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Corrado Augias
Italiens Regionen unter der Lupe

Wie tickt Italien? Der aufmerksame Beobachter Corrado Augias, der Auslandskorrespondent in den USA und Frankreich war, versucht in seinem neuen Buch der Antwort näherzukommen. Dazu erforscht er sein Heimatland auf kurzweilige, anschauliche Art. Er schreibt nicht über das Land als Ganzes, sondern über die einzelnen Regionen - in einem humorvollen, etwas sprunghaften Stil.

Von Kirstin Hausen |
    Blick auf die an einem Berghang gelegene Ortschaft Baunei in der Ogliastra auf der italienischen Insel Sardinien (Aufnahme vom 20.05.2010). Als Ogliastra bezeichnet man die südlich des Golfs von Orosei liegende Küstenebene um Tortoli und Arbatax samt der sie umgebenden Berghänge.
    Corrado Augias stellt immer wieder die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her. (picture alliance / dpa / Roland Holschneider )
    Der Titel "Die Geheimnisse Italiens, Roman einer Nation" führt zunächst auf eine falsche Fährte. Denn es geht nicht um das, was die Italiener heute häufig als die dunklen Geheimnisse Italiens bezeichnen: Die Bombenattentate der 70er-Jahre, in die amerikanische und italienische Geheimdienste verwickelt waren. Es geht um weiter zurückliegende Begebenheiten: um die Schlacht von Marengo im Jahr 1800, die die Mailänder anstachelte, sich von den österreichischen Machthabern zu befreien, um Hungeraufstände im Süden, um die Befreiungskriege des "Risorgimento". Die patriotische Nationalbewegung um Giuseppe Garibaldi gab den Anstoß zur Gründung des italienischen Einheitsstaates 1861, eine echte Revolution war das "Risorgimento" für Corrado Augias jedoch nicht. Denn der Süden blieb passiv, ließ sich von Garibaldis berühmt gewordenem "Zug der Tausend" erobern und anschließend von den Piemontesen verwalten. In seinem Buch beklagt Augias das Fehlen einer identitätsstiftenden Revolution wie sie die Engländer 1688 und 1789 die Franzosen hatten:
    "Von allen Geheimnissen Italiens ist dies das am besten gehütete und das bedeutendste, ein Geheimnis, das fast alle übrigen in sich birgt: Aus welchem Grund hat die Geschichte der Halbinsel so wenig mit einer Freiheitsgeschichte zu tun? Viele, mich selbst eingeschlossen, haben sich diese Frage immer wieder gestellt. Niemand kann die endgültige Antwort geben, doch unter allen möglichen Hypothesen liegt die, die mir das meiste Gewicht zu haben scheint, in den berühmten Worten Benedetto Croces, als man ihn nach dem Volkscharakter fragte. Der Charakter eines Volkes, sagte der Philosoph, ist seine Geschichte, seine ganze Geschichte. Wenn Croce recht hat, müssen wir das Geheimnis genau dort suchen, um es zu ergründen und womöglich irgendwann zu überwinden."
    Augias nimmt Regionen in den Blick
    Corrado Augias erforscht auf kurzweilige, anschauliche Art, die italienische Geschichte, oder besser: die Geschichten, die verstehen helfen, wie die Italiener sind und warum sie so sind. Er schreibt nicht über Italien als Ganzes, sondern über Italiens verschiedene Städte, Regionen, Bewohner. Mailand, Neapel, Palermo, Venedig sind eigene Kapitel gewidmet. Und ihren Figuren, darunter so bekannte wie der Heilige Franz von Assisi, aber auch dem deutschen Publikum nicht so geläufige wie der Conte di Cagliostro, ein genialer Gauner und Hochstapler aus dem 18. Jahrhundert. Augias haucht diesen Figuren Leben ein. Ein Eigenleben, wie er scherzhaft sagt.
    "Wenn Du eine Figur erst einmal umrissen hast, dann beginnt sie, Dir zu antworten. Ich unterhalte mich während des Schreibens mit den Figuren, über die ich schreibe. Ich bin ja auch kein Wissenschaftler, ich bin jemand, der Wissen vermittelt. Sicher wäre ich ein guter Lehrer geworden, aber der Beruf war mir zu schlecht bezahlt, deshalb bin ich Journalist geworden."
    Italienische Literatur
    Das Buch "Die Geheimnisse Italiens" führt auch durch die Literatur, die über Italien existiert. Es zitiert den unglücklichen Dichter Giacomo Leopardi, für den Rom "eine Stadt zum Davonlaufen" war, den kalabrischen Philosophen Tommaso Campanella, der die Mehrheit der Neapolitaner als "Müßiggänger" bezeichnete, "die durch Faulheit, Geiz, körperliche Gebrechen, Ausschweifungen und Wucher verderben" und gibt so den Blick auf Italien und die Italiener wieder, der sich durch die Jahrhunderte zieht.
    "Die Literatur ist eine Fundgrube für historische und soziologische Studien. Und ich denke dabei nicht nur an explizit historische Romane, sondern an das gesamte Spektrum der Literatur. Die Figuren eines Romans und ihr Schicksal zeigen uns die Gesellschaft, in der sie gelebt haben."
    Bisweilen setzt das Hintergrundwissen voraus, über das nur Italienliebhaber verfügen. Romane wie "cuore", "Herz", von Edmondo De Amicis, und "Il piacere", "Lust" von Gabriele D'Annunzio sind nicht jedem bekannt. Anhand dieser beiden Bücher, die Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben wurden, stellt Augias zwei Prototypen vor, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten.
    "Den des guten, des anständigen Italieners bei De Amicis und den des unanständigen bei D'Annunzio. Die Nachfahren ihrer Helden dominieren weiter die Zeitgeschichte, weshalb man sagen kann, dass in diesen Büchern Archetypen präsent sind, die im Leben Italiens Spuren hinterlassen haben und bis heute aktuell sind. Zwei Kategorien, zwei Lebensarten, zwei Arten der Konstruktionen von Identität, der Beziehung zu den anderen und zum eigenen Land. Aus dem Geist von 'Cuore' stammen die guten Absichten, das politisch Korrekte, der bürgerliche Fleiß. Graf Sperelli aus 'Lust' ist der Vorfahre der anderen Sorte von Italienern, der Unkorrekten, der Schamlosen, der Sprücheklopfer. Die Italiener der zweiten Kategorie sind zwar in der Minderheit, bringen es aber immer wieder fertig, ihrer Epoche den Stempel aufzudrücken."
    Seitenhiebe auf aktuelle Personen
    Seitenhiebe auf Silvio Berlusconi und den Kapitän der Costa Concordia fehlen nicht - Corrado Augias stellt immer wieder die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her. Die Gründe für den Untergang der "Serenissima", der mächtigen Seerepublik Venedig, erscheinen ihm nicht so weit weg von den Ursachen der Mühen Italiens in der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise. Das Buch "Die Geheimnisse Italiens" gibt Anstöße für Reflektionen über ein Land, das wir meinen, gut zu kennen. Es zeigt auch, wie alt bestimmte Ansichten über "die Italiener" sind, die im Zuge der Euro-Krise und der Diskussionen um Mentalitätsunterschiede zwischen Nordeuropa und Südeuropa wieder kursieren. Es gibt jedoch keine umfassende Analyse der italienischen Nation, es bleibt bei Fragmenten. Wer Corrado Augias humorvollen, etwas sprunghaften Stil schätzt, wird das Buch mit Genuss lesen.
    Corrado Augias: "Die Geheimnisse Italiens. Roman einer Nation", aus dem Italienischen von Sabine Heymann, C.H. Beck Verlag, 272 Seiten, 19,95 Euro.