Anhand einer einzigen Zahl wird niemand entscheiden können, ob Kontaktverbote oder Schulschließungen wieder rückgängig gemacht werden – das betonten Sprecher der Bundesregierung zuletzt mehrfach. Klar ist: Entscheidend wird am Ende die Kapazität des Gesundheitssystems sein. Denn dieses nicht zu überlasten, ist das oberste Ziel der Maßnahmen, wie Regierungsmitglieder und Wissenschaftler immer wieder erklären.
Rechnen mit unsicheren Annahmen
Nicht alle der derzeit viel diskutierten Kennzahlen lassen sich einfach aus einer Statistik ablesen – sie müssen berechnet werden. Dafür brauchen Statistiker möglichst konkrete Grundlagen. Doch die gibt es im Falle der Corona-Pandemie nicht immer. Viele wichtige Zahlen sind nur vage bekannt, werden noch erforscht oder zeigen sich erst am Ende der Epidemie (wie etwa die konkrete Zahl der an Covid-19-Verstorbenen). So gibt es etwa keine Meldepflicht für Genesungen – das Robert Koch-Institut (RKI) schätzt diese Zahl also nur. Auch die Zahl der Infizierten ist nicht genau, es gibt eine unbekannt hohe Dunkelziffer. Angaben zu Inkubationszeiten oder Infektiosität schwanken je nach Studie. Die meisten Berechnungen fußen also auf unkonkreten Angaben und sind somit mit mal kleineren, mal größeren Unsicherheiten behaftet. Sie sollten also mit einer gewissen Vorsicht betrachtet werden.
Basisreproduktionszahl
Diese Zahl - auch R0 oder umgangssprachlich Ansteckungsrate genannt - gibt an, wie viele Menschen ein Erkrankter in einer nicht immunen Gesellschaft ansteckt. Die Zahl ist bei jedem Erreger anders, für Sars-Cov-2 nennen Studien laut Robert Koch-Institut Werte zwischen 2,4 und 3,3 – wenn keinerlei Maßnahmen zur Eindämmung des Virus getroffen werden und noch niemand immun ist. Die tatsächliche Ansteckungsrate und damit die jeweils aktuelle Reproduktionszahl R verändert sich während einer Epidemie. Ein Wert größer eins bedeutet, dass sich der Erreger immer stärker ausbreiten wird. Bei einem Wert von genau eins bleibt die Zahl der Infizierten im Verlauf der Epidemie konstant. Bei R0 kleiner eins geht die Ausbreitung zurück. Als Voraussetzung für eine Lockerung der Maßnahmen nannte RKI-Präsident Wieler deshalb mehrfach einen Wert unter eins.
Eine Schätzung der Reproduktionszahl durch das RKI ergab für Anfang März Werte im Bereich von R=3, die danach absinken, und sich etwa seit dem 22. März um R=1 stabilisieren. Am 9. April lag der Wert von R bei 0,9. Am 27. April stieg die Reproduktionszahl allerdings kurzzeitig erneut auf 1,0. Mit Stand 28.04. liegt sie bei 0,9.
Ob der zwischenzeitliche Anstieg möglicherweise mit mehr Kontakten an den Osterfeiertagen zusammenhängt, könne nicht gesagt werden, sagte RKI-Präsident Wieler. Er betonte zugleich, dass es bei der Ansteckungsrate große regionale Unterschiede gebe und riet davon ab, bei der Bewertung der Infektionswelle allein auf die Reproduktionszahl zu blicken: Man müsse verschiedene Daten im Gesamtbild sehen. Relevant seien auch der Anteil immuner Menschen in der Bevölkerung sowie die Kapazitäten des Gesundheitssystems.
Einen zwischenzeitlichen Wiederanstieg der Reproduktionszahl Ende März hatte das RKI mit vermehrten Ansteckungen alter Menschen, etwa in Pflegeeinrichtungen erklärt, sowie mit erhöhten Testkapazitäten, durch die eventuell mehr Infektionen entdeckt werden.
Verdopplungszeit
Anfang März erklärte der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar in der Talksendung "Anne Will", was eine exponentielle Ausbreitung des Coronavirus bedeuten würde. Bei damals rund 1.000 offiziell nachgewiesen Fällen und einer angenommenen Verdopplungszeit von sieben Tagen prognostizierte Yogeshwar eine Millionen Infektionen Mitte Mai – wenn keine Gegenmaßnahmen eingeleitet würden. Man müsse verstehen, dass man die Verdopplungszeit strecken müsse, sagte Yogeshwar. Spätestens seitdem haben auch Medien und Gesellschaft die Verdopplungszeit im Blick.
Sie gibt an, wie lange es dauert, bis sich die Zahl der Infizierten verdoppelt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte im März zunächst gesagt, eine Verdoppelungszeit von ungefähr zehn Tagen sei anzustreben, ehe über eine Lockerung der Beschränkungen im öffentlichen Leben gesprochen werden könne. Anfang April sagte sie, der Zeitraum müsse eher bei bis zu 14 Tagen liegen.
Mittlerweile dauert eine Verdopplung der Fälle laut RKI viel länger. Allerdings verweisen Regierungssprecher darauf, dass die Verdopplungszeit allein nicht das Kriterium für eine Lockerung der Maßnahmen sein wird. Zudem gibt es Probleme mit dieser Zahl: Erstens gibt es verschiedene Berechnungswege und somit verschiedene Ergebnisse. Zweitens ist die Verdopplungszeit vor allem bei einem exponentiellen Wachstum aussagekräftig. Inzwischen hat sich das Wachstum der Infiziertenzahl in Deutschland aber soweit abgeflacht, dass es nicht mehr exponentiell ist. Somit verliert die Zahl laut dem Science Media Center an Aussagekraft.
Zahl der akut Erkrankten
Diese Zahl ist prinzipiell einfach auszurechnen: Von der Gesamtzahl der nachgewiesenen Infektionen zieht man die Todesfälle und die Genesenen ab. Die Zahl der akut Erkrankten ist für die Gesundheitssysteme ein wichtiger Indikator, auch wenn das Ergebnis durch Meldeverzug, Dunkelziffer und andere Faktoren wie etwa die Schätzung der Genesenen-Zahl nicht komplett die Realität widerspiegeln kann. Doch es lassen sich zumindest Trends ablesen: Wie das Science Media Center errechnet hat, sinkt die Zahl der akut Erkrankten seit dem 6. April.
Man könnte also annehmen, dass das Gesundheitssystem nun immer weniger Covid-19-Patientinnen und -Patienten versorgen muss. Doch ganz so einfach dürfte es nicht sein: Wenn unter den Neuerkrankten viele Menschen aus Risikogruppen sind – etwa wenn sich das Virus wie derzeit vermehrt in Altersheimen verbreitet – könnten trotz weniger Neuerkrankungen mehr Menschen auf die Intensivstation müssen als bei der gleichen Zahl Erkrankter ohne erhöhtes Risiko. Gerade zu Beginn der Epidemie in Deutschland waren unter den Erkrankten viele vergleichsweise junge und gesunde Menschen, die sich im Skiurlaub angesteckt hatten. Nur wenige von ihnen dürften auf Intensivstationen behandelt worden sein.
Durchseuchung der Gesellschaft
Diese Kennzahl ist derzeit noch weitgehend unbekannt – wird aber voraussichtlich im Laufe der Zeit deutlich an Bedeutung gewinnen. Die Durchseuchung gibt an, wie viele Menschen in einer Gesellschaft immun gegen einen Erreger sind, etwa durch Impfung oder weil sie die Erkrankung durchgemacht und Antikörper entwickelt haben. Da die Dunkelziffer der Infizierten in Deutschland unbekannt ist, ist auch die Immunität in der Bevölkerung unbekannt. Je mehr Menschen aber immun sind, desto besser schützen sie andere. Bei entsprechend großer Immunität in der Bevölkerung spricht man von Herdenimmunität. Da die Basisreproduktionszahl beim neuen Coronavirus etwa bei drei liegt, würde es reichen, wenn 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung immun sind. Dann würde rein rechnerisch ein Erkrankter nur noch eine weitere Person anstecken – und somit wäre kein exponentielles Wachstum der Infiziertenzahl mehr möglich.
Das RKI und andere Forschungseinrichtungen wollen nun mittels Antikörperstudien herausfinden, wie viele Menschen in Deutschland bereits immun gegen das neue Virus sind. Virologe Christian Drosten dämpfte Hoffnungen, dass diese Zahl unerwartet hoch sein könnte. Er gehe nicht davon aus, dass die Bevölkerung bereits stark durchseucht sei, sagte er im NDR-Podcast unter Berufung auf erste Ergebnisse aus anderen Ländern.
Belegung der Intensivbetten
Wann und wie Maßnahmen gelockert werden können, hängt maßgeblich von der Kapazität des Gesundheitssystems ab. Bei Covid-19 ist es genauer gesagt die Zahl der Intensivbetten. Sind hier die Kapazitätsgrenzen erreicht, müssen Ärztinnen und Ärzte entscheiden, welche Patienten noch beatmet werden und welche nicht –eine Entscheidung in vielen Fällen über Leben und Tod. Man spricht in dem Zusammenhang von Triage. Es gebe ein ganzes Set an Kriterien für eine Lockerung der Maßnahmen, zu denen auch gehöre, wie stark das Gesundheitssystem beansprucht sei, sagte die Kanzlerin kürzlich.
Seit dem 16. April sind alle Kliniken mit Intensivstation in Deutschland verpflichtet, ihre Bettenkapazitäten täglich an ein Intensivregister zu melden. Mit Stand 29.04. sind dort mehr als 12.900 freie Intensivbetten registriert, rund 19.900 Intensivbetten sind aktuell belegt.
Zu den Inhalten der Meldepflicht für die Kliniken gehören unter anderem die Zahl der belegten Betten, der insgesamt belegbaren Betten sowie eine Einschätzung dazu, wie viele Neuaufnahmen in den kommenden 24 Stunden möglich wären. Außerdem müssen die Kliniken melden, wie viele Corona-Infizierte intensivmedizinisch behandelt beziehungsweise beatmet werden, sowie die Anzahl der Patienten, die bereits entlassen wurden. Auf dieser Grundlage sollen auch Prognosen für Kapazitäten erstellt werden.
(mre/wes)