Lennart Pyritz: Gefühlt im Stundentakt gibt es derzeit neue Nachrichten zum Coronavirus. Denn in den vergangenen Tagen hat offensichtlich eine neue Phase der Epidemie begonnen. Immer mehr Länder melden Infektionen. In Südkorea, Italien und dem Iran breitet sich das Virus derzeit schnell aus. Inzwischen haben auch Österreich und Kroatien erste Fälle gemeldet. Wie sind die neuen Ausbruchsherde entstanden? Ist die Grenze zur Pandemie überschritten? Und was bedeutet das für den Kampf gegen das Virus? Zu diesen Fragen habe ich kurz vor der Sendung mit Christian Lindmeier telefoniert, Sprecher der Weltgesundheitsorganisation WHO in Genf. Meine erste Frage an ihn war: Wie schätzt die WHO die aktuelle Lage zur Corona-Epidemie ein?
Christian Lindmeier: Die Tatsache, dass sie sich in viele Länder oder in mehrere Länder verbreitet, war ja nicht das Unerwartete. Was uns allerdings durchaus Sorge bereitet, ist die Tatsache, dass wir jetzt in etlichen Ländern diese Weiterverbreitung haben. Diese Fälle in Italien zum Beispiel, im Iran oder in Korea sind natürlich mehr, als wir bis jetzt gesehen haben.
Die Fälle in Italien zeigen (noch) keine Verbindung zu China
Bis dahin hatten wir nur Einzelfälle, eins, zwei, drei, zehn, zwölf Leute, die sich aus einem bestimmten Fall von einem Reisenden in dem Fall angesteckt haben. Da war also auch die klare Verbindung epidemiologisch zu dem Ursprungsausbruch in China erkennbar. Das ist jetzt mit einigen dieser Fälle nicht mehr ganz so leicht erkennbar. Wir müssen allerdings erst mal rausfinden wieso. Liegt es am Virus? Liegt es an einer asymptomatischen Verhaltensweise? Oder woran liegt es? Das ist noch nicht ganz klar.
Pyritz: Ist die Grenze zur Pandemie, um das oft gehörte Wort mal zu verwenden, damit überschritten?
Lindmeier: Der Begriff Pandemie ist im Moment ein sehr gefragter, aber leider auch nicht ganz genau umrissener. Und das macht die Situation etwas schwieriger. Pandemie beschreibt etwas, das unkontrolliert in mehreren Ländern Mensch-zu-Mensch-Übertragung vorsieht, und zwar fortgesetzte Mensch-zu-Mensch-Übertragung. Die Definition "mehrere" ist hier auch nicht festgelegt.
Pandemie - ein schwammiger Begriff
Weil diese Definition der Pandemie mit seinen Phasen sehr missverständlich war bei dem letzten größeren Ausbruch – das war die H1N1, der sogenannte Schweinegrippeausbruch in 2009 –, hat sich die internationale Staatengemeinschaft viel mehr darauf festgelegt, den Begriff des internationalen Gesundheitsnotstandes zu forcieren. Und das ist wieder das, was passiert ist. Dieser sogenannte Public Health Emergency of International Concern ist ein feststehender Begriff, der auch im Vertragswerk zwischen mehr als 190 Mitgliedsstaaten der WHO festgelegt ist. Dieses wurde ausgerufen mittlerweile schon vor über einem Monat, auf Anraten eines unabhängigen Expertengremiums. Das ist der Begriff, der als Wegmarke sozusagen festgesetzt wurde, und seitdem sind alle weiteren Pläne, alles Vorangehen auf nationaler Ebene durchaus in der Verantwortung der nationalen Behörden.
Pyritz: Würden sich die Strategien oder die Handlungsmöglichkeiten der WHO noch mal verändern, wenn offiziell von einer Pandemie gesprochen würde?
Lindmeier: Die Handlungsmöglichkeiten ergeben sich immer auf nationaler Ebene. Eine globale Pandemie heißt ja nicht dasselbe in Europa, wie es vielleicht in Asien oder in Südamerika hieße. Nehmen wir Europa alleine: Die Situation in Deutschland im Moment ist sicher anders als die Situation in Italien. Deswegen lässt sich da nicht ein Tuch über alles legen oder eine Decke über alles ziehen, und sagen, wir haben jetzt den Zustand X, Y oder Z. Das muss national entschieden werden, und die Antwort muss auch national jedes Mal angepasst werden.
Ob Epidemie oder Pandemie - am Vorgehen ändert das nichts
Auf WHO-Ebene ändert sich gar nichts, je nachdem, wie das Kind genannt wird. Wir arbeiten im Moment mit allen nationalen Behörden zusammen, so wie es sich ergibt. Wir versuchen, die Forschung und die Wissenschaft zu koordinieren, um möglichst schnell voranzukommen. Wir stellen Empfehlungen zur Verfügung, um am besten gegen dieses Virus vorzugehen. Da ändert es nichts, ob es Epidemie, Pandemie oder was auch immer genannt wird.
Pyritz: Am vergangenen Freitag hat die WHO darauf hingewiesen, dass sie dringend mehr Geld braucht, um gegen das neue Coronavirus vorzugehen. Da war von 600 Millionen Euro die Rede und aber auch davon, dass die Finanzmittel eher langsam fließen. Jetzt hat die EU-Kommission gestern 230 Millionen Euro für den weltweiten Kampf gegen die Verbreitung des Coronavirus zur Verfügung gestellt. Wie viel Geld fehlt noch, wo könnte das herkommen, und welche Faktoren könnten dafür sorgen, dass das schneller fließt?
Lindmeier: Das sind natürlich eine hervorragende Nachricht, dass die EU, aber auch Einzelländer – Deutschland gehört dazu und Holland – Gelder zur Verfügung gestellt haben. Das ist hervorragend. Also der Plan, wie er aufgestellt war, hatte einen Umfang von 675 Millionen US-Dollar, der Anteil, den die WHO beansprucht hatte, war nicht mal zehn Prozent davon. Der Rest ist, um in Ländern eben Maßnahmen zu veranlassen, damit diese Länder vorbereitet sind auf den Kampf gegen das Virus.
Dauert der Kampf länger, wird mehr Geld nötig
Der Plan war allerdings auch, soweit ich weiß, bis Ende April nur festgelegt. Das heißt: Wenn wir den Kampf länger haben, wird das Geld natürlich auch länger benötigt und werden auch mehr Mittel benötigt. Es braucht ja immer wieder neue Tests, es braucht neues medizinisches Material, es braucht vielleicht dann die Entwicklung des Impfstoffes und, und, und. Also es kommen einige Mehrkosten. Es ist nicht eine feststehende Summe, es ist ein sich bewegendes Ziel sozusagen, das immer wieder neu angepasst und neu aufgestellt werden muss. Und vermutlich haben natürlich auch die Entwicklungen über das Wochenende hinaus jetzt die internationale Staatengemeinschaft dazu gebracht, dass die Wichtigkeit durchaus erkannt wird.
Pyritz: Sie meinten, die WHO beansprucht sozusagen nur einen kleinen Teil für sich selbst. Der größte Teil wird in die Länder weitergeleitet, an die dortigen Gesundheitssysteme. Vielleicht können Sie da diese über die WHO koordinierten Finanzströme noch mal ein bisschen beschreiben. Wie funktioniert da die internationale Zusammenarbeit und eben die Verteilung dieser Gelder, die jetzt gegen das Virus eingesetzt werden?
Lindmeier: Um es vielleicht noch mal an einem Beispiel klarzumachen: Wenn wir über Masken oder Schutzanzüge oder ähnliches Material reden, über diese Diagnosetests, diese Rapid Diagnostic tests, oder alles, was dazugehört – es braucht ja nicht nur Tests, es braucht ja Reagenzgläser, es braucht Pipetten, es braucht Maschinen, es braucht Personal, die das bedienen können. All das muss ja erst mal hergestellt werden, dann zur Verfügung gestellt werden und dann natürlich auch seinen Weg in die jeweiligen Länder finden. Da gibt es Länder, die haben ihre Eigenproduktionen, sind da bestens aufgestellt. Und dann gibt es Länder, die haben diese Produktion, diese Kapazität nicht, dort muss es hingebracht werden.
Herausforderungen an die Logistik
Dann muss natürlich das medizinische Verbrauchsmaterial immer wieder erneuert werden. Also Masken, Schutzanzüge sind ja nichts, was man einmal verwendet und gut ist. Da muss oder kann die WHO natürlich regulierend und koordinierend zur Verfügung stehen, über die Länderbüros, die wir haben, über die Berichte, die wir von den Länderbüros von den nationalen Behörden kriegen, um genau zu sagen: Wir benötigen in den nächsten Monaten voraussichtlich Summe X beziehungsweise Material Y und stellt uns das zur Verfügung. Das ist eine schwerwiegende Rolle der WHO, immer wissend, dass natürlich eine Veränderung der Situation wiederum eine Veränderung der benötigten Mittel beziehungsweise der benötigten Materialien oder Medikamente veranlassen wird.
Pyritz: Mit Ebola in der Demokratischen Republik Kongo kämpft die WHO mit einem weiteren Ausbruch von großer Tragweite, der aber im Schatten des Coronavirus ein Stück weit aus dem öffentlichen Blick geraten ist. Auch da fehlen noch etwa 40 Millionen Euro, um die Arbeit in den nächsten Monaten fortzusetzen. Sind Sie zuversichtlich, dass das Geld da auch noch zusammenkommt? Oder hat sich jetzt auch der öffentliche Blick so auf das Coronavirus verengt?
Lindmeier: Die menschliche Natur ist ja fast schon so, dass wir uns immer nur auf einzelne Schwerpunkte konzentrieren können - und Ebola ist so ein bisschen aus der Erinnerung verschwunden, obwohl es noch lange nicht vorbei ist.
Das neue Coronavirus hat Ebola den Rang abgelaufen
Wir haben allerdings sehr gute Nachrichten aus der Republik Kongo. Und zwar sind wir seit sieben Tagen ohne neu gemeldete Fälle im Kongo. Das ist seit langer Zeit das erste Mal, und wir sind auf einem guten Weg dort. Aber ja, um aufs Geld zu kommen: Auch dort wird ständig neues Material, neues Geld gebraucht. Es zeigt sich auch, dass meistens doch irgendwo diese Gelder noch herkommen, auch wenn es aus einem Emergency Fund oder Notfallfonds herbezogen werden muss. Es gibt immer wieder Möglichkeiten, Gott sei Dank, dieses zu ermöglichen. Aber ja: Wenn eine neue große Krise auftritt, werden die alten leider immer wieder überschattet.
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