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Zweifel an niedriger COVID-19-Sterblichkeit in Russland

Russland meldet eine auffällig niedrige COVID-19-Sterblichkeit. Je eine Million Einwohner zählt das Land nach amtlichen Angaben etwa 18 COVID-19-Tote. Russland liegt damit unter den Werten anderer Länder. Doch restlos erklären, lässt sich das nicht.

Von Thielko Grieß |
Der Arzt in voller Schutzkleidung steht an der Bettseite der Patientin, die unter einer weißen Decke liegt. Um sie herum Geräte, Kabel und Schläuche.
In Russland gibt es anders als in den USA und Italien keine übervollen Intensivstationen (Iliya Pitalev / Sputnik / dpa)
Russland steht gut da – das betont auch die politische Führung. "Wenn wir das Niveau der Sterblichkeit weltweit mit der in Russland ins Verhältnis setzen, so liegt sie bei uns zurzeit tatsächlich siebeneinhalb Mal niedriger", sagt Tatjana Golikowa, stellvertretende Ministerpräsidentin. Ähnlich hat Präsident Wladimir Putin mehrfach betont, die Situation sei besser als in anderen Ländern. Sind Russinnen und Russen gesünder? Sind sie immuner? Haben sie die besseren Ärzte? Das alles ist nicht wahrscheinlich. Stattdessen fallen vier Gründe ins Auge.
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Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Keine übervollen Intensivstationen
Erster Grund: Es gibt im Land keine übervollen Intensivstationen und folglich keine Bilder übervoller Leichenhallen, wie sie beispielsweise in Norditalien oder in den USA entstanden. Stattdessen wurden neuen Behandlungszentren geschaffen und Krankenhäuser umgewidmet, um ausschließlich COVID-19-Patienten zu behandeln. Die Hygienestandards, so erzählen es manche Patienten und auch Ärzte, seien zwar lückenhaft und Beatmungsgeräte aus russischer Produktion sind in Brand geraten - aber eine Behandlung ist, auch dank des oft übermenschlichen Einsatzes der Mediziner, fast immer möglich.
Der zweite Grund: Damit ein Verstorbener in der COVID-19-Statistik gezählt wird, braucht es einen positiven Test, wenn nötig auch nach dem Tod eines Patienten. Die Qualität dieser Tests jedoch hat selbst der Moskauer Bürgermeister bemängelt. So fallen eigentlich positive Fälle durch das Raster.
Vorwurf: Sterblichkeit künstlich niedrig zu halten
Der dritte Grund: Besteht ein COVID-19-Verdacht, muss ein Pathologe einen Toten obduzieren und danach entscheiden: Ist der Patient an oder mit dem Coronavirus gestorben?
Unabhängige Medien wie Meduza haben Ärzte und Verantwortliche in Verwaltungen befragt, wie entschieden wird. Die antworteten, teils anonym, viele Kollegen trauten sich nicht, COVID-19 als Todesursache anzugeben. Im Totenschein gäben sie als primäre Todesursache etwa "Infarkt" oder "Chronische Lungenkrankheit" an, COVID-19 lediglich als sekundäre Ursache, oder es werde gar nicht genannt. Damit reagierten die Mediziner auf die Signale aus der Politik, was vom Staat gewünscht sei und was nicht. Der Verstorbene wird nicht Teil der Corona-Statistik.
In Mokau steht ein Polizist auf der Straße am von Russland sogenannten "Tag des Sieges"

 
Corona-Pandemie in Osteuropa
Unter dem Druck der Corona-Pandemie verändern sich die Gesellschaften in Osteuropa: In Georgien sind politische Lager ungewöhnlich geeint. In Belarus und Russland zweifeln Menschen Fallzahlen, Krisenmanagement und ihre Regierungen an.
Dem Vorwurf, die Sterblichkeit künstlich niedrig zu halten, widerspricht der Chefpathologe am russischen Gesundheitsministerium, Georgij Frank. "Ich denke, dass wir eine glaubwürdige Statistik haben, weil wir allen Empfehlungen folgen, die seit langem bei uns für die Kodifizierung von Krankheiten und Todesursachen gelten, zumal es dafür internationale Klassifizierungen gibt."
Das klingt nach Eindeutigkeit, aber die im Netz nachlesbaren Leitlinien lassen Entscheidungsspielräume.
Medienberichte: Übersterblichkeit ist gestiegen
Schließlich der vierte Grund: Die Übersterblichkeit ist gestiegen. Drei Zeitungen, die russische, aber englischsprachige "Moscow Times", die "New York Times" und die britische "Financial Times", haben sie aus vorläufigen Daten von Standesämtern für Moskau und teils auch für Sankt Petersburg für den Monat April ermittelt, den Monat also, in dem die Infektionszahlen drastisch zu steigen begannen. Es starben im Vergleich zu den vergangenen zehn Aprilmonaten bis zu 20 Prozent mehr Menschen.
Auch hier gibt es allerdings Unschärfen: So könnten mehr Menschen an anderen Krankheiten gestorben sein, weil ihre Behandlungen unterblieben oder schlechter ausfielen, weil COVID-19-Patienten Vorrang genossen. Und: Die beiden Großstädte erlauben noch keinen Rückschluss auf das ganze Land, für das erst Ende Mai die Zahlen veröffentlicht werden sollen. Aber ob die dann stimmen, ist nicht sicher.
Zweifel an niedriger COVID-19-Sterblichkeit bleiben
Fest steht also nur: Russland meldet eine auffällig niedrige COVID-19-Sterblichkeit. Restlos erklären lässt sie sich heute nicht. In einem politischen System jedoch, das regelmäßig Wahrheitsverdrehung über Wahrheit stellt, bleiben Zweifel. An welcher Stelle Zahlen verändert wurden und werden, lässt sich nicht genau feststellen. Und für alle, die an Aufklärung interessiert sind, noch eine schlechte Nachricht: Es ist gut möglich, dass Transparenz für lange Zeit unmöglich bleibt.