"Diesmal geht es gegen das Zentrum der englischen Rüstungsindustrie, das Ziel heißt Coventry. Die englische Flak ist auf dem Posten. Ein wahrer Feuerhagel prasselt uns entgegen. Aber ungehindert geht es weiter."
Zwei Wochen nach dem Luftangriff brachte die deutsche Wochenschau ein Propagandastück über die Bombardierung Coventrys. Der englische Historiker Frederick Taylor ist hierzulande unter anderem durch ein Buch über die Zerstörung Dresdens bekannt geworden. Jetzt hat er sich der Nacht vom 14. auf den 15. November 1940, deren Vor- und Nachgeschichte gewidmet. Dazu holt er weit aus. Taylor streift die Geschichte Coventrys vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, er schildert, wie sich die mittelenglische Stadt zu einer Industriemetropole und einem der größten Rüstungszentren Großbritanniens entwickelte. Und zitiert dazu einen Artikel der Londoner "Times" vom 8. Februar 1940:
"Die wichtigste Kriegsaufgabe Coventrys besteht darin, außer Werkzeugmaschinen Flugzeuge, Flugzeugmotoren und Zubehör für Flugzeuge zu produzieren. Die sogenannten Schattenfabriken für den Flugzeugbau leisten heute einen sehr wichtigen Beitrag."
Taylor beschreibt das Geschehen aus englischer Perspektive, streut viele Zeitzeugenberichte ein, bleibt in seiner Darstellung aber nicht einseitig. So kritisiert er beispielsweise die unzureichenden Maßnahmen der britischen Regierung bei Kriegsausbruch, den Mangel an Evakuierungsplänen und Schutzräumen für die Bevölkerung sowie die fehlenden Wasserquellen für Löschfahrzeuge.
Britische Insel war nur bedingt abwehrbereit
Die britische Insel war nur bedingt abwehrbereit, als Hitler am 1. August 1940 den Befehl gab, den Luft- und Seekrieg gegen "das englische Mutterland" zu verschärfen, und Terrorangriffe nicht ausschloss. Die erste große Luftoffensive begann am 13. August, dem sogenannten "Adlertag", blieb aber ohne durchschlagenden Erfolg. Ende August erfolgte deshalb ein Strategiewechsel, so Frederick Taylor:
"Danach griff die Luftwaffe zwar weiterhin militärische Ziele in Großbritannien an, doch ihr Schwerpunkt verlagerte sich zunehmend von den Einrichtungen der Luftverteidigung auf die zivile und industrielle Infrastruktur des Feindes."
Am 7. September erfolgte ein Großangriff auf London mit 450 Toten, aber es war, wie Taylor betont, kein reiner Terrorakt, denn die Piloten versuchten Industrie- und Hafenanlagen zu treffen, die für die britische Kriegsrüstung wichtig waren.
Am 14. November brachen über 500 deutsche Kampfflugzeuge unter dem makabren Codewort "Mondscheinsonate" Richtung England auf. Bis heute streiten Militärhistoriker darüber, ob die britische Regierung unter Winston Churchill über das Angriffsziel Coventry informiert war, es aber unterließ, die Stadt zu warnen. Die englische Spionageabwehr, so die Vermutung, hatte den deutschen Geheimcode geknackt, wollte aber nicht auf den unschätzbaren Vorteil verzichten, dass sie die verschlüsselten feindlichen Funksprüche weiterhin lesen konnte. Churchill hatte demnach Coventry geopfert. Frederick Taylor widerspricht dieser These.
"Die Regierung erfuhr offenbar tatsächlich - wenn auch nur sehr kurz zuvor - von dem Angriff. Zunächst einmal erfuhr die Regierung gar nicht durch entschlüsselte Nachrichten, sondern durch die klassische Geheimdienstmethode, also aus menschlichen Quellen, von dem geplanten Angriff. Zweitens wurden durchaus Maßnahmen zum Schutz der Stadt getroffen, nur waren diese weder leicht erkennbar noch erfolgreich. Drittens entschied sich die Regierung tatsächlich dagegen, Coventry vor dem Angriff zu warnen. Doch beruhte diese Entscheidung ausschließlich auf der nüchternen Abwägung zwischen dem möglichen humanitären Erfolg einer Warnung und dem Risiko einer dadurch ausgelösten Panik."
Angriff mit 570 Toten
Um 19.10 Uhr erreichten die ersten deutschen Piloten der Kampfgruppe 100 planmäßig Coventry. Die Nacht war klar, hell und kalt, ideales Wetter für einen Luftangriff.
"Über Coventry. Der Bombenschütze löst die ersten Bomben. Unten ist bereits die erste Wirkung zu erkennen. Die Brände werden immer zahlreicher, und das ist erst der Anfang."
Es war ein Angriff in einem bis dahin unbekannten Ausmaß. Alle Straßen, bis in die Vororte hinein, wurden getroffen, das Stadtzentrum mit der Kathedrale fast völlig zerstört. 570 Menschen kamen in dem elfstündigen Inferno ums Leben, 860 wurden verletzt.
Die Bombardierung Coventrys war der Beginn eines Luftkriegs ohne Einschränkungen und Grenzen. Viele Ziele lagen zwar in den Industriegebieten, doch der Tod von Zivilisten wurde bewusst in Kauf genommen.
"Es ging auch darum, durch Terror für psychologische Verunsicherung zu sorgen – zumal der Stadtkern aufgrund seiner historischen und architektonischen Bedeutung auch international bekannt war."
Akribisch zählt Frederick Taylor die Schäden an einzelnen Gebäuden auf, der Historiker lässt kaum eine Einzelheit aus, dabei hätte der Verzicht auf manches Detail gut getan. Doch dies schmälert nur unwesentlich das Gesamtbild einer anschaulichen, gut lesbaren Darstellung. Auch wenn sich Taylor auf Coventry konzentriert, reflektiert er zugleich die neue, erschreckende Dimension des Luftkriegs im Verlauf des Zweiten Weltkriegs.
Bilder von der Zerstörung stärkten den Widerstandswillen
Die Bilder von den Zerstörungen, insbesondere von der ausgebrannten Kathedrale, hatten für das NS-Regime unbeabsichtigte negative Folgen: Der Widerstandswillen der Briten wuchs, die Bereitschaft der USA nahm zu, in den Krieg einzutreten. Die "New York Herald Tribune" schrieb am 17. November:
"Die ärmlichen Ruinen der St.-Michael's-Cathedral in Coventry starren einem aus den Bildern entgegen, stumme Zeugen der wahnsinnigen, unfassbaren Barbarei, die über die westliche Zivilisation hereingebrochen ist."
Ein halbes Jahr später griffen deutsche Flieger Coventry erneut an. Dabei kamen 450 Menschen ums Leben. Am 3. August 1942 fielen die letzten Bomben. Coventry war nicht mehr die "wirklich alte und malerische Stadt", die der Schriftsteller J. B. Priestley 1933 besucht und bewundert hatte, in dem Jahr, in dem Hitler an die Macht kam.
Buchinfos:
Frederick Taylor "Coventry. Der Luftangriff vom 14. November 1940: Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg", aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Hans Freundl, Siedler Verlag, München 2015, 448 Seiten, Preis: 29,99 Euro, ISBN 978-3-8275-0026-7
Frederick Taylor "Coventry. Der Luftangriff vom 14. November 1940: Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg", aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Hans Freundl, Siedler Verlag, München 2015, 448 Seiten, Preis: 29,99 Euro, ISBN 978-3-8275-0026-7