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Coronavirus
Menschen mit Behinderung fühlen sich im Stich gelassen

Menschen mit Behinderung sind von den Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie oft besonders hart getroffen. Viele befinden sich seit März quasi in Selbstisolation, weil sie ein hohes Risiko eines schweren Corona-Verlaufs haben. Im Impfplan fallen sie trotzdem in Stufe zwei und fühlen sich übergangen.

Von Moritz Küpper |
Eine Frau betrachtet in Langenhagen bei Hannover einen Verkaufsartikel durch eine am Einkaufswagen einer Drogeriekette angebrachte Lupe.
Beim Einkaufen müssen viele Menschen mit Sehbehinderung Produkte in die Hand nehmen (picture-alliance/ dpa/Jochen Lübke)
Ein Drogeriemarkt im Kölner Stadtteil Sülz. Saskia von der Burg, 44 Jahre alt, steht – seit einigen Augenblicken – vor dem Regal mit Haarwaschmitteln.
"Ich suche von Kneipp so Duschgel."
Langsam fährt ihr Kopf hin und her – es dauert wirklich ein bisschen:
"Guck mal, stand doch richtig, habe nur zu hoch geguckt."
Sie greift vorsichtig in das Regal. Von der Burg ist – wie es heißt – hochgradig sehbehindert. Da der Sehnerv betroffen ist, kann sie mitunter zwar Silhouetten, auch Farben erkennen, aber alles andere dauert, fällt schwer – und führt momentan zu noch mehr Problemen als ohnehin schon:
"Ich muss ja Sachen in die Hand nehmen, um zu erkennen, was es ist. Ich muss es also nahe ans Auge halten. Oder ertasten. Soll man ja eigentlich nicht, muss ich aber machen und ich brauche vor einem Regal einfach länger als jemand anders. Es passiert aber wirklich jedes Mal, dass da irgendeiner von der Seite kommt, in 30 Zentimeter Abstand, ‚ich greife mal kurz über sie drüber, ja? Dankeschön.‘"

"Ich kann zum Beispiel FFP2-Masken nicht tragen"

Von der Burg steht draußen an der frischen Luft, ein paar Meter vom Drogeriemarkt entfernt, zuckt mit den Achseln:
"Also, das man dann vielleicht nicht noch mal sagt: 'Entschuldigung, ich habe es eilig, können sie mal einen Schritt zu Seite gehen bitte.' So was. Diese Gedankenlosigkeit der Leute ist halt für mich beim einkaufen totaler Stress."
Zumal: Durch die Maske ist von der Burgs Sehfeld noch einmal mehr eingeschränkt. Seit März arbeitet sie, die beim Deutschlandradio in der Online-Redaktion beschäftigt ist, daher im Homeoffice, geht höchstens einmal die Woche noch zum Einkaufen, lässt eher liefern. Denn: Von der Burgs Risiko ist groß:
"Ich habe zum Beispiel, aufgrund eines Luftröhrenschnitts, den ich mit fünf Jahren hatte, habe ich ein Atemvolumen von 60 Prozent. Das heißt: Ich kann zum Beispiel FFP2-Masken nicht tragen, da bekomme ich überhaupt keine Luft durch. Trage deswegen halt, wenn, nur diese ganz einfachen Einmalmasken und selbst dadurch ist es schwierig. Also, Laufen ist schwierig, längere Zeit das aufhaben. Ich könnte mich theoretisch befreien lassen, nur dann müsste ich jedes Mal, wenn ich ins Geschäft gehe, rumdiskutieren, mich erklären und da habe ich auf Dauer auch keine Lust mehr drauf."
Was man über FFP2-Masken wissen muss
Wissenschaftler fordern in der Pandemie schon lange das Tragen von FFP2-Masken im öffentlichen Raum. Denn diese können den Träger als auch Mitmenschen schützen – wenn sie richtig getragen werden.
Von der Burg lebt selbstständig. Sport, Freunde treffen, Reisen – das sind ihre Hobbys, seit Corona – klar – nicht mehr möglich. Doch ihr persönliches Risiko ist – bei dieser Lungenleistung und der fehlenden Maskenschutz-Möglichkeit – natürlich deutlich höher:
"Jetzt kommen die Einschläge natürlich auch näher. Und dadurch, dass die Leute auch relativ rücksichtslos sind, was Abstände angeht, wo ich ja nicht drauf reagieren kann. Das heißt, ich muss hoffen, dass die anderen den Abstand einhalten, weil ich es halt nicht sehen kann in dem Moment, steigt das schon. Also, das stresst mich auch wahnsinnig, das merke ich auch physisch."

"Diese Gruppe befindet sich seit März in Selbstisolation"

Der Inklusionsaktivist Ralf Krauthausen hatte kürzlich bereits im Deutschlandfunk gefordert:
"Was viele Menschen mit Behinderungen irritiert, ist, dass ständig die Politik davon ausgeht, dass Menschen, die behindert sind, eine chronische Erkrankung haben, in Einrichtungen leben, in Behindertenheimen, in Pflegeheimen. Dabei lebt ein Großteil von ihnen zuhause und diese Gruppe befindet sich seit März in Selbstisolation und wird die ganze Zeit vergessen, wenn es um passiven oder aktiven Schutz geht. Und jetzt werden wir auch, obwohl wir alle optimistisch waren, bei den Auflistungen der Phasen, wer wann geimpft werden soll, komplett vergessen."
Raul Krauthausen
Krauthausen: Menschen mit Behinderung werden vergessen
Der Aktivist Raul Krauthausen kritisiert im Deutschlandfunk große Mängel beim Schutz von Menschen mit Behinderung in der Pandemie. Krauthausen unterstützt auch die Initiative Zero Covid.
Das hat auch von der Burg feststellen müssen. Zwar müsste sie in Impfgruppe zwei sein, also mit den über 70-Jährigen, die in einigen Monaten dran sein sollen, aber:
"Ich habe bei der Stadt Köln beim Gesundheitsamt nachgefragt, wie das mit Impfen ist. Die wussten nichts, sagten: Fragen Sie ihren Hausarzt. Der Hausarzt schrieb mir eine E-Mail und sagte: Ich weiß es auch nicht, fragen sie mal die Krankenkasse und die Krankenkasse habe ich angerufen und habe gefragt, ob es möglich ist, dieses Lungenvolumen, diese 60 Prozent, mal festzuhalten, damit man mal wenigstens was in der Hand hat, in welche Impfgruppe man dann gehören könnte. Und ich bekam die Antwort: Nein, das dürfen wir aus Datenschutzgründen nicht. Was ich etwas befremdlich fand, weil ansonsten wissen die auch welche Medikamente ich nehme, die haben meinen Schwerbehinderten-Ausweis."
Wer sich in diesen Tagen bei den zuständigen Einrichtungen und Personen umhört, stellt fest, dass die Sorgen und Nöte von Menschen mit Einschränkungen aktuell nicht – oder zu wenig – gehört werden: Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung fordern einen schnelleren Zugang zu Impfungen:
"Angesichts der im Moment nach wir vor starken Zahlen und auch der Mutation des Virus, kann man schon sagen, dass es wünschenswert wäre, wenn gerade diese Personen, Trisomie 21 ist zum Beispiel auch von einer sehr hohen Sterblichkeit von Corona betroffen. Da wäre es schon wünschenswert, wenn die auch jetzt in dieser ersten Phase vielleicht berücksichtigt werden können", sagt Philipp Peters, Sprecher der Lebenshilfe NRW.

Interessen von Menschen mit Behinderung wenig gesehen

Auch Claudia Middendorf, die Landesbehindertenbeauftragte in NRW, hält fest, dass die Interessen von Menschen mit Behinderung zu wenig gesehen werden: "Ich glaube, das ist noch nicht mal absichtlich, sondern ich glaube einfach, wir haben jetzt immer den Fokus auf Seniorenheime, ältere Menschen, die sehr vulnerabel sind. Und damit vergessen wir noch andere gesellschaftliche Gruppen, die auch vulnerabel sind und die auch eine Problemlage haben und das sind die Menschen mit Behinderung."
Joachim Stamp (FDP), Kinder- und Familienminister und stellvertretender Ministerpräsident von NRW
Stamp (FDP): Wir sollten eine Corona-Notbremse verabreden
Bund und Länder sollten jetzt einen Plan vorbereiten, wie man auf steigende Infektionszahlen reagieren könne, sagte der stellvertretende Ministerpräsident von NRW im Dlf. Aktuell seien aber keine Verschärfungen nötig.
Für von der Burg ist dagegen klar: Es fehlt einfach die Lobby, eine Stimme:
"Weil, nicht jeder hat die Energie oder auch das Standing, dann auch konkret für seine Belange einzustehen und sich zu erkundigen oder kann es dann auch einfach nicht. Und, weiß ich nicht, offensichtlich sind Autokonzerne, Luftfahrt, Schulen wichtiger im Moment."
Auf Nachfrage dieses Senders stellt NRWs Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, CDU, zwar klar, dass Menschen mit Behinderungen beim Impfen in Gruppe zwei fallen und sagt auch:
"Vielleicht wird ja die Forderung des Bundes in dieser Woche bisschen verändert, dass es auch Einzelfallentscheidungen geben kann, weil vielleicht jetzt die Ständige Impfkommission durchsickern lässt: Naja, so ganz schemenhaft, wie wir es gemacht haben, können wir es vielleicht nicht machen. Aber, wenn wir dann Einzelfall-Entscheidung kriegen, dann stelle ich mir auch die Frage: Wer trifft die? Also, das muss man sich ja dann auch gut überlegen."
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Saskia von der Burg, so scheint es, muss weiterhin alleine klarkommen – beim Impfen und auch im Alltag. Sie läuft wieder durch die Gänge des Drogeriemarkts:
"Hier drin ist es jetzt auch noch warm, da wird das mit dem Atem echt schwierig."
Aber es geht – noch:
"Wenn das hier in Nordrhein-Westfalen genauso kommt wie in Bayern, dass man also quasi im öffentlichen Nahverkehr und im Einzelhandel FFP2-Masken tragen muss, bedeutet das für mich, dass meine Bewegungsfreiheit und mein Alltag noch mehr eingeschränkt wird. Weil dann kann ich weder ins Geschäft gehen noch mit der Bahn fahren, weil ich mit den FFP2-Masken eben absolut keine Luft bekomme."