Obwohl zahlreiche Auflagen aufgehoben wurden und weitere Lockerungen umgesetzt werden, gehen seit Mai immer wieder tausende Menschen in vielen deutschen Städten auf die Straße gegangen. Sie protestierten gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie - oft unter Missachtung der Hygieneregeln und des Verbots größerer Versammlungen, manchmal gewalttätig gegenüber Passanten, Polizisten oder Journalisten.
Das Spektrum der Protestierenden ist sehr heterogen und teils widersprüchlich: Es reicht von Linken, über Liberale und Konservative bis hinein ins rechtspopulistische und rechtsextreme Spektrum und von Familien mit Kindern über Leugner des Coronavirus bis zu Esoterikern, Impfgegnern, Vertretern unterschiedlichster Verschwörungstheorien und Reichsbürgern.
Die "Hygiene-Demos" zogen von Beginn an Rechtsextreme und Anhänger von Verschwörungstheorien an. Mobilisiert wird vor allem über die sozialen Netzwerke wie Facebook oder Messengerdienste. Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Tom Mannewitz sieht Parallelen zur Pegida-Bewegung. Auch hier seien anfangs "besorgte Bürger" zusammengekommen, um zu demonstrieren, sagte er im Deutschlandfunk. Im Laufe der Zeit sei der Kreis der Demonstrierenden dann kleiner, homogener und politisch radikaler geworden.
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen warnte im Dlf explizit vor einer pauschale Abwertung derjenigen, "die da aus ganz unterschiedlichen, mal schlechten und mal besseren Gründen demonstrieren". In den Demonstrationen drücke sich "eine allgemein spürbare Zukunftsunruhe" aus.
Ausgangspunkt der Proteste war ursprünglich die linke, kapitalismuskritische Berliner Kulturszene um die freischaffenden Theater-Dramaturgen Anselm Lenz oder Hendrik Sodenkamp. Der von ihnen mitgegründete Verein "Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand" organisierte seit Ende März vor dem Berliner Theater Volksbühne sogenannte Hygiene-Demos, etikettiert als Verteilaktionen ihrer Zeitung "Demokratischer Widerstand".
Der Berliner Verein "Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand" aus dem linken Spektrum organisiert Protest unter dem Motto "Nicht ohne uns". Es mischen aber auch Einzelpersonen mit. So zum Beispiel der frühere Radiomoderator Ken Jebsen, der seit seinem Rauswurf beim RBB krude und teils antisemitische Theorien auf Youtube verbreitet, und der Vegan-Koch Attila Hildmann. Mehr und mehr rückt aber auch die selbsternannte Partei "Widerstand 2020" als Wortführer in den Fokus. Die Gruppierung, die sich in Folge der Anti-Shutdown-Proteste formiert hat, eint vor allem die Ablehnung des bestehenden politischen und gesellschaftlichen Systems.
Um das "Ende der Pandemie" zu verkünden und den "Tag der Freiheit" zu feiern hatte die Stuttgarter Initiative "Querdenken 711" zu einer Großdemonstration am 01. August 2020 in Berlin aufgerufen. Initiator der Plattform ist der Unternehmer Michael Ballweg, die sich im April in Stuttgart formierte. In Berlin nahmen nun laut Polizeiangaben nahmen bis zu 20.000 Menschen teil. Die Veranstalter schätzten die Zahl um ein Vielfaches höher ein, die Rede war von 1,3 Millionen. Die Polizei löste die Abschlusskundgebung wegen Nicht-Befolgung von Abstandsregeln und Maskenpflicht auf.
Laut Angaben des Thüringer Verfassungsschutzes versuchten zudem insbesondere rechtsextremistische Parteien wie die NPD, "Die Rechte" und "Der Dritte Weg" die Demonstrationen zu nutzen, um sich einen breiteren Anschluss an die Gesellschaft zu verschaffen. Und auch die AfD hat die Corona-Proteste für sich entdeckt. In ostdeutschen Städten riefen AfD-Politiker selbst zu Demonstrationen auf. Offenbar hofft die Partei, deren Umfragewerte seit Beginn der Corona-Pandemie eingebrochen sind, den keimenden Unmut in der Bevölkerung für sich zu nutzen.
Frank Richter, der ehemalige Direktor für politische Bildung in Sachsen, der sich damals für einen Dialog mit Pegida-Demonstranten stark gemacht hat, sagte im Dlf, das Erscheinungsbild bis hin zu der inkludierten Gewaltbereitschaft ähnele dem Erscheinungsbild von Pegida. "Es gibt natürlich in der Bundesrepublik Deutschland das gute Recht, seinen Protest, auch seine Empörung auf die Straße zu tragen, zu demonstrieren. Aber jeder, der das tut, muss auch draufschauen, wer ihn dort politisch missbrauchen will."
Trotz ihrer unterschiedlichen politischen Positionen und Anschauungen eint die Protestierenden die grundsätzliche Ablehnung staatlicher Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie: Reiseverbote, Geschäftsschließungen, Demonstrationsverbote, Abstandsregeln und Maskenpflicht werden als Einschränkungen der Grundrechte abgelehnt. Dabei wird die Bundesregierung unter anderem als "diktatorisches Hygiene-Regime", "Quasi-Diktatur" oder "Notstands-Regime" bezeichnet.
Darüber hinaus lassen sich wenig konkrete Positionen ausmachen. "Widerstand 2020", als einer der derzeit wichtigsten Protagonisten, kritisiert die "Systemparteien", hält "die Konstrukte von Elitenherrschaft und partizipativer Demokratie für Auslaufmodelle" und plädiert für eine "Auflösung von bestehenden Machtstrukturen". "Hinter allem steht eine grundsätzliche Ablehnung des Systems, das wird aber nicht so stark personalisiert und kommuniziert wie bei früheren Pegida- oder AfD-Demos", analysierte der Politikwissenschaftler Gert Pickel in der "Leipziger Volkszeitung". "Widerstand 2020" strebe mehr Bürgerbeteiligung an, wollte aber gleichzeitig eine Autorität, "die weiß, wie man das Ganze löst".
Eine der Mitbegründer von "Widerstand 2020", der Mediziner Bodo Schiffmann, hat sich zudem in der Szene der Corona-Skeptiker und -Verschwörungstheoretiker einen Namen gemacht. Diese bezweifeln unter anderem die Gefährlichkeit des Virus SARS-CoV-2 und wehren sich gegen "Zwangsimpfungen", die angeblich kommen sollen, wenn ein Impfstoff gegen den Erreger der Lungenkrankheit COVID-19 gefunden ist. Dabei ist davon bislang keine Rede.
Zudem sieht man auf den Demonstrationen auch immer wieder Plakate, die sich gegen den Microsoft-Gründer und Milliardär Bill Gates richten. Hintergrund dafür sind Verschwörungstheorien, die in sozialen Medien die Runde machen und behaupten, Gates selbst habe COVID-19 erfunden, um einen Impfstoff zu entwickeln und davon zu profitieren. Mit der Impfung solle jedem Bürger dann außerdem heimlich ein Mikrochip zur Überwachung eingeplanzt werden. Die Sozial- und Rechtspsychologin Pia Lamberty warnte im Dlf im Zusammenhang mit solchen Verschwörungstheorien vor einem Problem, "das durchaus das Potenzial hat, gefährlich zu werden".
Die Bundesregierung hat das Recht auf friedliches Demonstrieren betont und das Verbreiten von Verschwörungstheorien verurteilt. Sie kritisierte zudem Übergriffe auf Polizisten und Journalisten scharf. Regierungssprecher Steffen Seibert wollte die zunehmenden Proteste im Mai nicht als Signal für einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung werten. An manchen Orten kämen einige hundert, an anderen einige tausend Teilnehmer.
Seibert betonte, dass friedliche Demonstrationen in dieser Zeit wichtig seien, um auch divergierende Meinungen öffentlich darstellen zu können. Etwas ganz Anderes seien abstruse Behauptungen, hasserfüllte Stereotype oder Theorien, die einen Sündenbock oder "Weltbösewicht" suchten. "Wer so etwas verbreitet, der will unsere Land spalten und die Menschen gegeneinander aufbringen", sagte der Regierungssprecher.
Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) rief die Teilnehmer von Demonstrationen dazu auf, sich gut zu überlegen, in welche Gesellschaft sie sich begäben. "Mich erfüllt mit großer Sorge, wenn normale Bürger zusammen mit Rechtsextremisten, Demokratiefeinden und Verschwörungstheoretikern demonstrieren", sagte sie im "Handelsblatt".
Die Demonstrationen am 1. August 2020 in Berlin entfachten die Diskussion um die Durchführung von Demonstrationen in der Corona-Pandemie. Der NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) sagte im Dlf dazu: "Corona ist kein Grund, das Recht der Bundesrepublik Deutschland mit Füßen zu treten."
Zwar dürfe man in der Coronazeit nicht auch noch Demonstrationen verbieten, betonte Laumann im Dlf. Doch wenn dort Maßnahmen nicht eingehalten würden, müssten solche Demonstrationen aufgelöst werden. Das Verhalten der Demonstrierenden sei eine Provokation gegenüber der Bevölkerung, denn dass Deutschland so gut durch die Pandemie gekommen sei, hätte man auch der Disziplin der deutschen Bevölkerung zu verdanken.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) reagierte am Tag der Demonstration über Twitter. Er betonte, dass Demonstrationen auch in Corona-Zeiten stattfinden können, "aber nicht so". Er appellierte an "Vernunft, Ausdauer und Teamgeist".
Ein hartes Vorgehen gegen Demonstranten, die die Regeln zur Eindämmung der Corona-Pandemie nicht einhalten, hat hingegen der Deutsche Städtetag gefordert. Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, zwar sei das Demonstrationsrecht ein hohes Gut. Aber aus Demonstrationen heraus dürften sich nicht neue Corona-Hotspots entwickeln. Es sei unverantwortlich, auf so engem Raum die Regeln und Auflagen nicht einzuhalten, so der Hauptgeschäftsführer am Montag nach den Demonstrationen.
Auch Vizeregierungssprecherin Ulrike Demmer verurteilte die Kundgebungen im Namen der Bundesregierung als "inakzeptabel". Die Teilnehmer hätten "das hohe Gut der Demonstrationsfreiheit ausgenutzt", um gegen die Corona-Regeln zu verstoßen, kritisierte sie zwei Tage nach der Demonstration.
Der Chef des Bundeskriminalamts, Holger Münch, sagte, Verschwörungstheoretiker hätten das Thema Coronavirus "dankend aufgenommen". Mit dem Aufkommen von Demonstrationen hätten vor allem Akteure aus dem rechten Spektrum versucht, die Proteste des bürgerlichen Lagers, das von den Corona-Maßnahmen belastet sei, zu kapern, sagte Münch. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies zu einem ernsthaften Problem werden könne, steige mit der Abnahme der Akzeptanz der Maßnahmen oder der Frage, ob wirklich ein großes wirtschaftliches Problem für viele Bundesbürger entstehe.
Laut Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang beobachte seine Behörden einen Trend, dass Extremisten, insbesondere Rechtsextremisten die aktuelle Lage ebenso nutzten, wie die sogenannte Flüchtlingskrise. "Es besteht die Gefahr, dass Rechtsextremisten sich mit ihren Feindbildern und staatszersetzenden Zielen an die Spitze der Corona-Demonstrationen stellen, die aktuell mehrheitlich von verfassungstreuen Bürgern durchgeführt werden", sagte Haldenwang der "Welt am Sonntag". Rechtsextremisten suchten Anschluss an bürgerliche Spektren und riefen Anhänger auf, sich aktiv in die Proteste einzubringen.
Noch deutlicher wurde der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan Kramer. Es seien "deutlich konkretere Ansätze für eine völkisch-nationale Revolution erkennbar", sagte Kramer im "Handelsblatt". Die Rechtsextremisten sähen die Corona-Pandemie als "Chance für den Zusammenbruch des globalisierten Liberalismus und der Demokratie". Insbesondere rechtsextremistische Parteien wie die NPD, "Die Rechte" und "Der Dritte Weg" versuchten sich unter dem Vorwand der Proteste einen breiteren Anschluss an die Gesellschaft zu verschaffen. Kramer sprach von einer Art Graswurzelbewegung: "Tatsächlich bildet sich eine Art Anti-Corona-Maßnahmen-Sammelbewegung, welche von Verschwörungstheoretikern, Rechtsextremisten gezielt gespeist wird."
"Da sind gerade jede Menge Wölfe im Schafspelz unterwegs, die versuchen, sich mit ihren antidemokratischen Parolen in die Mitte der Gesellschaft zu schleichen", sagte der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul der "Welt am Sonntag". Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) kündigte an, derartige Kundgebungen wegen der Ansteckungsgefahr auch für Unbeteiligte künftig aus Innenstädten zu verbannen. "Solche Demos dürfen so nicht mehr stattfinden", sagte er dem Bayerischen Rundfunk. Von einem "Gemisch, in dem Unwahrheiten, auch Hass verbreitet werden", sprach im SWR Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU).
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) teilte mit: "Leider schaffen es die Extremisten von Links und Rechts sowie die Verschwörungstheoretiker zunehmend, Menschen für ihre kruden Ideen zu gewinnen und gegen die Polizei aufzuhetzen." Die Polizei könne bei Verstößen aber nicht einfach wegsehen. Ihr Eingreifen sei daher keine Provokation. Gleichzeitig äußerte die GdP "Verständnis für den Unmut einzelner Bürger, da die Grundrechte gerade massiv eingeschränkt sind".