitieren? Solche Fragen zu stellen, bedeutet nicht notwendig, gleich Verschwörungstheoretikerin zu werden. Es bedeutet, einen Bruch in der Wirklichkeit dadurch zu heilen, dass man die Wirklichkeit neu interpretiert und bestimmte Zusammenhänge versteht, die man vorher nicht gesehen hat. Für eine große, meist schweigende Mehrheit bedeutet dies, mit den Erklärungen Schritt zu halten, die die Wissenschaft oder anerkannte Medien anbieten. In der Corona-Krise haben wir auf diese Weise einen Crashkurs in Epidemiologie und Virologie gemacht und fachsimpeln seither leichthändig über Reproduktionsziffern, Perkolationseffekte und Inkubationszeiten.
Aber was wir gegenwärtig beobachten, ist ein fundamentales Misstrauen gegenüber diesem so mächtig gewordenen Wissen. Dieses Misstrauen äußerte sich schon früh in medienwirksamen Einsprüchen gegen die Expertenmeinungen zu COVID-19. So hat sich eine kleine, aber lautstarke Minderheit gebildet, die das wissenschaftliche Wissen über den Erreger, seine Gefährlichkeit und die notwendigen Gegenmaßnahmen massiv in Frage stellt. Nennen wir sie mal "die Besserwisser". Das sind Ärzte wie Wolfgang Wodarg, SPD-Abgeordneter und bislang vor allem als Sozialmediziner in Erscheinung getreten. Corona, so ließ er im März wissen, sei keineswegs schlimmer als die jährliche Grippe. Mittlerweile fordert er, die PCR-Tests zu hinterfragen, die als der Goldstandard der Diagnose von Infektionen mit dem Corona-Virus angesehen werden. Sucharit Bhakdi, emeritierter Professor für Mikrobiologie und Immunologie, geht weiter und nennt Zahlen: 80 Prozent der Deutschen seien ohnehin immun gegen das Virus, die Letalität von Corona, richtig gezählt, sei kaum der Rede wert. Und der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg schließlich glaubte zu wissen, dass ein Lockdown epidemiologisch gar keinen Nutzen bringt und die Pandemie sowieso überschätzt werde.
Selbsternannte Experten
Wohlgemerkt: Nicht alle Fragen, die die Skeptiker aufwarfen, waren völlig fehlgeleitet. Teilweise wiesen sie auf Schwierigkeiten mit der statistischen Erfassung hin, teilweise auf Bereiche, in denen einfach noch nicht genug Wissen vorlag – aber leider trotzdem Entscheidungen getroffen werden mussten. Das Problem mit dieser Form der Skepsis ist die Mischung: Neben sinnvoller Kritik an der offiziellen Experteneinschätzung stehen wirre Spekulationen, ausdrückliche Unwahrheiten und befremdliche Schlussfolgerungen.
Die selbsternannten Experten finden, dass Social Distancing sinnlose Schikane sei, die Lockdowns unnötig und die Impfungen, die gerade anlaufen, nicht ausreichend getestet, unwirksam oder sogar schädlich. Und vergessen wir nicht die Chips, die uns Bill Gates einsetzen will!
Auf den ersten Blick könnte man glauben, das sei eine Debatte unter Wissenschaftlern. Man denkt, da stehen Ärzte gegen Ärzte, Forscherinnen gegen Forscherinnen. Das wäre an sich ja nichts Ungewöhnliches in der Wissenschaft. Denn die lebt von Kontroverse und gegenseitiger Kritik. Vor jeder ernstzunehmenden Publikation werden Gutachten, sogenannte Reviews, eingeholt, in denen Fachkollegen die Qualität und Methodik von Forschungsergebnissen beurteilen und gelegentlich auch streng kritisieren. Natürlich werden dabei immer wieder auch Positionen revidiert. Aber die Grundidee ist hier, dass gerade durch die gegenseitige Kritik ein insgesamt schärferes oder zutreffenderes Bild eines Forschungsproblems entsteht.
Bemerkenswert ist nun aber, dass Corona-Skeptiker wie Wodarg, Bhakdi, Homburg und andere diese Verfahren der Qualitätssicherung in der Wissenschaft gerade vermeiden. Sie publizieren nicht in Wissenschaftsjournalen, sondern tragen ihre Meinung in Talkshows, Interviews, populären Büchern oder Youtube-Videos vor. Adressat ihrer Kritik sind nämlich gar nicht die Fachleute, sondern die Öffentlichkeit. Das ist ein breites Publikum von besorgten Bürgerinnen und Bürgern, die sich nicht selten schon durch einen Doktortitel und jede Menge medizinisches Vokabular beeindrucken lassen. Auch wenn jemand gar kein Fachmann ist. Die Debatte, die dadurch entsteht, mag auf Laien wirken wie eine wissenschaftliche Diskussion. Aber sie ist es mitnichten. Wissenschaftliche Beleg- und Überprüfungsverfahren werden dabei lässig umgangen. Oder sie werden als Mechanismen einer angeblichen Diskurspolizei verworfen, die ja angeblich nur den wissenschaftlichen Mainstream zulasse.
Betrachten wir diese Geste der Kritik gegen das wissenschaftliche Expertentum mal grundsätzlicher. Was ist "Besserwisserei"?
Wer etwas besser weiß, der oder die beruft sich normalerweise auf überprüfbare Tatsachen, um das Wissen anderer zu berichtigen. Besserwisser wissen nicht einfach etwas, sondern wissen etwas besser, also anders. Die Besserwisser, um die es mir hier geht, sind aber nicht einfach Wissenschaftler, die gegen andere Wissenschaftler eine andere fachliche Einschätzung vortragen. Mir geht es auch nicht um die landläufigen Rechthaberinnen und Oberlehrer, die zu allem ihren Senf geben. Das Besserwissen, um das es mir hier geht, ist eine sehr spezifische Denkweise, eine Mischung aus Misstrauen und Gutgläubigkeit, kritischem Geist und eitlem Bluff. Es besteht in dem grundlegenden Impetus, etwas anders zu sehen, eine andere Geschichte zu erzählen, andere Erklärungen zu finden. Was die Besserwisser besser wissen, ist also immer parasitär auf das Wissen bezogen, das bereits vorliegt. Dieses Wissen wird kritisiert, aber auf einer anderen, einer sozusagen "alternativen" Ebene.
Heldin der Besserwisserei ist die Trump-Beraterin Kellyanne Conway, die 2017 den Begriff "alternative Fakten" erfand. Der Pressesprecher der Trump-Regierung, Sean Spicer, hatte die Menschenmenge bei der Amtseinführung Trumps wesentlich größer gelogen als sie war, im Widerspruch zu Statistiken und Fotos, die das Gegenteil bewiesen. Hier der Schlagabtausch zwischen Conway und dem Moderator Chuck Todd:
Chuck Todd: "Warum wurde der Pressesprecher bei seiner allerersten Pressekonferenz gezwungen, Lügen zu präsentieren?"
Kellyanne Conway: "Sean Spicer hat eben alternative Fakten präsentiert."
Chuck Todd: "Alternative Fakten sind keine Fakten. Sie sind Unwahrheiten."
Kellyanne Conway: "Nein. Es sind zusätzliche Fakten und alternative Informationen. Zum Beispiel: 'Zwei und zwei sind vier. Drei und eins sind vier. Teils bewölkt, teils heiter. Das Glas ist halb voll oder halb leer. All das sind alternative Fakten'."
Was Conway hier vorträgt, ist epistemologisch einigermaßen rasant. Nichts von ihren Beispielen sind nämlich Aussagen über Tatsachen, sondern etwas ganz anderes. Es sind Axiome, eine Relation und eine subjektive Interpretation. Während Fakten genau dadurch definiert sind, dass sie unabhängig von einer subjektiven Perspektive wahr sind, sind "alternative Fakten" all das, was Fakten eben nicht sind: Meinungen, Irrtümer, Sichtweisen, Interpretationen oder auch Lügen. Besserwisser leben von den Fakten, als deren Alternative sie sich präsentieren. Ihnen geht es darum, etabliertes Wissen zu erschüttern. Darum stoßen sie auch nicht in unbekannte Wissensgebiete vor, sondern docken genau da an, wo man scheinbar sicheres Wissen hat. Der Besserwisser zieht dies in Zweifel. Mal präsentiert er "alternative Fakten", mal heißt es: "Man wird doch noch fragen dürfen" oder "Da gibt es doch gar keinen eindeutigen Forschungsstand".
Wer bullshittet, der blufft
Vor allem aber, auch das zeigt Conway recht eindrücklich, erhebt die Besserwisserei keinen echten Wahrheitsanspruch. Sie schert sich nicht wirklich darum, ob ihre Fakten verlässlich sind oder widerlegt werden können. Besserwisserei ist damit eine Spielart jenes berühmten Bullshitting, dass der Philosoph Harry Frankfurt so definierte:
"Das Wesen des Bullshits liegt in der Gleichgültigkeit gegenüber der Frage, wie die Dinge wirklich sind."
Wer bullshittet, der blufft. Er erzeugt eine ganze Landschaft aus Nebelkerzen, nicht so sehr, um etwas Bestimmtes zu behaupten oder auch, um gezielt zu lügen, sondern um einen bestimmten Effekt zu erzielen, wie zum Beispiel Erstaunen, Wut, Ehrfurcht oder auch einfach Verwirrung. Eine Widerlegung ihrer Behauptungen ist der Bullshitterin somit herzlich egal. Besserwisserei als Spielart des Bullshitting ist damit ein Typus von Behauptung, der kein Interesse daran hat, die Sachlage wirklich genauer zu bestimmen. Es geht nicht darum, es wirklich besser zu wissen. Es ist vielmehr ein Widerspruch um des Widerspruchs willen. Aber diese Art von Bluff kann sehr genau definierte Ziele verfolgen.
Untersucht man nämlich die Argumentationsstrategien der Corona-Besserwisser genauer, dann erscheint ein seit Jahren bekanntes Muster. Sie gleichen den Argumenten der Klimawandel-Skeptiker, die schon in den 90er-Jahren im Dienst der Ölindustrie oder konservativer Thinktanks antraten, Gesundheits- und Umweltthemen zu zerreden. Ziel war, diese Themen so lange wie möglich als wissenschaftliche Kontroverse und ungelöstes Problem erscheinen zu lassen. Sie bezweifelten publikumswirksam die Existenz des Ozonlochs, den menschengemachten Klimawandel oder die Schädlichkeit von Toxinen wie DDT. Und zwar nach einem Masterplan, den die Tabakindustrie schon in den 50er-Jahren entwickelt hatte, um zu bestreiten, dass Rauchen Krebs verursacht. Professionell produziert wurden diese Zweifel am wissenschaftlichen Forschungsstand durch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die zumeist gar keine Fachexpertise hatten, sondern nur irgendeine naturwissenschaftliche Ausbildung. Ihnen ging es nicht darum, die Forschung weiterzubringen, sondern Debatten zu entfachen, die es ohne sie gar nicht gegeben hätte.
Die Wissenschaftshistoriker Naomi Oreskes und Erik M. Conway haben in ihrem Buch Die Machiavellis der Wissenschaft ihre Techniken analysiert: Das ist etwa das sogenannte "Cherry-picking", das Herauspicken von einzelnen, für den Laien kaum nachvollziehbaren Details. Oder es werden Messmethoden kritisiert, die bestens etabliert sind. Gut funktioniert es auch, Gegenbeispiele in ihrer Bedeutung aufzublasen, während man das Gesamtbild ignoriert. So werden beispielsweise immer wieder wachsende Gletscher oder Kältewellen als Beweis gegen die globale Erwärmung genannt – nur leider bestätigen sie, bei genauer Betrachtung, eher die Diagnose. Dabei geht es eher darum, Nebelkerzen zu zünden, als die wissenschaftlichen Methoden tatsächlich zu diskutieren oder zu verbessern.
Beliebt ist auch die Kritik am Robert-Koch-Institut
Liest man Studien zu den Taktiken von Klimawandel-Skeptikern, Ökologie‑Kritikerinnen, Tabak-Verteidigern oder Impfgegnerinnen, dann zeigt sich heute ein unheimliches Déjà-vu. Die Argumentationsstrategien der Besserwisser entstammen genau diesem Arsenal. Das reicht von Wodargs Einlassungen über die PCR-Tests und Bhakdis Kritik an den Infektionsstatistiken bis hin zum Shitstorm, den die BILD‑Zeitung letzten Sommer gegen den Virologen Christian Drosten entfacht hat. Beliebt ist auch die Kritik am Robert-Koch-Institut, ob nun von Fachleuten vorgetragen oder von einem Schauspieler wie Til Schweiger. Auffällig ist, dass auch seriöse Fachdebatten von den Medien möglichst stark personalisiert werden. Es soll der Anschein erzeugt werden, als wäre das ein Wettkampf eitler Streithammel. So geschehen etwa im Falle des angeblichen "Virologen-Streits" zwischen Christian Drosten, Hendrik Streeck und Alexander Kekulé. Mit dieser künstlich erzeugten Kakophonie von wissenschaftlichem Dissens entsteht der Eindruck, die Experten wüssten selbst nicht so genau, was eigentlich los ist – oder schlimmer: Sie lügen wider besseres Wissen.
Der Skepsis gegenüber dem Expertentum spielt dabei eine Eigenschaft echter Wissenschaft in die Hände: Ihr Kenntnisstand ändert sich. Die letzten Monate waren eine rasante Lernkurve der Forschung über einen neuen Erreger, über den niemand auch nur annähernd genug wusste. Infektionswege, Immunität, Verteilung der Infektion in der Bevölkerung oder auch der Verlauf der Krankheit und ihre Folgeschäden – ständig kommen neue Einsichten hinzu, müssen frühere Annahmen modifiziert werden. Genau das ist Wissenschaft. Um nichts anderes ging es auch in der medial aufgeblasenen Debatte der drei Virologen: um statistische Methodik, geübt an einem Pre-Print, der ausdrücklich zur Fachkritik einlud. Unausgesprochen wird dabei unterstellt, wissenschaftliches Wissen bestünde aus in Stein gemeißelten Fakten, die sich nie ändern. Wenn Wissenschaftler also uneins sind, so heißt es, dann nur, weil sie eitle Scharlatane sind. Wissenschaft, das ist die weit verbreitete Erwartung, soll sagen, wie die Dinge sind, nicht wie sie nach heutigem Kenntnisstand sind.
Diese Fluidität von Wissenschaft hat nun in der Öffentlichkeit zu einem sehr seltsamen Effekt geführt. Den selbsternannten Skeptikern, ihren Youtube-Vorträgen und süffigen Polemiken ist es zu danken, dass sich mittlerweile fast jeder mit oder ohne Fachkompetenz als Forscher und Experte fühlen kann. Allgemeinärztinnen, Physiotherapeuten, Lehrerinnen und Internet-affine Teenager bilden sich munter ihre ganz eigene Meinung. Und zwar durch Forschung im Internet. Vordergründig sieht dies aus wie eine Demokratisierung von Wissenschaft: Jeder und jede kann mitmachen. De facto ist es aber nur eine andere Spielart der Besserwisserei. "Just google it." Das ist das Mantra von Skeptikern wie Verschwörungstheoretikerinnen geworden. Wer mag, kann sich eine andere als die offizielle Wahrheit zusammenrecherchieren. Damit die Sache nicht langweilig wird, hilft es, dass soziale Medien wie Facebook oder Twitter Fake-News und Sensationsmeldungen sechsmal so häufig wie normale Neuigkeiten verbreiten. Und die Suchalgorithmen spielen einem dabei bei jeder Suche das zu, was die eigenen Präferenzen zu bestätigen scheint. Auch kognitiv verarbeiten wir Informationen, die unsere Einstellungen bestätigen, leichter als solche, die ihnen zuwiderlaufen. Man findet also, was man sucht, wird bestätigt, und die Ergebnisse sind aufregend. Die Besserwisserei der googlenden Laien ermöglicht ein Forscherleben wie aus dem Bilderbuch.
Auf den ersten Blick wirkt das sympathisch und selbstbestimmt. "Selber denken" ist ja mal der Schlachtruf der Aufklärung gewesen. Und der "Querdenker" ist noch heute der Inbegriff des kritischen Geists. Leider ist es nun auch der Name einer Corona‑Skeptiker-Bewegung aus Stuttgart. Die Besserwisserei erscheint den Beteiligten als Emanzipation und geistige Unabhängigkeit, deshalb wimmelt es auf der Website der Querdenker von ehrwürdigen Vokabeln wie "Freiheit" und "Demokratie". Aber um Emanzipation geht es dabei nicht. Der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour hat bemerkt, dass das kritische Denken seit Anfang des Jahrtausends dazu tendiert, Fakten im Dienst politischer Agenden aufzulösen. Einst, so Latour, hatte Kritik darin bestanden, scheinbar naturgegebene Sachverhalte als soziale oder politische Konstrukte oder Streitsachen zu entlarven. Heute scheint es umgekehrt darum zu gehen, wissenschaftliche Fakten durch eine Kakophonie von selbstgebasteltem Dissens zu liquidieren, um sie in reine Streitsachen zu überführen. Wissenschaft ist damit politisch geworden, eine Zone des Kampfes zwischen der etablierten Forschung und jenen "alternativen Fakten", die die Besserwisser zusammentragen. In dieser Politisierung von Wissen löst sich mit den Mechanismen der Wissenssicherung auch die Faktizität selbst auf. Es scheint keine Kriterien mehr zu geben, um Fakten von Meinungen, Gefühlen oder Interpretationen zu unterscheiden. Etliche sich um Corona rankende Verschwörungstheorien zeigen anschaulich, wie diese Art der Politisierung das Feld der Debatte immer weiter auflöst, bis eine Diskussion unmöglich wird. In der Besserwisserei verschwimmen damit wichtige Differenzen wie die zwischen Experten und Laien, zwischen Fachdiskussion und medialem Gezeter, zwischen Fakten und alternativen Fakten, die keine sind.
Bei der Mehrheit hat Wissenschaft Gültigkeit
Latour riet damals, diese Politisierung von Sachverhalten im Zuge eines neuen Realismus anzuerkennen und damit zu arbeiten. Aber das ist vielleicht nicht ganz so einfach, wie es noch am Anfang des Jahrtausends schien. Denn erstens haben wir keine Zeit: Wir können weder den Klimawandel noch Corona einfach aussitzen. Wir können auch mit der Entscheidung zur Impfung nicht einfach warten, bis sich Herdenimmunität von allein einstellt. Zweitens bewirkt die Erosion von Faktizität in der Besserwisserei eine immer stärkere Spaltung der Gesellschaft. Es ist eine Spaltung, die viel gravierender ist als der Unterschied zwischen rechts und links, arm und reich, gebildet oder ungebildet, Migranten oder Inländern. Was wir derzeit erleben, ist eine Spaltung in inkompatible Wirklichkeiten, die kaum mehr miteinander reden können, weil sie über grundlegende Kategorien des Denkens uneins sind.
Eine große, leider meist schweigende Mehrheit in Europa lebt in einer Wirklichkeit, in der Wissenschaft Gültigkeit hat. Sie erwartet sogar, dass Politik sich – beispielsweise auch in Sachen Klimawandel – an diesem Wissen orientiert. Daneben aber gibt es eine wachsende, sehr heterogene Minderheit, die ihre Wirklichkeit gänzlich anders definiert. Dass sie so heterogen ist, hat nicht zuletzt etwas mit den vielfältigen Quellen und Standards der Information zu tun, aus denen sich ihre Wirklichkeit zusammensetzt.
Besserwisserei ist nicht einfach ein Hickhack unter Experten. Sie ist auch keine Demokratisierung von Wissen im Zeichen kritischen Denkens. Sie ist schon eher Ausdruck eines aus der kognitiven Psychologie bekannten Effekts, dass man sich gerade dann für besonders kompetent und kritisch hält, wenn man absolut keine Ahnung hat. Vor allem aber ist sie das Symptom eines gefährlichen Zerbröckelns gemeinsamer Wirklichkeit. Das ist nicht so neu, wie gelegentlich behauptet wird, und es liegt auch nicht einfach nur an den bösen sozialen Medien. Besserwisserei ist ein Mindset, das zu einer Erosion von Wissen und Wirklichkeit führt. Mit dieser Erosion des Wissens geht eine Erosion des Politischen einher. Denn auch politischer Dissens ist nur möglich auf der Basis einer geteilten Wirklichkeit. Wer an gänzlich andere Wirklichkeiten glaubt, oder sich um die Wahrheit der eigenen Behauptungen nicht schert, mit dem ist keine Diskussion mehr möglich. Auch eine zerstrittene Gesellschaft hat noch eine Einheit, die Einheit des Dissenses. Wenn diese Einheit aufgekündigt und aus unvereinbaren Wirklichkeiten heraus gesprochen wird, bleibt am Ende nichts, worüber man noch streiten kann.