In der Coronakrise müssen Intensivbetten freigehalten werden, um Menschen mit einem schweren Infektionsverlauf im Notfall behandeln zu können. Seit dem 16. März werden deshalb nicht notwendige Operationen in Deutschland verschoben. Das werde zu einer Übersterblichkeit führen, haben Ärzte vielfach gewarnt: Menschen würden indirekt an den Folgen der Coronakrise sterben, weil Kontrolltermine nicht stattfinden und wichtige Eingriffe verschoben würden. Doch Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin, sieht dafür noch keine Anzeichen.
"Also man würde die Effekte sehen, die jetzt tatsächlich durch das Aufschieben oder nicht Stattfinden von notwendigen Behandlungen stattfindet. Dazu gibt es europäische Daten, da kann man sogar Woche für Woche gucken wie sich die Sterblichkeit entwickelt im Vergleich zum Vorjahr beispielsweise für die verschiedenen Altersgruppen und da sieht man, dass im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, nicht nur die, die wir jetzt so im Blick haben wie Italien, Frankreich, Spanien, sondern auch Niederlande, Schweiz, Schweden etwa, dass dort die Mortalität, die bevölkerungsbezogene Gesamtmortalität, also die Gesamtsterblichkeit, hochgeht. Bei uns aber nicht."
Krankenhäuser, speziell für COVID-19-Patienten?
Auch was die Zahl der Intensivbetten anbelangt, sei Deutschland deutlich besser aufgestellt als viele Nachbarländer. Die Gefahr, dass Menschen mit ernsten Krankheiten nicht behandelt werden können, bestehe also nicht. Im Gegenteil, meint Reinhard Busse:
"Wir waren vorher gerade bei der Debatte, wo wir gesagt haben: O.k. wir haben eigentlich eine Überversorgung. Wir haben zu viele Krankenhäuser, wir haben zu viele Krankenhausbetten. Und wir sehen jetzt in der Debatte, dass die deutsche Krankenhausgesellschaft sagt: 'Seht mal, der Busse hat Unrecht, wir brauchen doch jedes Bett.' Und das ist natürlich die große Gefahr und das werden wir hinterher in Ruhe ausdiskutieren müssen, ob sozusagen tatsächlich wir sagen können: Bett ist gut? Dann würde ich sagen: Nein, wir haben jetzt Belege, da stehen so viele Betten frei wie noch nie und gerade auch bei so relativ komplexen Krankheiten wie COVID wäre es gut, dass die Patienten in Zentren behandelt werden, die sich damit auch auskennen."
Leere Notaufnahmen wegen Coronaangst
Würden COVID-19 Patienten in spezialisierten Krankenhäusern behandelt, könnte auch ein Problem umgangen werden: Ärzte beobachten, dass weniger Menschen mit Anzeichen eines Herzinfarkts oder eines Schlaganfalls in die Notaufnahmen kommen. Möglicherweise aus Angst, sich dort mit dem Coronavirus anzustecken. Doch Reinhard Busse sieht keine Hinweise darauf, dass in Deutschland derzeit Menschen versterben, die sich nicht ins Krankenhaus trauen.
"Also wenn die Patienten mit dem Herzinfarkt nicht ins Krankenhaus gehen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie dann versterben relativ hoch. Das würde man dann aber bei der Gesamtsterblichkeit sehen. Aber in den Daten, die wir sehen, wir haben leider nur regelmäßige Daten dafür Hessen und Berlin, da sieht man das nicht. Also es ist nicht so, dass derzeit mehr Personen versterben, als in normalen Jahren."
Die langfristigen Folgen im Blick
Anders könnte es jedoch bei längerfristigen Folgen der Krise aussehen. Wenn Menschen ihren Job verlieren oder aufgrund einer ökonomischen Krise weniger Mittel in Bildung und medizinische Versorgung investiert werden, wird sich das auch auf die Gesundheit der Menschen auswirken, sagt Claus Wendt. Er ist Professor für Soziologie der Gesundheit und des Gesundheitssystems an der Universität Siegen.
"Wir sehen aktuell schon, das sozial Schwache deutlich weniger Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen als die, die ein höheres Einkommen haben oder zu den höheren Bildungsgruppen gehören. Und dass wird in einer Situation, wo weniger Ressourcen dem Gesundheitssystem zur Verfügung gestellt werden, noch mal verstärkt werden. Und dann werden eben die Leute mit einem höheren Einkommen letztendlich über private Krankenversicherungen einen leichteren Zugang zu Gesundheitsleistungen haben und das ist im Prinzip auch die Schere, die wir zwischen Patienten mit unterschiedlichem Einkommenshöhen, mit einem unterschiedlichen Bildungsniveau, dann zu erwarten haben."
Doch diese langfristigen Folgen für die Gesundheit würden in den derzeitigen Diskussionen kaum berücksichtigt, bemängelt Claus Wendt.
Gesundheitliche Folgen von Arbeitslosigkeit
"Es geht vor allem darum: Wie ist jeder Einzelne bestmöglich zu schützen, dass die Kapazitäten im Krankenhaus vor allem im Intensivbereich besonders gut ausgebaut sind. Und diese Idee, dass natürlich da auch langfristig gesundheitliche Folgen entstehen, die man dann auch wiederum vor Augen haben müsste, die wird kaum diskutiert. Aus meiner Sicht müsste man gerade diesen Blickwinkel in die Diskussion reinnehmen. Denn auch diejenigen, die jetzt ihr Geschäft verlieren, die arbeitslos werden, auch das sind letztendlich dann starke Problemlagen, die erhebliche gesundheitliche Folgen haben. Und da muss man auch als Staat darauf achten, dass diese Gruppe nicht aus dem Blick verloren wird."
Nicht zuletzt wäre es sinnvoll, mehr Geld in die Prävention von Krankheiten und in Anti-Raucherkampagnen zu investieren, meint Claus Wendt. Denn auch das hat die Coronakrise gezeigt: Menschen mit Vorerkrankungen und Raucher haben ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf der Infektion.