Nach Italien ist Spanien in Europa das Land mit den meisten Coronavirus-Fällen. Die Zahl der Todesopfer stieg laut Gesundheitsministerium am Wochenende auf mehr als 6.500. Um eine weitere Ausbreitung der Pandemie zu verhindern, werden in Spanien ab heute alle nicht lebenswichtigen Unternehmen geschlossen. Bereits seit dem 14. März gilt eine Ausgangssperre, die jetzt bis mindestens zum 12. April verlängert wurde.
Die Bevölkerung protestiere nicht gegen die strikten Maßnahmen, berichtete die Politikwissenschaftlerin Susanne Gratius aus Madrid. "Generell wird das akzeptiert, überwiegend zumindest", sagte sie. Die Menschen trauten sich kaum auf die Straße, aus Angst vor Ansteckung. Nichts funktioniere mehr, alle arbeiteten online.
Keine Antwort aus Europa
"Die Regierung hat spät reagiert und dann sehr drastisch", erklärte Gratius. Sie habe sich zu lange für die Rettung der Wirtschaft entschieden und zu spät für die Gesundheit. Das Gesundheitssystem sei kollabiert. Nun diskutierten alle darüber, wann die Infektionkurve ihren höchsten Stand erreichen werde. Gratius kritisiert auch die EU: Diese habe sich "nicht sehr solidarisch verhalten". Ein Beispiel seien Ausfuhrstopps von Beatmungsgeräten.
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Sarah Zerback: Wie hat denn die Krise mit all ihren Maßnahmen bisher schon den Alltag in Ihrem Land verändert?
Susanne Gratius: Ja, ziemlich drastisch, würde ich sagen. Die Lage, wie Sie gesagt haben, ist ja wirklich dramatisch. Es sterben jeden Tag 350 Menschen, wie Sie gesagt haben, und die Leute trauen sich auch kaum noch aus dem Haus – vor allem in Madrid. Die Ausgangssperre gilt ja jetzt seit über zwei Wochen und wird jetzt hier noch fast zwei Wochen weitergehen. Das bedeutet, dass man nur noch in Apotheken gehen kann und in den Supermarkt, um das Lebenswichtigste zu besorgen. Es funktioniert fast nichts mehr. Alle arbeiten online, wir auch an den Universitäten. An Online-Unterricht haben wir uns zwangsläufig sehr schnell gewöhnt und das wird so wohl auch einige Zeit noch weitergehen. Freundinnen von mir gehen jetzt seit einer Woche oder seit zehn Tagen nicht mehr aus dem Haus, um sich nicht anzustecken.
Zerback: Sie sagen, Sie haben sich daran gewöhnt. Sehen Sie da eine große Akzeptanz in der spanischen Bevölkerung, oder gibt es auch Protest gegen diese drastischen Einschränkungen?
Gratius: Bisher hört man hier offiziell von Protesten nicht so viel. Es gibt sehr drastische Maßnahmen. Wenn man jetzt zum Beispiel zum Einkaufen geht und jetzt eine halbe Stunde länger braucht, dann werden gleich 600 Euro Sanktionen verhängt. Das ist schon eine sehr scharfe Kontrolle. Das wird in Katalonien jetzt vielleicht nicht so akzeptiert wie in anderen Landesteilen, aber es wird generell wohl doch respektiert, weil niemand möchte natürlich an diesem Corona-Virus sterben und auch niemanden anstecken. Das ist klar. Das wird bislang überwiegend akzeptiert, aber wer weiß, wie lange noch. Das kommt darauf an, wie lange diese Maßnahmen noch gelten werden.
"Die Regierung hat sehr spät reagiert"
Zerback: In Deutschland und in anderen Ländern auch, da wird ja bereits darüber diskutiert, wie man zurück zur Normalität finden kann. Stellt sich diese Frage in Spanien überhaupt schon, oder sind Sie da noch an einem ganz anderen Punkt?
Gratius: Es geht jetzt erst mal darum, wann die Kurve denn den höchsten Stand erreicht hat. Das ist die Hauptdebatte in Spanien. Es geht ständig um diese Kurve. Wenn das dann erreicht ist, dann recht man noch mindestens zwei Wochen. Ich schätze mal, bis Ende April wird sich die Situation wohl nicht ändern, und normalisieren wird sie sich wohl erst sehr spät. Wir wissen ja auch nicht, ob im Sommer dieser Virus noch aktiv ist. Das sind ja alles Fragen, die kann niemand beantworten.
Wie gesagt, die Regierung hat sehr spät reagiert, aber dann sehr drastisch, aber wie gesagt zu spät. Man hat ja auch keine Tests durchgeführt. Die Tests waren defekt zum Teil. Bislang gibt es relativ wenig Kritik an der Regierung, aber wenn sie sich wirklich der Verantwortung stellen müssen, dann wird es sicherlich eine große Abrechnung geben.
"Es geht ja immer darum, Wirtschaft oder Gesundheit"
Zerback: Sehen Sie darin denn auch den Grund, dass Spanien nach Italien das Land mit den meisten Corona-Fällen weltweit ist? Die USA laufen dem Ganzen gerade den Rang ab, aber das sind ja leider die Top drei in dieser traurigen Statistik. Und die Ansteckungsrate war ja zeitweise sogar noch höher. Die wird ja nur allmählich flacher. Ist das die Erklärung dafür, oder gibt es dafür mehrere Gründe in Spanien?
Gratius: Auf den ersten Blick ist das schon die Erklärung. Man hat zu spät reagiert. Man wusste es seit Ende Dezember scheinbar. Es geht ja immer darum, Wirtschaft oder Gesundheit. Das ist ja die Frage. Man hat sich dann erst für die Wirtschaft entschieden und zu spät für die Gesundheit.
Das Problem ist auch strukturell. Spanien ist das Land mit sehr geringen Gesundheitsausgaben. Man hat ja drastisch gekürzt. Das ist ja wie ein Bumerang. Erst hatten wir 2008 die Finanzkrise, dann wurde drastisch gekürzt bei Bildung und Gesundheit, und jetzt kriegen wir die Rechnung präsentiert. Und dazu noch: Die EU hat sich ja nicht sehr solidarisch verhalten, keine gemeinsamen Maßnahmen, kaum Hilfe aus den europäischen Staaten. Es gab ja sogar Ausfuhrstopps für diese Beatmungsgeräte, von denen Spanien ja nur 2700 hatte. Im Vergleich zu Deutschland: Die hatten, glaube ich, 28.000. Das ist schon sehr, sehr drastisch, dieser Unterschied auch im Gesundheitssystem. Es fehlen keine Ärzte, aber es fehlen vor allem Krankenpfleger und Krankenschwestern. Dann hat man Leute aus dem letzten Semester, Studenten verpflichtet. Die Lage ist schon sehr, sehr dramatisch und aus Europa kommt kaum eine Antwort. Das ist schon ein großes Problem auch für die Europäische Union, die sich jetzt nicht als Union herausstellt. So sieht man das zumindest in Spanien.
"Es gibt keine Tests, es gibt kaum Material"
Zerback: Diese Solidarität, von der Sie sprechen, die hat ja auch der Regierungschef am Wochenende noch einmal gefordert, dass Europa da auch die Schuldenlast gemeinschaftlich trägt, die gerade entsteht – auch über sogenannte Corona-Bonds, die ja von Deutschland abgelehnt werden zurzeit. Stellt da die Corona-Krise auch Europa auf die Probe?
Gratius: Ja, allerdings! Das ist so ähnlich wie 2008, würde ich sagen. Wir haben dieselbe Situation ein bisschen. Die Niederlande und Deutschland blockieren ja einen solchen Schritt. Das wird in Spanien natürlich sehr negativ interpretiert. Wir haben hier jetzt erst mal diesen Konflikt, der sich vielleicht in zwei Wochen hoffentlich lösen wird – dadurch, dass man dann gemeinsame Maßnahmen trifft. Wir haben ja auch keine gemeinsamen Statistiken. Das ist schon sehr interessant, diese Krise. Das wird ja alles ganz anders gewertet. Wie viele Tote es gibt, das kann man auch nicht unbedingt alles auf den Corona-Virus zurückführen. Es gibt auch viele Tote, bei denen hat man vorher gar keinen Test gemacht. Das Problem in Spanien: Es gibt keine Tests, es gibt kaum Material, das Material kommt nicht an, und das einzige Land, das liefert, ist China, aber wie gesagt: defekte Tests.
"Es fehlen Ärzte, es fehlen Krankenschwestern"
Zerback: Das sind dann doch wieder Probleme, die leider viele Länder teilen. In Deutschland führen wir gerade eine Debatte darüber, wirtschaftliche gegen medizinische Kriterien abzuwägen. Da gibt es einige, die sagen, sie finden das zynisch. Zum Beispiel Madrid: Da wurden lange keine Maßnahmen ergriffen. Ich habe da die Regionalpräsidentin im Ohr. Die hat vor kurzem im Fernsehen gesagt, ich weiß gar nicht, wie man Madrid abriegelt. Wurde da vielleicht auch zu lange das wirtschaftliche und politische Zentrum des Landes nicht angerührt, um es nicht zu gefährden?
Gratius: Ja, man hat die Maßnahmen dann ganz allgemein getroffen, nicht nur Madrid isoliert, sondern das ganze Land. Das war vielleicht auch sinnvoll, um das Land praktisch stillzustellen, damit das Gesundheitssystem nicht ganz kollabiert. Das ist ja jetzt eigentlich kollabiert. Es fehlen Ärzte, es fehlen Krankenschwestern. Diesen Applaus, den wir immer um acht Uhr abends jetzt den Ärzten und dem Krankenpersonal geben, das ist ja ein Symbol dafür, das sind ja wirklich die Helden dieser tragischen Geschichte. Die Regierung hat ja kaum Unterstützung da geboten. Das ist ein riesen Problem und das wird sich vielleicht auch zu einer politischen Krise auswirken, wenn es denn irgendwann mal vorbei ist. Wir wissen ja nicht wann, niemand weiß es.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.