Es war ein beispielloser Vorgang: Im Alleingang hat das Bundesverfassungsgericht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu den milliardenschweren Anleihekäufen der Europäische Zentralbank (EZB) als willkürlich und als methodisch nicht vertretbar abgekanzelt. Die europäischen Richter in Luxemburg ließen sich ein paar Tage Zeit, erinnerten dann aber kühl und ganz allgemein daran: Allein dem EuGH stehe zu über europäische Organe wie die EZB zu urteilen.
Noch deutlicher wurde EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die: Für Währungspolitik sei ausschließlich die Europäische Union zuständig. EU-Recht habe Vorrang vor nationalem Recht, und sie schreibt, das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen, nirgendwo sonst. Deshalb prüft die Kommission jetzt auch, ob sie ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleitet.
Der CSU-Politiker Markus Ferber ist CSU-Europaabgeordneter und dort Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung. Im Interview mit dem Dlf spricht er sich gegen ein Vertragserletztungsverfahren aus. Gleichzeitig kristisierte er das Bundesverfassungsgericht für sein Urteil zum EZB-Anleihenankauf. Die Richter hätten ohne ökonomischen Sachverstand ein gefährliches Urteil gesprochen und dabei auch noch gerichtliche Hierarchien missachtet. Dadurch habe er die Bundesregierung in eine Zwickmühle manövriert.
Jasper Barenberg: Herr Ferber, vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt und in einem Detail Recht bekommen hat ja unter anderem Ihr CSU-Parteifreund Peter Gauweiler. Haben Sie ihn schon angerufen und gerügt für das, was er da angerichtet hat?
Markus Ferber: Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe mit Peter Gauweiler vor vielen, vielen Jahren oft gestritten. Aber mittlerweile haben wir keinen Kontakt mehr. Ich habe kein Verständnis dafür, weil ich auch nicht verstehe, was Sinn und Zweck dieser Klage war. Wenn es darum geht, den Beitritt Deutschlands zur EU, in den Euro in Frage zu stellen, dann ist das eine Politik, die ich nicht teile, und deswegen gibt es auch nichts mit Herrn Gauweiler zu besprechen.
Gefährliches Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Barenberg: Was das Urteil selber angeht und die Folgen - die Kompetenzen sind doch eigentlich klar verteilt. Wie schwer wiegt es, dass sich ein deutsches Gericht, das Bundesverfassungsgericht über den Europäischen Gerichtshof erhebt?
Ferber: Wenn Sie das Urteil abschichten, hat das ja mehrere Ebenen. Da gibt es die eine Ebene, dass der größte Anteilseigner vielleicht ein bisschen mehr Informationen bekommen soll. Das ist diese Frage der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das ist etwas, was man abarbeiten kann. Das sehe ich relativ undramatisch.
Die Dramatik dieses Urteils liegt eigentlich darin, dass ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs – immerhin hat ja das Bundesverfassungsgericht den EuGH um Stellungnahme in diesem Fall gebeten - einfach auf die Seite geschoben wird und gesagt wird, wir als Bundesverfassungsgericht, wir wissen besser Bescheid wie der Europäische Gerichtshof, noch dazu in einer Angelegenheit, die eigentlich nach EU-Verträgen eine Kompetenz der Europäischen Union und nicht der Mitgliedsstaaten ist.
Und das mit dem Grundgesetz zu begründen, ist natürlich schon intellektuell anspruchsvoll, aber sehr, sehr gefährlich. Wir hören ja schon aus Polen durchaus Unterstützung: Jawohl! Nationale Verfassungsgerichte - und die Zusammensetzung des polnischen macht uns ja große Sorgen - können nicht durch den EuGH in ihren Handlungsrahmen eingeschränkt werden. Das ist eigentlich das Gefährliche an diesem Urteil.
Rote Linie überschritten
Barenberg: Mit anderen Worten, Herr Ferber: Für Sie ist klar, dass das Bundesverfassungsgericht in diesem Fall seine Kompetenzen überschritten hat, eine rote Linie überschritten hat?
Ferber: Es hat neben dieser einen Frage, kriegt der größte Anteilseigner ein bisschen mehr Informationen als bisher – so kann man das ja auch interpretieren, diese Frage der Verhältnismäßigkeitsprüfung -, es hat dann noch nebenbei gemeint, es muss noch Haltungsnoten für den EuGH abgeben, und das ist inakzeptabel. Es kann ja auch nicht eine mittlere Gerichtsebene bei uns den Bundesgerichtshof rügen und sagen, das gefällt mir eigentlich gar nicht, wie der BGH hier entschieden hat, wir machen das jetzt ganz anders. In der Hierarchie der Gerichte ist das klar, dass hier für europäische Rechtsinterpretation ausschließlich der EuGH zuständig ist und nicht das Bundesverfassungsgericht, und das ist die rote Linie, die überschritten wurde, und das ist das Gefährliche an diesem Urteil.
Barenberg: Mit anderen Worten: Ursula von der Leyen an der Spitze der EU-Kommission, der Hüterin der Verträge, bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland auf den Weg zu bringen?
Ferber: Jetzt wird es natürlich ganz kompliziert. Ich bin kein Freund eines Vertragsverletzungsverfahrens, um das ganz deutlich zu sagen, Herr Barenberg.
Barenberg: Das kann ich mir vorstellen.
Ferber: Sie können ja nur die Bundesrepublik Deutschland verklagen. Gleichzeitig ist die Kommission als Hüterin der Verträge ja auch über den Artikel sieben verpflichtet, die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten - dazu gehört die Unabhängigkeit der Gerichte - sicherzustellen. Was ist das Vergehen, das die Bundesrepublik Deutschland gegen die Verträge gemacht hat? Auch das wird juristisch sehr spitzfindig sein müssen, um hier ein Vertragsverletzungsverfahren zu machen. Ich sage mal pragmatisch: Die Bundesrepublik Deutschland als größter Anteilseigner kann von der EZB verlangen: Gebt mir mehr Informationen. Das ist der eine Teil.
"Vertragsverletzungsverfahren ist eine sehr kniffelige Geschichte"
Barenberg: Wenn ich da einhaken darf, Herr Ferber? - Deutschland hat ja Wert darauf gelegt, dass die EZB als eine politisch unabhängige Institution eingerichtet wird. Das war damals eine riesengroße Debatte. So steht in Artikel sieben der Satzung: Die EZB darf keinerlei Weisungen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, Regierungen der Mitgliedsstaaten oder anderer Stellen einholen oder entgegennehmen. Was anderes ist das Urteil als ein Angriff genau auf diese Unabhängigkeit der EZB, die vor allem Deutschland damals bei der Einrichtung der EZB ja als Voraussetzung verlangt hat?
Ferber: Wenn Sie das Urteil lesen, können Sie nicht feststellen, dass die Unabhängigkeit der EZB in Frage gestellt wird. Es wird ja nur darauf hingewiesen, dass die EZB ihre Anleihekäufe besser begründen muss und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung machen muss.
Barenberg: Was anderes als eine Weisung ist das denn?
Ferber: Nein, das ist keine Weisung, sondern das ist eine Bitte um Informationen. Weil das Urteil sagt ja auch, dass die Anleihekäufe an sich in Ordnung sein können, wenn diese Verhältnismäßigkeitsprüfung stattgefunden hat. Wenn Sie in unser Grundgesetz reinschauen, auch in die EU-Verträge: Verhältnismäßigkeit ist eines der Grundprinzipien unseres Rechtsstaates. Insofern halte ich das für den Teil, der am wenigsten angreifbar ist. Und noch mal: Der größte Anteilseigner darf auch nachfragen, warum macht ihr dieses Aufkaufprogramm. Das ist alles lösbar. Da kann der Bundestag sich mit beschäftigen, da kann die Bundesregierung sich mit beschäftigen, und der Teil wäre abgearbeitet.
Nein, das Problem entsteht ja aus dieser Frage: Ist der EuGH letzte Instanz oder das Bundesverfassungsgericht? Und dagegen ein Vertragsverletzungsverfahren zu machen ist auch eine kniffelige Geschichte. Scheinbar geht es der Kommissionspräsidentin nur darum, dass der EuGH über das Urteil des Verfassungsgerichts Recht sprechen kann, und ob da ein Vertragsverletzungsverfahren der richtige Ansatz ist, das erscheint mir doch ein bisschen schwierig. Ich bin kein Jurist, aber ich halte das für eine sehr kniffelige Geschichte. Diese Auseinandersetzung sollte anders geführt werden, als dass man sich nur über den Klageweg trifft.
"Auch in der D-Mark-Zeit hätten wir jetzt eine Nullzins-Phase"
Barenberg: Es fällt ja auf, Herr Ferber, dass in der Union die Stimmen da ordentlich durcheinander gehen. Wir hören heute von Friedrich Merz, dass er sagt, im Grunde ist das Urteil völlig in Ordnung. Während Norbert Röttgen sich zu Wort meldet als Kanzlerkandidat für die CDU, der sagt, Karlsruhe führt Deutschland in einen Konflikt mit der EZB, der im Grunde nicht lösbar ist. Hat er recht, das ist ein Dilemma, was so ohne weiteres nicht aufzulösen ist und damit eine große Gefahr für die Rechtsordnung in Europa?
Ferber: Ich bin da auf der Seite von Norbert Röttgen, weil es wird ja so getan, wie wenn ohne dieses Aufkaufprogramm wir plötzlich wieder ordentliche Zinsen hätten und der Sparer wieder ordentlich verdienen würde, die Pensionen wieder gesichert wären. So ist es ja nicht. Auch eine Bundesbank hätte sich in vergleichbarer Situation nicht anders verhalten, und das ist etwas, was mir in der ganzen Abwägung zu kurz gekommen ist. Verständnis, wie eine Notenbank zu agieren hat, hat in dem ganzen Urteil überhaupt keine Rolle gespielt. Die Frage der Bewertung, wie eine Notenbank aufgekaufte Papiere bewertet, wie das Aufkaufprogramm überhaupt organisiert ist, hat keine Rolle gespielt.
Das heißt: Die Technik, die eine Notenbank anwendet, um in einer bestimmten Situation Lösungen zu machen, hat überhaupt keine Rolle gespielt. Und ich stelle mir immer die Frage, ob die Bundesbank vor 25 Jahren damals italienische Lire, französische Franc, britisches Pfund hätte aufkaufen dürfen. Auch das waren Risiken für den Steuerzahler. Es hat nie jemand geklagt. Es ist auch nie ein Verlust entstanden, den der Steuerzahler tragen musste, und diese Vergleichbarkeit, wie hätte eine Bundesbank, die in der D-Mark-Zeit noch agiert hätte, sich verhalten, das hätte auch abgewogen gehört. Insofern ist es müßig, jetzt hier zu sagen, es wäre alles besser geworden, für den Sparer wäre es viel günstiger. Nein, das ist nicht richtig. Auch in der D-Mark-Zeit hätten wir jetzt eine Nullzins-Phase.
"Wenig Sachverstand über Funktionsweise einer Notenbank"
Barenberg: Mit anderen Worten: Sie halten auch in sachlicher Hinsicht gewissermaßen das Urteil für schwach, weil Sie sagen: Die EZB hat sehr wohl ausführlich und genau begründet, warum sie so verfährt und nicht anders – unter anderem ja vor dem Europaparlament.
Ferber: Ja, nicht nur hier. Das ist ja die Ebene, wo die EZB rechenschaftspflichtig ist. Was auch das Verfassungsgericht in seinem Urteil nicht berücksichtigt hat, ist ja die Bewertung des Aufkaufs Programms durch den Europäischen Gerichtshof. Es ist ja bei weitem nicht so, dass der EuGH sich nicht damit beschäftigt hätte und auch nicht klare Kriterien benannt hätte. Auch das hat in der Prüfung keine Rolle gespielt, und das zeigt mir jedenfalls – ich komme von der ökonomischen Seite -, dass hier wenig Sachverstand vorhanden ist, wie eine Notenbank wirklich funktioniert.
Wenn Sie sich anschauen, welche Kriterien der Europäische Gerichtshof beschreibt, dann ist das durchaus auch im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, wenn es darum geht, Risiken und Haftung zu übernehmen. Wir haften im Wesentlichen nur für Anleihen der Bundesrepublik Deutschland. Insofern sind auch die Gefahren, die da auch von der Klagevertretung, um auf die zurückzukommen, angeführt wurden, nicht nachvollziehbar, weil da ein Risiko vorgegaukelt wurde, das in den Büchern der Bundesbank überhaupt nicht steht.
Bundesregierung in der Zwickmühle
Barenberg: Ich verstehe das jetzt so, dass nach Ihrer Auffassung das Verfassungsgericht zum einen über die Stränge geschlagen hat, was die Rechtsordnung angeht, zum anderen das auch noch ohne ökonomischen Sachverstand getan hat. Wie lässt sich der Schaden jetzt begrenzen, der dadurch angerichtet wurde – politisch? Was muss die Kanzlerin zum Beispiel tun?
Ferber: Die Bundesregierung hängt jetzt natürlich ein bisschen zwischen diesen Urteilen. Sie muss, als Bundesregierung ist sie ja verpflichtet, dem Urteil des Verfassungsgerichts Genüge zu tun. Das heißt, die Bundesregierung wird bei der EZB anklopfen müssen und fragen: Könnt ihr uns eine Verhältnismäßigkeitsprüfung für dieses Aufkaufprogramm bitte geben? Die Dinge sind vorhanden, so ist es ja nicht. Es ist ja nicht so, dass die Notenbank hier willkürlich Entscheidungen trifft, sondern die werden vorbereitet, die werden nicht nur von sechs Direktoren, sondern mit den nationalen Notenbankern gemeinsam getroffen. Das muss formal die Bundesregierung machen, weil sie muss sich an Urteile des Verfassungsgerichts halten.
Barenberg: Aber die EZB hat doch schon klargemacht, dass sie dieser Bitte, dieser Aufforderung, dieser Pflicht nicht nachkommen wird.
Ferber: Und dann wird es hier genau zu diesem Konflikt kommen und dann wird es spannend. Ich glaube nicht, dass das die Grundlage eines Vertragsverletzungsverfahrens sein kann, sondern die EZB wird feststellen: Sie ist nicht gebunden. Sie kann die Informationen, die damals relevant waren, gerne noch mal der Bundesregierung geben, die sind aber vorhanden, es sind ja keine Staatsgeheimnisse, diese Beschlüsse, Protokolle werden ja hinterher veröffentlicht, die Dinge sind transparent vorhanden. Und das aufzulösen, ist jetzt zunächst mal Aufgabe der Bundesregierung. Ein Vertragsverletzungsverfahren hilft der Bundesregierung an dieser Stelle auch nicht.
"Müssen diesen Konflikt jetzt politisch ausstehen"
Barenberg: Zumal als letzten Aspekt vielleicht noch: Sollte es ein solches Verfahren geben und sollte wiederum dieses Verfahren am Ende vor Gericht landen - das ist ja nicht ganz unwahrscheinlich -, dann wäre der Europäische Gerichtshof daran, zu entscheiden in einem Verfahren, in dem er selbst Partei ist. Das kann man sich eigentlich auch nicht vorstellen.
Ferber: Ja gut, das ist noch mal das ganz Kniffelige an dieser Geschichte. Aber noch mal: Worüber soll der EuGH befinden? Verklagt werden kann nur die Bundesrepublik Deutschland. Wir wollen unabhängige Gerichte. Wir müssen diesen Konflikt jetzt politisch ausstehen. Es ist lösbar, indem man hier auch in den EU-Verträgen noch mal ein Protokoll hinzufügt, was klar regelt, wer für die Europäische Zentralbank zuständig ist. Da gibt es viele Möglichkeiten, das auch vertragsrechtlich sauber zu lösen. Wir sollten über solche Dinge uns unterhalten, damit sichergestellt ist, dass hier nationale Verfassungsgerichte oder höchste Gerichte nicht dem EuGH in die Suppe spucken können, wo es um ausschließliche EU-Kompetenzen geht. Es gibt andere Fälle, wo wir gemischte Kompetenzen haben, aber in diesem Fall ist es vertraglich klar eine EU-Kompetenz.
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