Ein wichtiger Baustein in der Corona-Pandemie sind Computermodelle, die das Infektionsgeschehen in Deutschland am Rechner nachbilden. Thorsten Lehr, Professor an der Universität des Saarlandes, hat so einen COVID-Simulator programmiert und füttert ihn seit Monaten ständig mit den neusten Daten.
Ralf Krauter: Was zeichnet Ihr Computermodell des Infektionsgeschehens aus, welche Daten fließen da ein, und welche Aussagen können Sie treffen?
Thorsten Lehr: In unser Modell fließen neben den klassischen Fallzahlen, die wir täglich berichtet bekommen, natürlich auch Sterbezahlen und die Genesenen-Zahlen mit ein, aber was uns besonders vielleicht auszeichnet, ist, dass wir auch die Entwicklung in den Krankenhäusern uns anschauen. Das heißt also, wir können auch beschreiben, wie viele Patienten eigentlich ins Krankenhaus gehen, sich dort aktuell aufhalten und wie viele letztendlich auch auf die Intensivstation müssen und dort auch beatmet werden müssen. Unterscheiden tun wir jetzt auch ein bisschen darin, dass wir auch nicht nur Gesamtdeutschland betrachten, sondern auch feingliedriger die Bundesländer und eigentlich auch alle 412 Stadt- und Landkreise.
Die Datengrundlage bei uns ist ähnlich wie bei anderen auch, wir benutzen Daten vom Robert-Koch-Institut, aber auch Daten vom Intensivregister über die Belegung in den Krankenhäusern, aber wir verwenden auch viele Daten aus Landesregierungen, Pressemitteilungen, die wir zusammensuchen. Zusätzlich haben wir aber noch einen Datensatz von einem Kooperationspartner, der uns täglich neue Daten von COVID-19-Patienten aus den Krankenhäusern liefert. Da haben wir inzwischen über 10.000 Datensätze von 10.000 Patienten zur Verfügung, und daraus ziehen wir vor allem Informationen für das Krankenhausmodell – also wie lange liegen die im Schnitt, wie viele davon versterben und so weiter.
"Dieser Lockdown light ist statistisch signifikant"
Krauter: Versuchen wir mal den Blick in die Glaskugel, weil dafür sind solche Modellierungen ja letztlich gut, man extrapoliert in die Zukunft: Was sagt denn Ihr COVID-Simulator für die Zukunft aus, wie würde sich das Infektionsgeschehen weiterentwickeln, wenn wir den gegenwärtigen Lockdown light noch zwei Wochen beibehalten würden?
Lehr: Was wir erst mal sagen können, ist, dass dieser Lockdown light statistisch signifikant ist, mal eine Abkühlung des Infektionsgeschehens gebracht hat, das ist sehr erfreulich. Der R-Wert ist von vor dem Lockdown light gesunken von ungefähr 1,5 auf ungefähr 1,1. Wir sehen sogar, dass in vier der zwölf Bundesländer der Wert unter 1 liegt. Jetzt ist natürlich die Frage, wie geht es weiter, und wenn wir halt eben davon ausgehen, dass dieser R-Wert von 1,1 sich bewahrheitet, dann würden wir weiter auch in den nächsten Wochen noch ein leichtes, wenn auch abgebremstes Ansteigen der Fallzahlen verzeichnen.
Krauter: Eine Kollegin von Ihnen, Doktor Viola Priesemann, Max-Planck-Forscherin, die auch Computermodelle erstellt, sagte am Freitag hier in der Sendung, wir müssten mit dem R-Wert mindestens auf 0,7 runterkommen, besser noch weiter. Reicht der Lockdown light dafür?
Lehr: Die Frage wird sein, ist dieser Lockdown light jetzt schon das Ende der Fahnenstange. Oft sehen wir eben, dass auch bei den anderen Lockdowns sich die Effekte noch ein bisschen nachverzögern. Aber was ich jetzt sagen kann, ist, dass ich nicht glaube, dass dieser R-Wert sich noch stark absenken wird. Was die Kollegin Priesemann gesagt hat, dem stimme ich zu.
Wir müssen eigentlich, damit wir das Infektionsgeschehen wieder in den Griff bekommen, relativ schnell auf die Bremse drücken, das heißt, wir müssten zusehen, dass wir diesen Wert wirklich deutlich senken, und da bin ich auch bei ihr, 0,7, 0,6 wären eigentlich Werte, die ich gerne anstreben würde. Man muss aber bedenken, dass ein Wert von 0,6 ungefähr auch der Wert ist, den wir während des ersten Lockdowns erreicht haben, und die Maßnahmen dort waren natürlich deutlich schärfer als das, was wir jetzt heute mit dem Lockdown light eigentlich erreichen.
"Effekte unterscheiden sich nach Bundesland"
Krauter: Aktuell, Sie haben es gesagt, ist die Reproduktionszahl immer noch knapp über 1. Sie haben ja auf Basis der Daten der ersten Welle auch berechnet, was einzelne Maßnahmen bringen könnten, um den R-Wert zu drücken. Ich hab mal nachgeschaut, Schulschließungen reduzieren R um 30 Prozent, kann man bei Ihnen nachlesen, Kontaktverbote reduzieren R um circa 43 Prozent, verschärfte Kontaktverbote, also der zweiten Stufe, reduzieren R um circa 42 Prozent. Wie belastbar sind diese Werte denn und schwanken die im Einzelfall nicht stark?
Lehr: Ja, man muss ein bisschen schauen, wenn wir jetzt zurückblicken auf die erste Welle, da haben wir natürlich, wenn wir uns noch erinnern, da waren sehr viele Maßnahmen, die sehr eng getaktet hintereinander gekommen sind. Das heißt, dort wurden Großveranstaltungen verboten, am nächsten Tag wurden die Schulen geschlossen, das war pro Bundesland auch unterschiedlich. Wie Sie sagten, bei uns sind die Schulschließungen die am signifikantesten auftretenden Ereignisse und auch die Kontaktverbote, also das klassische Ausgehverbot, was wir gesehen haben.
Aber wir dürfen einfach nicht vergessen, dass zum Beispiel auch mit Schulschließungen natürlich jetzt nicht nur die Schüler nicht in die Schule gehen, sondern natürlich auch beispielsweise der öffentliche Personennahverkehr sich beruhigt, weil die Schülerinnen und Schüler nicht mehr zu Schule gehen, und Eltern letztendlich auch im Homeoffice bleiben. Das heißt also, die Mobilität sinkt einfach erst mal, und das sind natürlich einfach Dinge, die wir mit bedenken müssen, auch bei solchen Maßnahmen. Da wäre natürlich so eine klassische kontrollierte Studie das Bessere, um diese Effekte genauer differenzieren zu können, aber das liegt uns hier leider letztendlich nicht vor.
Die Effekte unterscheiden sich aber auch nach Bundesland schon sehr erheblich, das sehen wir auch, dass in manchen Bundesländern die Effekte deutlich stärker sind, in anderen weniger stark ausgeprägt. Man versucht dort Gründe zu finden, aber die sind nicht ganz ersichtlich. Das hat sicherlich was mit der Struktur des Bundeslands zu tun, also ob wir hier in einem Flächenstaat oder einen Stadtstaat letztendlich uns bewegen, aber ich denke auch, dass es was damit zu tun hat, wie stark letztendlich dieses Bundesland vorher von der Pandemie betroffen war. Das sehen wir dann schon, dass dort auch vielleicht ein bisschen besseres Verständnis ist, wenn man entsprechend gebeutelt war.
"Nachschärfen wäre sehr hilfreich"
Krauter: Wo sollte die Politik auf Basis Ihrer Simulation jetzt nachschärfen, und wo könnte sie künftig vielleicht sogar die Zügel wieder ein bisschen lockerer lassen, ohne den Erfolg der bisherigen Corona-Maßnahmen zu gefährden?
Lehr: Ich denke, nachschärfen wäre in meinen Augen sicherlich hilfreich, weil die jetzigen Maßnahmen in meinen Augen nicht ausreichen. Ich denke, vor allem Kontaktunterbindung ist eigentlich das Stichwort, das heißt, wir sollten schauen, private Treffen und auch Feiern weiter einzudämmen, auch die Reisen, soweit es geht, eben zu beschränken, das heißt also, generell versuchen, die Mobilität und die Kontakte zurückzufahren. Da ist aber jetzt nicht nur die Politik gefragt, sondern natürlich auch jeder einzelne Mitbürger, dass wir schauen, dass wir wirklich uns überlegen, welcher Kontakt muss denn eigentlich sein und welcher nicht, weil letztendlich das, was wir jetzt während des Lockdowns erreichen, davon zehren wir. Das ist eine gewisse Investition auch in die Zukunft, die wir jetzt durchführen.
Was zu lockern ist, ist natürlich ein bisschen schwierig zu beantworten, weil wir einfach bei 75 Prozent Infektionen nicht wirklich wissen, wo die denn herkommen. Es gibt eine Studie aus den USA, die letzte Woche publiziert wurde in dem Fachmagazin "Nature", die sagt, dass ungefähr 80 Prozent der Infektionen in 10 Prozent der Orte stattfinden, und dazu gehören beispielsweise auch Gaststätten, Kneipen, Bars und eben auch Fitnessstudios beispielsweise. Das ist natürlich interessant, und eine amerikanische Situation lässt sich nicht ganz einfach auf Deutschland übertragen. Was die Kolleginnen und Kollegen dort auch simuliert haben, war zu schauen, dass wir beispielsweise auch hier wieder einen Normalbetrieb möglicherweise herstellen können, indem man eine deutlich ausgedünnte Belegung durchführt, das heißt also, indem man beispielsweise nur 20 Prozent der Tische in Restaurants belegt. Das würde letztendlich das Infektionsrisiko deutlich senken. Sicherlich wäre das eine Option, die man überdenken muss und eben auch basierend auf der kürzlich erschienenen Studie mal durchdeklinieren sollte.
"Horrorszenario: R-Wert weiter über 1"
Krauter: Schauen wir mal auf Basis Ihrer Modelldaten noch mal vier Wochen voraus, wenn Sie gestatten: Was wäre denn auf Basis der aktuellen Zahlen zum Infektionsgeschehen das optimale Szenario, das uns jetzt noch zugänglich wäre, und was wäre sozusagen das Horrorszenario?
Lehr: Ich denke, das Horrorszenario, was wir nicht vergessen dürfen, wäre, wenn der R-Wert weiter über 1 bleiben würde, weil dann würden wir nicht nur ein weiteres Ansteigen der Fallzahlen beobachten, sondern was viel schlimmer wäre, wir würden natürlich auch einen Ansteigen in den Krankenhäusern beobachten. Wenn wir bei dem jetzigen R-Wert bleiben würden, dann müssten wir Ende des Monats mit ungefähr 6.000 Patientinnen und Patienten auf den Intensivstationen rechnen, was schon relativ nah an die Belastungsgrenze kommen dürfte. Die Frage wird halt eben sein, wie weit können wir das weiter runtersenken, und auch hier ist natürlich die Antwort des Mathematikers: je härter, desto besser.
Aber was realistisch ist, muss man ja auch sagen, ich denke, dass wir vielleicht einen R-Wert von ungefähr 0,8 erreichen können. Was das allerdings bedeuten würde, ist auch Folgendes: dass wir auch bis Ende des Jahres eigentlich noch nicht unter eine Inzidenzrate von 50 Fällen in sieben Tagen pro 100.000 Einwohner kommen würden, das heißt also, wir müssten dann noch relativ lange durchhalten. Und die nächste Frage sollte natürlich auch sein, was passiert denn eigentlich danach, wenn wir die Bremse wieder lockern.
Krauter: Das heißt, wir müssen durchhalten, um sozusagen wieder die Gesundheitsämter auch in die Lage zu versetzen, die Nachverfolgung sicherzustellen – genau das war ja der Grund, warum dieser Sieben-Tage-Inzidenzwert von 50 pro 100.000 eingeführt worden ist.
Lehr: Ganz genau. Das wäre jetzt genau das Ziel, dass wir hier weiter nachschärfen, damit die Gesundheitsämter wieder nachkommen, aber 50 ist eigentlich schon sehr hoch, eigentlich sollten wir noch weiter absinken auf 35. Dafür bedarf es halt jetzt ein Durchhalten, aber auch wirklich ein Wahrnehmen der eigenen Verantwortung in diesem Geschehen, dass wir uns letztendlich mal zurücknehmen und vielleicht den November jetzt eben besinnlich, ruhig zu Hause verbringen und die Kontakte entsprechend einschränken.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.