Können sich die Bundesländer auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, wenn sie morgen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) über eine Lockerung der Corona-Beschränkungen verhandeln? Werden sie dann den Vorschlägen folgen, die die Leopoldina - die Nationale Akademie der Wissenschaften in Halle - gestern vorgelegt hat?
Alexander Kekulé, Inhaber des Lehrstuhls für medizinische Mikrobiologie und Virologie an der Martin-Luther-Universität in Halle, hofft auf einheitliche Entscheidung der Ministerpräsidenten. Eine Öffnung der Grundschulen - wie von der Leopoldina gefordert - sieht er kritisch. Es sei nicht davon auszugehen, dass sich die Kinder an die Hygieneregeln halten. Wenn man die Schule aufmache, ginge man das Risiko ein, dass sich die Kinder infizieren und das möglicherweise dann auch in die Familien tragen. "Ich bin schon der Meinung, dass man das gesellschaftlich offen diskutieren muss."
Generell empfiehlt Kekulé einen zeitversetzten Schulbeginn in den Bundesländern. Dies ermögliche besser die Auswirkungen im Auge zu behalten und darauf auch zu reagieren. "Es dauert ja immer etwa zwei Wochen, bis man den Effekt von einer Maßnahme sieht, die man ergreift. Darum wäre mein Vorschlag, dass man, je nachdem, wann die Bundesländer dann die späteren Ferien auch haben, irgendwo sinnvoll anfängt und dann frühestens zwei Wochen später das nächste Bundesland mit Schulöffnungen nachzieht."
Das Interview in voller Länge
Martin Zagatta: Herr Kekulé, Sie haben in der Vergangenheit die Politik durchaus ja auch kritisiert, zu spät und nicht entschieden genug reagiert zu haben. Wie ist das heute? Geht das, was die Berater, was die Leopoldina-Experten da jetzt vorgeschlagen haben, geht das für Sie zumindest in die richtige Richtung?
Alexander Kekulé: Natürlich. Das geht in die richtige Richtung. Das war in der Vergangenheit auch so, dass wir in die richtige Richtung gingen, nur viel zu langsam, und man muss an der Stelle sagen, das ist ja keine persönliche Ungeduld von mir, sondern alle Epidemiologen können sogar ausrechnen, welche Opferzahlen es bedeutet, wenn man auch nur eine Woche verzögert diese Maßnahmen ergreift. Ich finde, das geht jetzt in die richtige Richtung. Das war aber auch schon der dritte Bericht der Leopoldina, und ich glaube, auch der letzte Bericht hatte sehr gute Ansätze.
"Richtig, dass Leopoldina keinen Zeitpunkt nennt"
Zagatta: Jetzt wird aber auch kein Zeitpunkt genannt. Man müsse alles abhängig machen von den Infektionszahlen, heißt es in den Vorschlägen. Ist das richtig so, oder müsste das schneller gehen?
Kekulé: Die Leopoldina macht das genau richtig, dass sie hier keinen Zeitpunkt nennt. Wir haben jetzt einfach das Problem, dass wir ja kurz nach dem Osterwochenende stehen und tatsächlich wie jedes Wochenende die Daten aus Deutschland leider immer noch ewig brauchen, bis sie beim RKI, beim Robert-Koch-Institut landen, so dass das jetzt keine gute Grundlage ist, um zu entscheiden, ob es wirklich einen ausreichenden Rückgang der Neuinfektionen gegeben hat, um daraus jetzt die Lockerung von Maßnahmen zu beschließen.
Zagatta: Aber wenn die Leopoldina gleichzeitig jetzt argumentiert, man müsse eine zweite Infektionswelle auf alle Fälle vermeiden; wenn da – und das sehe ich ja wohl richtig so – eine Impfung auf die Schnelle nicht in Sicht ist, führt dann nicht jede Lockerung auch zu neuen Infektionen? Oder ist das falsch?
Kekulé: Sie sehen das richtig und das Problem ist hier tatsächlich, dass die Leopoldina an der Stelle wohl ganz bewusst – das sind ja Wissenschaftler – die Entscheidung der Politik überlassen hat. Man kann auch sagen, man hat die Politik ein bisschen mit dem Problem stehen lassen. Die Leopoldina hat ja schon letztes Mal eine ganze Reihe von wirklich guten Maßnahmen gefordert, die auch schon zu dem Zeitpunkt eine Weile im Raum waren. Da wurde zum Beispiel gesagt, es geht nicht weiter, dass wir so wenig Testkapazitäten haben, wir müssen die massiv ausweiten. Es wurde gesagt, dass wir bessere Datenerhebungen brauchen.
Zum Beispiel wissen wir gar nicht genau, welche Altersgruppen die kranken Patienten haben in Deutschland. Auch weltweit wird das schlecht dokumentiert. Deshalb kann man das Risiko schlecht abschätzen. Die Leopoldina hat auch in der Vergangenheit schon mehrfach gesagt, dass es dringend notwendig ist, so etwas wie einen Mund-Nasen-Schutz zu haben. Das haben sie jetzt noch mal wiederholt. Wenn ich das so lese, was heute in dem aktuellen Bericht drinsteht, dann erinnert mich das ein bisschen daran, als wenn jemand sagt, wir erinnern an das, was wir früher schon gefordert haben, stellen fest, dass es nicht geliefert wurde bisher, und können deshalb eigentlich keine konkrete Einordnung machen.
Zagatta: Das wäre dann auch Kritik an der Bundesregierung, dass nicht geliefert wurde, was solche Masken angeht. – Wie ist das mit den Schulöffnungen, so wie vorgeschlagen? Würden die nicht dazu führen, dass dann die Zahl der Infektionen deutlich nach oben ginge?
Kekulé: Die Leopoldina ist ja an vielen Stellen sehr vage geblieben, auch ganz bewusst. Das ist kein Vorwurf. Bei den Schulen ist sie sehr konkret geworden, und das hat Herr Bouffier ja gerade sehr deutlich im Beitrag auch kommentiert und kritisiert. Bei den Schulen ist es einfach so: Ich bin nicht der Meinung wie die Leopoldina, ganz ehrlich gesagt, dass man Schüler in der Grundschule – ich habe selber eine fünfjährige Tochter und einen achtjährigen Sohn – tatsächlich in die Schule schicken kann und dann davon ausgeht, dass sie die Hygieneregeln einhalten. Das müssen natürlich Pädagogen letztlich entscheiden, aber ich finde, die Leopoldina ist da sehr optimistisch, weil die sagen, wir warten auf den Impfstoff, wir wollen vorher praktisch jede Infektion verhindern, sowie es irgendwie geht, und deshalb zum Beispiel auch Schüler, sobald die positiv werden, in Quarantäne schicken.
Dann müssen sie zwei Wochen wieder raus aus dem Unterricht. Ich weiß nicht genau, ob dieses Konzept in sich konsistent ist, ehrlich gesagt, weil ich wirklich denke, da müsste man mal mit den Pädagogen reden, ob die das für machbar halten. Sonst ist die Gefahr, dass man Schulen aufmacht und wieder zumacht und dann doch Ausbrüche in den Klassen hat. Ich glaube, hier muss man sich grundsätzlich einfach mal entscheiden, ob man das zulässt, dass sich Kinder in der Grundschule tatsächlich infizieren.
Nehmen wir die Sterblichkeit in Kauf?
Zagatta: Das würden Sie vorschlagen?
Kekulé: Das ist tatsächlich die einzige Möglichkeit. Ich glaube, wir können, wenn wir die Schulen aufmachen, das nicht verhindern, und die Rechnung sagt einfach, Kinder kriegen fast keine schweren Nebenwirkungen, und wir müssen uns irgendwann überlegen, ob wir dieses Risiko …
Zagatta: Aber auch Kinder oder Jüngere können sterben.
Kekulé: Natürlich können die sterben, aber ich sage mal, an der Influenza sterben auch im Jahr 25 bis 35 Kinder und in den Vereinigten Staaten etwa 150, ohne dass es eine besonders schwere Saison ist. Meine persönliche Meinung ist, wir müssen tatsächlich früher oder später uns die sehr, sehr schwere und natürlich unangenehme Frage stellen, ob wir bei COVID-19 eine Sterblichkeit wie bei der Influenza in Kauf nehmen, und wir haben wegen der Influenza ja auch keine Shutdowns gemacht.
Zagatta: Das würde aber dann unter Umständen bedeuten, wenn Kinder sich vermehrt wieder anstecken, dass sie zur Gefahr werden für die Familien, mit denen sie zwangsläufig in Berührung kommen, für Ältere und Vorerkrankte.
Kekulé: Na ja, das ist bei dem Leopoldina-Vorschlag ja auch inkludiert. Wenn Sie die Schulen aufmachen, gehen Sie genau dieses Risiko ein. Die Leopoldina schreibt das nur nicht in den Bericht rein, und ich bin schon der Meinung, dass man das gesellschaftlich offen diskutieren muss – die Frage, kann man Schulen öffnen, gerade Grundschulen, was hier gefordert wird, kann man die öffnen, ohne dass die Kinder sich infizieren und möglicherweise das dann auch in die Familien tragen. Die Leopoldina lehnt ja zugleich radikal ab, dass Risikogruppen speziell gesichert werden. Da sagen sie ganz klar, das ist eine Patronisierung, eine paternalistische Bevormundung, heißt es wörtlich, …
"Kita-Kinder können sich nicht an die Hygieneregeln halten"
Zagatta: Ältere isolieren?
Kekulé: Ältere isolieren, wobei Isolieren ja nicht heißt einsperren, sondern zum Beispiel mit speziellem Mundschutz ausstatten und besonderen Möglichkeiten, zum Beispiel Essen zu bestellen und solche Dinge. Das wird ja ganz klar abgelehnt und deshalb sagt die Leopoldina im Grunde genommen so eine gemischte Sache. Die Alten sollen keine Bevormundung haben und dürfen deshalb auch nicht speziell isoliert werden, auch die anderen Risikogruppen. Die Kinder in der Kita, die sollen aber zuhause bleiben, weil die Kitas wiederum nicht geöffnet werden sollen, weil man sagt, Kita-Kinder können sich nicht an die Hygieneregeln halten.
Ich sehe da noch ein paar Fragezeichen, die man im Laufe der Zeit beantworten muss, aber als Aufschlag, um das noch mal zu sagen, ist mir das ganz wichtig. Ich finde es sehr gut, dass diesmal die Fachleute der Leopoldina nicht wie sonst von Virologen und Epidemiologen dominiert waren, sondern dass einfach mal die Menschen und Spezialisten aus anderen Gesellschaftsbereichen ihre Wünsche geäußert haben. Das finde ich ganz wichtig, weil dies das Bild jetzt komplettiert und doch ein größeres Meinungsbild gibt auch von den Wissenschaftlern. Das muss man dann natürlich mit den leider epidemiologischen knallharten Tatsachen abgleichen.
Zagatta: Wenn die Leopoldina jetzt fordert, das Sterberisiko besser zu berücksichtigen – Sie haben das ja eben auch angedeutet -, das würde ja darauf hinauslaufen zu unterscheiden, ob man mit Corona stirbt oder an Corona. Würde die Statistik dann ganz anders aussehen und die Gefahr unter Umständen auch relativiert werden?
Kekulé: Das ist natürlich eine Spekulation, dass sich da was ändern würde. Wir haben ja den Ausbruch in China, wir haben einen großen Ausbruch in Südkorea gehabt, in Norditalien, auch in den Vereinigten Staaten werden ja ständig sehr viele Daten erhoben. Da sagt sich eigentlich relativ eindeutig, dass die Menschen, die hier sterben, wirklich an Corona sterben, vor allem, wenn es ältere Menschen sind. Bei Personen über 70 Jahren ist das Sterberisiko deutlich über fünf Prozent. Das ist richtig gefährlich, diese Erkrankung.
Bei Menschen unter 20 Jahren ist wesentlich weniger Risiko als eine schwere Influenza. Diese Tatsache, die steht, glaube ich, jetzt schon fest soweit und würde aus meiner Sicht reichen, um mal grundsätzlich eine Strategie zu entwerfen. Die Leopoldina stellt – das sind ja Wissenschaftler; das ist auch richtig so, dass die die Frage stellen -, die stellt die Frage, was können wir noch genauer untersuchen, wo brauchen wir noch mehr Daten, wo können wir vielleicht genauere Entscheidungsgrundlagen haben. Das Problem ist nur: Wenn man die Wunschliste der Leopoldina gerade in dem aktuellen Bericht hier jetzt abarbeiten würde, dann bräuchten wir noch ein Jahr ungefähr, bis wir der Politik konkrete Empfehlungen machen könnten, wie sie den Lockdown beenden, und das ist offensichtlich nicht möglich.
"Zeitversetzter Schulbeginn wäre sinnvoll"
!Zagatta:!! Da gibt es ja ganz unterschiedliche Erwartungen an das Treffen morgen. Die eine ist, möglichst gemeinsam zu handeln. Jedes Bundesland macht das, was es für richtig hält, oder muss man gemeinsam handeln? Die Situation ist ja völlig unterschiedlich. Was empfehlen Sie für das Treffen für morgen?
Kekulé: Ich bin ja schon seit der Schweinegrippe und den vorherigen Ausbrüchen immer ein großer Verfechter gemeinsamer Entscheidungen. Ich habe früher sogar mal gefordert, dass das Robert-Koch-Institut hier bundeseinheitliche Hoheitsrechte bekommt. Es müssten sich dringend die Minister auf eine einheitliche Linie mit der Bundeskanzlerin festlegen. Ich hoffe auch, dass das stattfindet. Das heißt aber nicht, dass man Schulen zum Beispiel gleichzeitig beginnen darf. Es wäre hier sicher sinnvoll, das zeitversetzt zu machen, um genau diese Auswirkungen besser im Auge zu haben. Es dauert ja immer etwa zwei Wochen, bis man den Effekt von einer Maßnahme sieht, die man ergreift. Darum wäre mein Vorschlag, dass man, je nachdem, wann die Bundesländer dann die späteren Ferien auch haben, irgendwo sinnvoll anfängt und dann frühestens zwei Wochen später das nächste Bundesland mit Schulöffnungen nachzieht, weil man dann schon die Effekte sieht, die das gebracht hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.