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Coronakrise und Medikamenten-Mangel
Medizinökonom: Pillen aus Europa sind teurer

Die Engpässe bei Medikamenten hätten sich durch die Coronakrise zugespitzt, sagte der Medizinmanagement-Professor Jürgen Wasem im Dlf. Ein Lösungsvorschlag: Ein fester Anteil der Arzneimittel könnte künftig in Europa statt in Asien produziert werden - aber die Umstellung könne dauern und kosten.

Jürgen Wasem im Gespräch mit Sandra Schulz |
Derzeit gibt es Lieferengpässe bei teils gängigen Medikamenten
Derzeit gibt es Lieferengpässe bei teils gängigen Medikamenten (Copyright imago images / Westend61)
Die Coronakrise hat ein Problem im Medizinsektor verschärft: Lieferengpässe bei teils gängigen Medikamenten. Darüber beraten nun die EU-Gesundheitsminister. Durch die Coronakrise seien einfach die Transportwege problematischer geworden und zum Teil sei die Produktion in Asien (wohin die Fertigung in den letzten Jahrzehnten zunehmend verlagert worden sei) aufgrund des Lockdowns in den dortigen Volkswirtschaften zurückgefahren worden, sagte Jürgen Wasem, Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen und Politikberater, im Deutschlandfunk. Gerade bei komplexen Arzneimittel sei eine Rück-Verlagerung der Produktion nicht so schnell möglich.
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Sandra Schulz: Viele Menschen haben es in der Apotheke selbst schon gemerkt. Gängige Medikamente fehlen plötzlich. Wie ernst ist die Lage?
Jürgen Wasem: Nun, sie hat sich durch die Corona-Krise in der Tat noch mal zugespitzt. Wie Ihr Beitrag gerade schon zeigte, ist das aber eine längere Diskussion. Wir haben in den letzten zehn, 15 Jahren in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern systematisch Einsparmöglichkeiten dadurch ausgenutzt, dass wir billiger in Asien haben produzieren lassen. Der Wettbewerbsdruck und etwa der Wettbewerbsdruck der Krankenkassen hat dazu geführt, dass die Ausschreibungen gemacht haben für Arzneimittel, und die Ausschreibungen konnte ein Pharmaunternehmen nur gewinnen, wenn es billig angeboten hat, und das heißt in Asien produziert. Deswegen müssen wir über die Frage nachdenken, wollen wir das weiter, oder sind wir bereit – das wäre dann die logische Konsequenz -, mehr zu zahlen für mehr Sicherheit.
Schulz: Darüber würde ich mit Ihnen gerne gleich sprechen. Jetzt würde ich noch kurz über den Status quo sprechen wollen oder da bleiben. Wenn jetzt gemeldet wird, dass 400 Medikamente fehlen, Antidepressiva – wir haben es gerade schon gehört -, Antibiotika, teils auch gängige Schmerzmittel, kann man da sagen, welcher Engpass ist da am bedrohlichsten?
Wasem: Das ist da am bedrohlichsten, wo es nicht unmittelbar gleichwertige Alternativen gibt. Bei vielen Arzneimitteln ist es so, dass zwar ein spezifisches Arzneimittel nicht verfügbar ist, aber ein identisches Arzneimittel noch da ist. Das kann man beim Bundesinstitut für die Arzneimittel auch gut nachvollziehen. Die führen da inzwischen sehr konkrete Listen. Die Unternehmen melden die Engpässe und man sieht sehr schön, es gibt einzelne Bereiche, da ist es tatsächlich bei Antibiotika kritisch. Es gibt aber auch viele Bereiche, da gibt es wirkstoffgleiche, die man parallel benutzen kann.
Experte im Moment froh über leere Krankenhaus-Betten
Schulz: Wir sprechen jetzt über ein Problem, das es schon vor Corona gab, das jetzt dem Gesundheitssystem aber besonders stark auf die Füße fällt?
Wasem: Ja, das ist richtig. Durch die Coronakrise sind einfach die Transportwege problematischer geworden. Zum Teil ist auch die Produktion in Asien aufgrund des Lockdowns in den dortigen Volkswirtschaften zurückgefahren worden. Und dann stellt man plötzlich fest, das was eigentlich selbstverständlich war: Wenn man in die Apotheke geht, gibt es das Arzneimittel nicht, das auf dem Rezeptblock steht.
Schulz: Die Pharmahersteller haben das gemacht, was marktwirtschaftlich logisch ist. Sie haben es ja auch gerade schon skizziert. War das trotzdem falsch?
Wasem: Das ist eine Frage der Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft. Es gibt keine wirklich guten flächendeckenden Studien, aber im Schnitt, würde ich sagen, wird man, wenn man Arzneimittel in Europa produzieren möchte - und das wird ja keine reine deutsche Lösung sein; völlig zurecht beraten das die EU-Minister -, wird ein Arzneimittel 30 bis 50 Prozent teurer sein, wenn man das in Europa produziert, als wenn man das in Asien produziert - einfach, weil bei uns die Personalkosten (das ist der wichtigste Punkt) höher sind, auch die Lagerungskosten sind zum Teil höher, und das geht dann natürlich auf den Preis. Das heißt: Eine Packung, die bisher, wenn man sie selber bezahlen musste, drei Euro kostet, die kostet dann vier bis fünf Euro, und das ist die Frage, ob uns das als Gesellschaft wert ist.
Schulz: Da treffen sich jetzt ja wirtschaftliche Erwägungen mit gesundheitspolitischen Erwägungen, wie eigentlich in jedem Feld der Gesundheitspolitik. Wir sehen, jetzt im Moment wird auch in der aktuellen Wirtschaftskrise durch Corona unheimlich viel Geld ins System gepumpt. Ist das dann die Stelle, die man da auch gleich mit nachjustieren sollte?
Wasem: Das ist eine der Baustellen, an denen wir nach Corona wirklich - und jetzt fangen wir ja schon mit der Diskussion an - uns entscheiden müssen. Eine andere ist ja - da ist in den letzten Wochen auch viel drüber diskutiert worden: Wir haben eigentlich ja Überkapazitäten bei den Krankenhausbetten. Bei uns stehen im Schnitt 100.000 Betten immer leer und viele in der Gesundheitspolitik (und auch ich als Ökonom gestehe das offen) haben immer gesagt: Leute, wir müssen runter von diesen leeren Betten. Im Moment sind wir froh, dass wir leere Kapazitäten haben, weil das ist ein Grund, warum es uns deutlich besser geht als in anderen Ländern. Das heißt, wir müssen manche Frage neu diskutieren, und alle - das haben Sie völlig richtig gesagt - hängen damit zusammen, sind wir denn bereit, mehr zu zahlen.
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Schulz: Sie sind ja jemand, der sich auch verstärkt dafür eingesetzt hat, häufig stärker Marktmechanismen auch in dieses Gesundheitssystem einzuspeisen. Ist das jetzt ein Punkt, an dem man da umdenken muss?
Wasem: Ich denke, man sollte jetzt nicht in den Umkehrschluss vergehen und sagen, wir machen nichts mehr mit Marktwirtschaft. Aber man muss sich überlegen, welche Rahmenbedingungen man setzt.
Um das am Beispiel der Arzneimittel, von denen wir gerade sprachen, noch mal deutlich zu machen: Man kann sich ja vorstellen, wir schreiben weiter Arzneimittel aus, aber wir sagen, wir reservieren einen bestimmten Anteil der Arzneimittel, die die Krankenkassen vertraglich vereinbaren, für eine Produktion in Europa. Dann haben wir nach wie vor Marktwirtschaft, aber es kann nicht mehr alles nach Asien gehen, sondern es würde in der Ausschreibung auch jemand zwingend zum Zuge kommen, der in Europa produziert.
Ich denke, es kommt auf eine kluge Kombination aus marktwirtschaftlichen Instrumenten und einer Regulierung durch die Politik an.
"In der Tendenz wird das zu Mehrausgaben führen"
Schulz: In Europa sind diese Produktionskapazitäten, weil es überhaupt nicht mehr gebraucht wurde, auch kontinuierlich abgebaut worden. Wie lange würde es brauchen, wenn man diesen Schritt gehen wollte, zu sagen, wir holen jetzt wirklich die Pharmaproduktion zurück nach Europa? Sprechen wir da über Jahre? Sind es Monate? Was wäre da die Größenordnung?
Wasem: Das hängt sehr davon ab, um welche Arzneimittel es geht. Wenn es um sehr schlichte Arzneimittel geht, ist das innerhalb weniger Monate tatsächlich vorstellbar, dass wir zumindest Teile wieder in Europa haben. Es gibt noch große Fertigungsstraßen großer multinationaler Konzerne in Europa, auch in Deutschland zum Teil. Wenn es um komplexe Arzneimittel geht, für die man die Straßen speziell ausrichten muss, ist das in der Tat eine Sache, die nicht unter einem Jahr machbar ist.
Schulz: Wir haben es gerade im Bericht schon gehört: Neben der Gesundheitskrise, über die wir aktuell in Corona sprechen, sind wir auch in einer Wirtschaftskrise, in einer bitteren Rezession, die sich abzeichnet, und da melden sich jetzt auch die gesetzlichen Krankenkassen, weil sie auf einen höheren Zuschuss drängen. Erklären Sie es uns noch mal genauer: Warum genau fehlt da jetzt überhaupt das Geld in einer Situation, in der doch das Gesundheitssystem eigentlich Dreh- und Angelpunkt ist?
Wasem: Ja, das sind unterschiedliche Dinge, die da zusammenlaufen, die auch von der Zeitschiene her unterschiedlich sind. Zum einen ist es so, dass in bestimmten Bereichen einfach jetzt Mehrausgaben wegen Corona entstehen. Zum Beispiel berät der Bundestag ja zurzeit das Gesetz, das Epidemiegesetz II, nach dem die Krankenkassen künftig die Corona-Tests alle bezahlen sollen. Im Moment sind Mehrausgaben da, wo Patienten verstärkt wegen Corona behandelt werden. Dem stehen auf der anderen Seite auch Einsparungen gegenüber, aber in der Tendenz wird das zu Mehrausgaben führen.
Das zweite ist, dass wir ja eine einkommensabhängige Beitragsfinanzierung haben. Wir zahlen ja 15 bis 16 Prozent unseres Einkommens an die Krankenkassen - technisch erst an den Gesundheitsfonds, der zahlt es dann an die Krankenkassen. Unser Shutdown bei der Wirtschaft führt natürlich dazu, dass nicht nur die Wirtschaft schrumpft - da reden wir ja jeden Tag auch in den Medien drüber -, sondern logischerweise dann auch die Einkommen, aus denen die Versicherten die Beiträge zahlen.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Das trifft ganz kurzfristig erst mal nur den Gesundheitsfonds. Bei dem kommt weniger Geld an, als er angenommen hat. Er hatte jetzt im April, Mai auch schon technische Schwierigkeiten, das Geld auszuzahlen, was er eigentlich den Krankenkassen zugesagt hat. Aber mittelfristig trifft das dann logischerweise auch die Krankenkassen. Wenn weniger Geld beim Gesundheitsfonds ankommt, muss man das entweder durch mehr Steuerzahlungen an die Krankenkassen ausgleichen, oder man muss die Beitragssätze erhöhen.
Bundeszuschuss für stabile Krankenkassen-Beiträge?
Schulz: Das heißt, an diesem Zuschuss führt jetzt kein Weg vorbei? Oder ist es dann doch der bessere Weg, über die Zusatzbeiträge zu gehen, weil wir ja auch wissen, dass in der Wirtschaftskrise jetzt viele Selbständige auch bittere Not leiden?
Wasem: Ich persönlich finde, wir sollten das so lösen, wie wir das nach der Lehman-Krise gelöst haben, nämlich da haben wir den Bundeszuschuss von vier auf 14 Milliarden raufgesetzt und haben dadurch genau den Beitragssatzanstieg um einen Beitragssatzpunkt vermieden. Denn die Beitragssätze - das haben Sie gerade völlig richtig gesagt - treffen die Selbständigen. Sie treffen auch zur Hälfte bei den Arbeitnehmern die Arbeitgeber. Das heißt, sie gehen dann auch voll in die Lohnnebenkosten rein und sind damit ein zusätzliches Hindernis, wenn es ums Wiederanspringen der Wirtschaft geht.
Schwierig wird die Frage, wie man das dann technisch macht. Herr Lauterbach hat ja gesagt, nicht einfach normal in den Gesundheitsfonds und dann wird es verteilt, sondern nur an die verteilen, die besonders wenig Rücklagen haben. Das wird dann noch ein Hauen und Stechen und da muss man auch gut überlegen, dass man das vernünftig organisiert.
Schulz: Wäre das gerecht? Denn dass Rücklagen gering sind, das hat in aller Regel ja auch Gründe.
Wasem: Ja, das ist das Problem. Das ist sehr unterschiedlich, warum Krankenkassen hohe und geringe Rücklagen haben. Es ist sicherlich verständlich, wenn man einer Krankenkasse, die viele Rücklagen hat, nicht noch zusätzliches Geld geben will.
Auf der anderen Seite ist es natürlich auch teilweise selbstverschuldet, wenn die Rücklagen gering sind.
Es hängt aber auch zum Beispiel damit zusammen: Jens Spahn hat die letzten zwei Jahre unheimlichen Druck auf die Krankenkassen ausgeübt, dass sie ihre Rücklagen senken, indem sie die Beitragssätze senken. Einige von denen sind ihm braver gefolgt als andere, und wie man die jetzt behandeln will, da ist es schwer, eine wirklich gerechte Lösung zu finden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.