Uli Blumenthal: Sind sich die Wissenschaftler und ihre Modelle einig?
Volkart Wildermuth: Eher nicht, die Prognosen liegen noch recht weit auseinander. Manche Modelle gehen davon aus, dass der Höhepunkt im Zentrum der Epidemie, also in Wuhan bereits überschritten ist. Andere Modelle rechnen damit erst im Herbst. Auch bei weiteren Kennzahlen gibt es große Unterschiede. Ich habe mit Sebastian Funk von der London School of Hygiene and Tropical Medicine gesprochen. Er hat seine Analyse schon am 12. Februar vorgestellt und prognostiziert, dass in sich eine Million Menschen in Wuhan anstecken werden, etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Damit gehört er zu den "Optimisten", denn andere gehen davon aus, dass sich deutlich mehr Menschen infizieren, weil es sich ja um ein neues Virus handelt, auf das unser Immunstem noch nicht vorbereitet ist.
Blumenthal: Wie kommt es denn zu diesen Unterschieden?
Wildermuth: Mathematische Modelle rechnen exakt, aber die Ergebnisse sind nur so gut, wie die Daten, die man hineinsteckt. Und dabei gibt es große Unsicherheiten. Wie leicht verbreitet sich das Virus? Manche vermuten, dass Dank der Quarantäne in China ein Patient nur ungefähr eine andere Person ansteckt. Es gibt aber auch Schätzungen, dass es zu vier weiteren Infektionen kommt. Dann die Frage, wie gefährlich der Erreger ist. Erst sah es so aus, als ob von hundert Infizierten zwei, drei oder gar vier sterben würden. Eine gut dokumentierte Untersuchung aus Japan schätzt die Todesrate jetzt nur noch auf ein Zehntel ein. Solche Unterschiede in den Ausgangsdaten werden in den mathematischen Modellen verstärkt. Daher kommt es zu den sehr unterschiedlichen Prognosen.
Blumenthal: Woran liegt es, dass die Datenlage so unübersichtlich ist?
Wildermuth: In China geht es im Moment vor allem darum, mit der Flut der Patienten zurechtzukommen. Nebenher noch Studien zur Übertragbarkeit oder Sterblichkeit zu machen, ist schwer. Die gemeldeten Zahlen hinken der tatsächlichen Entwicklung auch hinterher, das ist ganz normal. Und manchmal hat der Berliner Virologe Christian Drosten auch den Eindruck, dass die Zahlen weniger den tatsächlichen Verlauf der Infektion wiederspiegeln, als die Kapazität der Testlaboren. Deshalb ist es so wichtig, dass die wenigen Infizierten in Deutschland oder auch in Japan so genau untersucht werden. Bei ihnen lassen sich viele Eigenschaften des Virus ganz in Ruhe bestimmen und das kann man dann wieder nutzen, um die Zahlen aus China besser zu interpretieren. Gérard Krause vom Helmholzentrum für Infektionsforschung in Braunschweig hat eine Handy-App für medizinisches Personal entwickelt. SORMAS heißt die und hilft, in einem Ausbruch alle Aktivitäten zu koordinieren. Sozusagen nebenbei werden auch Daten über den Erreger gesammelt. Im Moment ist SORMAS in Nigeria und Ghana im Einsatz, mit einem frisch programmierten Corona-Modul kann sie helfen, einen Ausbruch schnell zu erkennen. Solche digitalen Tools werden in Zukunft helfen, die nötigen Daten schneller zu erhalten.
Blumenthal: Wenn die Prognosen so weit auseinanderliegen, ist es dann überhaupt sinnvoll, die Modelle durchzurechnen?
Wildermuth: Gérard Krause plädiert hier im Moment für Skepsis. Sebastian Funk sieht das naturgemäß anders. Erstens werden die Prognosen besser, wenn die verlässlicheren Informationen vorliegen. Zweitens helfen Modelle, Szenarien durchspielen. Welche Flugverbindungen sind besonders wichtig für die Verbreitung des Virus, was bringt es, Schulen zu schließen? Also bei den Modellen sollte man weniger auf dramatische Zahlen gucken, sondern innerhalb der Modelle verschiede Varianten vergleichen, dann kann man dann tatsächlich etwas lernen. Und dann ist es auch so, dass sich die Prognosen annähern. Zum Beispiel sagen inzwischen eine ganze Reihe von Modellen voraus, dass der Ausbruch in Wuhan im Februar bis April seinen Höhepunkt überschreiten wird. Das bekommt dann mehr Gewicht. Die Weltgesundheitsorganisation geht sogar dazu über, dieselben Daten von verschiedenen Mathematikerteams modellieren zu lassen, um die mögliche Bandbreite der Entwicklung besser abschätzen zu können.
Blumenthal: Was sagen die Modelle denn zur Frage, ob eine Pandemie kommt?
Wildermuth: Die meisten Modelle konzentrieren sich auf Wuhan, einige verfolgen mögliche globale Ausbreitungswege des neuen Coronavirus. Zur Frage einer Pandemie machen sie direkt meist keine Aussage. Aber in den verschiedenen Gesprächen, die ich geführt habe, wird doch klar: Mit den unabhängigen Ausbrüchen in Südkorea, in Italien lässt sich eine Pandemie kaum noch verhindern. Das bedeutet auch, dass sich der Blickwinkel verändern muss. Es kommt nicht mehr so darauf an, jeden Fall nachzuverfolgen, nach Kontakten zu suchen, weil sich das Virus nicht mehr draußen halten lässt. Es geht vielmehr darum, die wohl unvermeidliche Verbreitung in jedem Land hinauszuzögern, um die Belastung für die Krankenhäuser über einen größeren Zeitraum zu verteilen. Um die abzuschätzen, kommt es dann weniger auf die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus an, die im Moment im Vordergrund steht. Wichtiger werden der Anteil der Menschen, die sich anstecken werden, und die Sterblichkeit. Wenn man da optimistische Annahmen macht und ohne kompliziertes Modell einfach mal eine Überschlagsrechnung macht, dürfte eine Covid-19-Epidemie in Deutschland ganz grob geschätzt mindestens drei Mal so viele Todesfälle verursachen, wie die heftige Grippesaison 2017/18. Schon da waren die Krankenhäuser am Limit, deshalb lohnt es sich auch, schon jetzt Vorbereitungen zu treffen.