Sarah Kirkland schließt die Augen. Sie wirft ihre braune Mähne zurück – und singt voller Inbrunst. Über die unmögliche Liebe zu diesem Typen, den sie bei einem Rodeo kennenlernt, einen Tunichtgut, das spürt sie von Anfang an. Und doch fühlt sie sich auf unerklärliche Weise zu ihm hingezogen.
Ein typischer Country-Song mit einem typischen Country-Thema in einem rustikalen Country-Ambiente. Die Zuschauer im Judge’s Vinegarroon, zu deutsch: Skorpion des Richters, hocken auf Holzblöcken und stopfen auf zu Tischen umfunktionierten Holzfässern riesige Portionen Shrimps und Pommes ins sich hinein.
Sarah Kirkland ist jung, Anfang bis Mitte 20. Sie sitzt auf einem Barhocker, in High Heels, knallengen Röhrenjeans und einem zu knappen Oberteil. Neben ihr ein Bursche mit kantigem Gesicht und ein ätherisches Mädchen. Alle drei spielen Gitarre und singen den Refrain zusammen.
Das Publikum nimmt Sarahs Auftritt eher beiläufig zur Kenntnis. Als der erste Song verklingt, rühren sich ein paar Hände zu höflichem Applaus – mehr nicht. Dabei ist Sarah gut, sehr gut sogar. Aber in Restaurants wie dem Judge’s Vinegaroon ist Live-Musik nur Untermalung fürs Abendessen. Wer hier auftritt hat es auf der Erfolgsleiter in Nashville, Tennessee, der selbst ernannten Music Capital of the World, gerade mal auf eine der untersten Sprossen geschafft.
Eine halbe Stunde später: Der Auftritt ist vorbei, Die Instrumente sind abgebaut. An der Theke ordert Sarah ein Bier. Das Konzert war Teil der Veranstaltungsreihe Writer’s Night, der Songschreiber.
"Drei oder vier Sänger treten zusammen auf, jeder stellt drei Songs vor. Wir begleiten uns gegenseitig und helfen beim Harmoniegesang aus, wie bei einer kleinen Band. Das ist eine nette Sache. Geld gibt es dafür nicht, nicht einmal Trinkgeld. Wir machen’s aus Spaß und um unsere Songs vorzustellen."
Writer’s Nights gibt es nur in Nashville. An jedem Abend unter der Woche finden hier zehn, zwanzig solcher Veranstaltungen statt. Das ist gut für Clubs und Restaurants, die ihren Gäste Live-Musik anbieten können, ohne dafür zahlen zu müssen. Noch besser ist es für Besucher, die überall in der Stadt vielversprechende junge Sänger und Sängerinnen erleben können. Und für die Musiker selbst?
“Man lernt andere Musiker kennen. Für ein Mädchen wie mich, gerade mit der Uni fertig, ist das enorm hilfreich. Ich treffe andere Songschreiber und tausche mich mit ihnen aus. So baue ich mir ein Netzwerk auf. Eines kommt zum anderen, bis ich hoffentlich jemandem über den Weg laufe, der an mich und meine Musik glaubt.“
Seit sechs Jahren ist Sarah Kirkland in Nashville, vor zwölf Monaten hat sie ihren Job als Kosmetikerin aufgegeben und konzentriert sich nun auf ihre Musik. Sie kommt aus Knoxville, drei Autostunden entfernt. Die Stadt am Fuße der Smoly Mountains ist reich an musikalischem Talent. Aber die Musikindustrie konzentriert sich in Nashville: Agenten, Manager, Plattenfirmen, Tonstudios, Konzertveranstalter.
Kleine Erfolge sind wichtig
Sarah hat eine Mini-CD mit drei Songs auf dem Markt und mit "Bachelorette" einen Mini-Hit. Eher mini-mini, wie sie sagt, und auch nicht in den Charts. Ein Hit ist das Lied auf Bachelorette-Partys, bei Junggesellinnenabschieden. Die Veröffentlichung ist ein wichtiger Schritt in ihrer Karriere, findet Sarah. In Nashville leben in paar Tausend Sängerinnen wie sie, jedes Jahr kommen ein paar Hundert neue hinzu. Mir ihrer Single, hofft Sarah, sticht sie aus der Masse heraus.
Der nächste Morgen, ein Samstagvormittag. Treffen mit Sarah Kirkland an der Straßenecke Broadway und 5th Avenue in downtown Nashville, am Legends Corner. An der Ampel vor dem gleichnamigen Musikclub eine Pappgitarre mit den Konterfeis von Country-Stars wie Hank Williams, Patsy Kline, Johnny Cash, Dolly Parton und Willie Nelson. Ein Straßenmusiker stimmt seine Gitarre. Er ist jung, wohl noch keine 20. Gegenüber die Bridgestone Arena, eine Mehrzweckhalle, die aussieht wie ein gestrandetes UFO. In einer Nebenstraße das Ryman Auditorium. Bis in die 1970er Jahre fand dort die Grand Ole Opry statt, die langlebigste Radioshow im ganzen Land – seit 1925 findet sie jeden Samstag vor Publikum statt. Seit Mitte der 70er wird sie aus Opryland übertragen, einem Unterhaltungskomplex außerhalb der Stadt.
“In Nashville gibt’s überall Musik. Dies ist eine Stadt für Träumer, die Leute kommen her, um ihren Traum zu leben.“
“Hier auf dem Broadway ist ein Honky-Tonk neben dem anderen. Honky-Tonks sind Bars, die nicht viel größer sind als ein Loch in der Wand, mit Live-Bands, die traditionelle Country-Musik spielen. Hier 'The Stage', ziemlich berühmt, war in vielen Filmen. Dort Jimmy Bufett’s Margaritaville, Teil einer Restaurantkette, sehr beliebt bei Touristen.“
Schräg gegenüber der Plattenladen des 1984 verstorbenen Sängers Ernest Tubbs. Jeden Samstag um Mitternacht steigt dort das Midnite Jamboree, die zweitälteste Live-Radioshow im Land. Sarahs Ziel ist 'Robert’s', 'The home of traditional country music and Brazilbilly', wie es auf der Leuchtreklame heißt. Sarah grinst. Der Club gehört Jesse Lee Jones, jedenfalls nennt er sich so. Jesse Lee ist Brasilianer, daher der Name seiner Band: Brazilbilly. Bei Robert’s haben die Größten der Größten gespielt. Natürlich als sie noch ziemlich klein waren.
Auf der Bühne der schummrigen Bar Rachel Hester: mittellange brünette Haare, Turnschuhe, speckige Bluejeans, verschossene altmodische Blues. Schon optisch der Gegenentwurf zu Sarah Kirkland. Und auch musikalisch. Rachel spielt Country pur ohne Anklänge an die Popmusik.
Rachels Band besteht aus alten Studio-Cracks, erläutert Sarah, die Musiker gehören zu den Besten, die man in Nashville findet. Allen voran der Bassist, ein schlaksiger Kerl mit Trilby auf dem Kopf, einem schmalkrempigen Hut. Jay Weaver, raunt Sarah, aus der Band von Dolly Parton.
"I can’t help it but I’m still in love with you", im Original von Hank Williams. Das ist es, was die Zuschauer, um diese Uhrzeit vorwiegend ältere Menschen, hören wollen. Zwei Paare beginnen, zu tanzen. Vor der Bühne ein Plastikeimer mit der Aufschrift "Tipps", Trinkgeld. Er ist gut gefüllt mit Dollarnoten.
"Ich habe auch auf dem Broadway gespielt, aber das ist nichts für mich. Die Leute wollen Coverversionen hören und du musst das bedienen, damit du Trinkgeld kriegst Ledute wollen rashviolle: Ich möchte lieber meine eigenen Lieder singen, und das kannst du hier nicht bringen. Das hier ist eher ein Job."
Und den macht Rachel gut. Sie zwinkert einem der Tänzer zu, einem Mann mit schlohweißen Haaren und Hornbrille – schon segelt ein Zehndollarschein in den Eimer. Dann ist Pause. Die beiden Frauen begrüßen sich – man kennt sich in Nashville. Wo Sarah Kirkland sich noch durch die Writer’s Nights spielt, ist Rachel Hester schon etwas weiter vorangekommen auf der Erfolgleiter. Sie tritt regelmäßig im Tagesprogramm bei Robert’s auf. Samstags und sonntags am Morgen. Mittwochs und donnerstags am Nachmittag. Wenn jemand kurzfristig absagt, darf sie auch mal abends ran.
Betrunkene geben mehr Trinkgeld
"Es gibt Leute, die wegen mir und meiner Musik hier her kommen. Trotzdem, ich bin hier nicht die Einzige, ich bin eine von sehr, sehr vielen. Natürlich glaube ich an mich, aber ich bin hier aufgewachsen und weiß, wie die Sache läuft. Viele Musiker kommen von anderswo und setzen alles auf eine Karte, ohne die geringste Ahnung, was sie hier erwartet. Sie waren die Besten in ihrer Heimatstadt und treffen hier auf die Besten aus den ganzen anderen kleinen Städten. Die Konkurrenz in Nashville ist sehr, sehr hart."
Rachel weiß, wovon sie spricht. Ihr Vater ist Hoot Hester, ein exzellenter Fiddler. In den 1970ern ist er aus einem kleinen Kaff in Kentucky nach Nashville gekommen, hat mit allen möglichen Sängern und Sängerinnen auf der Bühne gestanden oder Platten aufgenommen im Studio gespielt. Aber geschafft, richtig geschafft hat er es erst, als er vor 13 Jahren das Angebot erhielt, in die Hausband der Grand Ole Opry einzusteigen. Ein Glücksfall, sagt Rachel, seitdem hat er ein regelmäßiges Einkommen.
Jay Weaver, der Bassist, stellt sich zu den beiden Frauen, eine Bierdose in der Hand. Auch er kennt die Aufs und Abs des Musikgeschäfts.
"Letztes Jahr war ich mit Dolly Parton auf Welttournee, sechs Monate lang. Aber das ist so eine Sache: Jetzt warte ich schon länger auf einen Anruf von ihr. Oder wie wir hier sagen: einen Tag Hühnchen, den andere die Federn. Mal läuft es gut, dann hast du wieder ein schlechtes Jahr. Wenn ich nicht auf Tour bin und keinen Studiojob habe, spiele ich auf dem Broadway. So kommt ein bisschen Geld rein, ich habe meinen Spaß und komme unter die Leute."
Sarah und Rachel grinsen. Für sie bisher sind es bisher eher Federn gewesen. Sarah hat eine Band zusammengestellt und hat sich Auftritte in Las Vegas, Los Angeles und New York organisiert. Das Interesse, das sie in den Metropolen weckt, so ihr Kalkül, würde auf Nashville zurückschlagen. Bislang ist es nicht aufgegangen. Rachel geht einen anderen Weg. Sie spielt nur in Nashville und Umgebung. Nebenbei jobbt sie in der Country Music Hall of Fame, einem riesigen interaktiven Museum.
"Damit komme ich gut über die Runden. Mein Nebenjob macht mir sehr viel Spaß. Ich mache nur, was mir gefällt, so gesehen bin ich schon erfolgreich.“
Wieder auf der Bühne. Ein Song von Patsy Kline, einer von Garth Brooks – sehr zur Freude der Zuschauer. Rachel ist eine exzellente Gitarristin und eine gefühlvolle Sängerin. In kleineren Musikmetropolen wie Austin, Texas, wäre sie eine große Nummer. Auch Sarah Kirkland hätte es woanders leichter.
"Klar, ich könnte zurück nach Knoxville und dort in kleinen Bars spielen. Davon könnte ich ganz gut leben. Aber ich will mehr, so viel wie möglich, weltweiten Erfolg. Und der ist nicht zu erreichen, wenn man in einer Bar in Knoxville singt."
Andererseits ist Nashville eben auch voll von Musikern, die es nicht geschafft haben. Sie spielen tagein, tagaus in den Kneipen auf dem Broadway.
Keiner will seinen Traum aufgeben
"Man bleibt hier leicht hängen. Das ist nichts Schlechtes, wenn man damit leben kann. Aber man darf sich keine Illusionen machen: Früher wurden hier die Stars von morgen entdeckt, und viele Musiker von außerhalb glauben, dass es immer noch so ist. Aber diese Zeiten sind vorbei.“
Jesse Lee, der brasilianische Inhaber von Robert’s, steigt zu Rachel auf die Bühne. Gemeinsam singen sie "Long black veil" von Johny Cash. Bei jedem macht er das nicht, bemerkt Sarah. In ihrer Stimme schwingt Neid mit.
"Long back veil" ist der letzte Song. Vor der Bühne wartet schon die nächste Band.
Eine Viertelstunde später: Rachel sitzt auf einem Barhocker und zählt das Trinkgeld.
"85 Dollar für jeden von uns, für drei Stunden an einem Samstagmorgen ist das gut. Samstag früh ist es immer schwer, die Leute sind noch nicht betrunken, da kommt wenig Trinkgeld herum. An einem guten Abend, wenn es richtig voll ist, machen wir über 100 Dollar pro Nase. Das ist richtig gut, wir leben ja hier und haben keine Unkosten, weder für Sprit noch für Hotelzimmer."
Auch die nächste Band wartete mit einem Prominenten auf, mit Chris Scruggs an der Gitarre. Alter Country-Adel sagt Rachel, sein Großvater war Bluegrass-Legende, seine Mutter ist die Sängerin Gail Davis. Chris selbst ist ein begnadeter Songschreiber und gefragter Studiomusiker. Auch er steht manchmal mit Rachel Hester auf.
"Wenn ich auf der Bühne stehe, sage ich es den Zuschauern immer: Diese Musiker sind richtig teuer, wenn sie mit den Stars spielen, bekommen sie ein paar Tausend Dollar pro Nacht. Und hier auf dem Broadway stehen sie drei Stunden für 85 Dollar auf der Bühne."
Rachel Hesters packt ihre Gitarre ein. Ein knappes Nicken für ihre Musiker. Morgen werden sie wieder zusammen auftreten – wenn nicht jemand anruft und ihnen einen besser bezahlten Job anbietet. Sarah Kirkland ist nachdenklich. Der Weg nach oben ist weit. Das weiß sie ohnehin, aber heute ist es ihr noch einmal bewusst geworden.
"Mir hat mal jemand gesagt: 'Wenn du Selbstzweifel hast, nimm deine Gitarre und spiel’. Dann weißt du wieder, warum du hier bist. Schreib’ einen Song darüber. Das inspiriert dich, du willst den Song auch auf der Bühne spielen und alles ist gut. Weißt du, das Schlimmste ist es, einen Traum aufzugeben.“