In der Diskussion um die Lockerung der Kontaktsperre und anderer Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus wird immer die Reproduktionszahl R ins Feld geführt: Die Pandemie kommt zum Erliegen, wenn sie unter eins fällt, heißt es oft. Und ungefähr bei diesem Wert lag sie tatsächlich auch bereits Ende März – nach Berechnungen des Robert-Koch-Instituts. Also noch vor der Verhängung all der Einschränkungen. Waren die also vollkommen überflüssig?
Und: was verbirgt sich tatsächlich hinter diesem mathematischen Konstrukt? Die wichtigsten Fakten dazu im Überblick:
- Was ist die Reproduktionszahl R?
- Was verbirgt sich hinter der Basisreproduktionszahl?
- Wofür steht die Nettoreproduktionszahl?
- Welchen Wert müsste die Reproduktionszahl annehmen, um die Krankheit nachhaltig zurückzudrängen?
- Was würde es bedeuten, wenn die Reproduktionszahl wieder größer wird?
- Vor dem Lockdown lag die Nettoreproduktionszahl ungefähr bei eins. Waren die Maßnahmen, die daraufhin folgten, im Grunde genommen überflüssig?
- Welche anderen Indikatoren geben Auskunft über den Verlauf einer Infektionswelle?
Die Reproduktionszahl R ist ein Maß dafür, wie effizient sich eine Infektionskrankheit ausbreitet. Sie gibt an, wie viele weitere Menschen ein Infizierter ansteckt. Dabei werden zwei Größen unterschieden: die Basisreproduktionszahl, abgekürzt mit R0. Und die Nettoreproduktionszahl, die auch als effektive Reproduktionszahl bezeichnet wird, oft einfach nur R, oder auch Rt.
Die Basisreproduktionszahl gilt für den Fall, dass sich der Erreger frei ausbreiten kann, weil niemand in der Bevölkerung immun gegen ihn ist. Sie sagt aus: Wie viele Personen hat Patient null, der sogenannte Indexfall, infiziert? Damit gibt sie eine obere Grenze für die Ansteckungsrate eines Erregers an, eine Art Maximalgeschwindigkeit. Die Basisreproduktionszahl hängt ab von der Krankheit selbst: Für Masern liegt sie zwischen 16 und 18, für Polio bei rund 6. Für SARS-CoV-2 haben verschiedene Forschungsteams ermittelt: Zu Beginn der Pandemie hat ein Erkrankter im Mittel ungefähr drei weitere Menschen angesteckt. Das RKI gibt einen R0-Wert zwischen 2,4 und 3,3 an. Da die Basisreproduktionszahl den Zustand ganz am Anfang einer Epidemie beschreibt, ändert sie sich nicht mit der Zeit.
Breitet sich die Krankheit in der Bevölkerung aus, wächst auch die Zahl der Menschen, die immun werden – auf natürlichem Wege oder möglicherweise durch eine Impfung. Wird der Erreger weitergegeben, trifft er nun immer häufiger auf Menschen, denen er nichts mehr anhaben kann – für ihn ist das eine Sackgasse. Die Folge: Der Wert von R sinkt. Ein Kranker infiziert nun durchschnittlich weniger Menschen als zu Beginn der Krankheit. Aber nicht nur die Immunität kann die Reproduktionszahl nach unten drücken, sondern auch die räumliche Distanzierung der Betroffenen.
Fällt die Zahl dauerhaft unter eins, kommt die Krankheit allmählich zum Erliegen. Im Fall von SARS-CoV-2 müsste dazu der Anteil der Immunen an der Gesamtbevölkerung auf über 66 Prozent anwachsen, wenn man auf alle anderen Maßnahmen verzichten will. Da solch eine Herdenimmunität noch lange nicht erreicht ist, ist man auf andere Maßnahmen angewiesen, wie etwa eine sorgfältige Hygiene, Distanz zu den Mitmenschen und möglicherweise weitere Beschränkungen.
Steigt sie über eins, nimmt die Infektion an Fahrt auf und mündet in einen exponentiellen Anstieg der Fallzahlen – und schließlich in eine Überlastung des Gesundheitssystems.
Vor dem Lockdown lag die Nettoreproduktionszahl ungefähr bei eins. Waren die Maßnahmen, die daraufhin folgten, überflüssig?
Aufgrund der Unsicherheiten bei der Datenerhebung sind einzelne, absolute Werte der Nettoreproduktionszahl wenig geeignet, den Erfolg im Kampf gegen das Coronavirus zu beurteilen. Der Wert sollte dauerhaft unterhalb von eins liegen, um die Infektion zurückzudrängen. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts wäre er ab Ende März auch weiter gesunken, wenn nicht Ausbrüche in Pflegeheimen und Krankenhäuser das verhindert hätten. Die Reproduktionszahl alleine sei auch nicht ausreichend, um den Stand der Pandemie zu beurteilen.
Zum Beispiel die epidemische Kurve, also die Zahl der Neuinfektionen im Lauf der Zeit. Ende März stieg diese Kurve noch an. Außerdem die Verdopplungszeit, also das Intervall innerhalb dessen sich die Zahl der bestätigten Infektionen verdoppelt. Laut RKI muss aber auch im Auge behalten werden, wie sich die Zahl der Erkrankten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung und zu den Kapazitäten in den Krankenhäusern entwickelt.