Solange die Fluchtursachen nicht beseitigt seien, würden weiter Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Das müsse man den Menschen klar sagen, ohne ihnen Angst zu machen, so Schorlemmer.
Die Volksparteien hätten das Problem "Soziale Armut" zu lange vor sich hergeschoben, kritisierte Schorlemmer. Es gebe viele Menschen, die abgehängt sind oder Angst davor hätten. Solche Ängste ließen sich leicht populistisch aufladen, in dem man Sündenböcke suche. Dieses Grundmuster habe die Diskussion "leider bestimmt".
Schorlemmer ist überzeugt, dass Flüchtlingspolitik und Sozialpolitik miteinander verbunden sind: "Ich glaube, wir brauchen eine gelingende Sozialpolitik, um die Flüchtlinge zu integrieren."
Das Interview in voller Länge:
Ann-Kathrin Büüsker: 20,8 Prozent, oder in absoluten Zahlen 167.453 Stimmen - das ist das Ergebnis der Alternative für Deutschland bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern. Die Partei hat es prompt geschafft, zweitstärkste Kraft im Landtag zu werden, in einem Wahlkampf, in dem zwei Themen eine zentrale Rolle gespielt haben: die Flüchtlingspolitik und Sozialpolitik.
Darüber möchte ich nun mit Friedrich Schorlemmer sprechen, Theologe und Publizist. Er ist Mitglied bei Attac und Vorsitzender des Willy-Brandt-Kreises. Guten Morgen, Herr Schorlemmer.
Friedrich Schorlemmer: Guten Morgen!
Büüsker: Herr Schorlemmer, nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern, da diskutieren wir in Deutschland nun intensiv über die Flüchtlingspolitik. Müssten wir mit Blick auf die sozialen Voraussetzungen in Mecklenburg-Vorpommern nicht eigentlich eher über Sozialpolitik reden?
Schorlemmer: Nein, man muss über beides reden, denn beides lässt sich nicht voneinander lösen. Es gibt tatsächlich viele Menschen, die schon abgehängt sind, oder die Angst haben, abgehängt zu werden, die verunsichert sind, die von Zukunftsängsten erfüllt sind. Ob die nun rational begründbar sind oder nicht, ist nicht die Frage, sondern die sind einfach da. Und diese lassen sich leicht populistisch aufladen, indem man Sündenböcke sucht, indem man vereinfacht. Zum Beispiel: Denen wird alles vorne und hinten reingesteckt und wir, an uns denkt keiner.
Dieses Grundmuster hat die Diskussion leider bestimmt und das bleibt wirklich schwierig. Ich weiß auch erst mal keine Lösung.
"Wir erleben eine Blickverengung aufs Eigene"
Büüsker: Das klingt jetzt sehr destruktiv, Herr Schorlemmer. Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie zumindest einen Ansatz hätten, wie man da anders vorgehen könnte. Gar keine Idee?
Schorlemmer: Ja natürlich, dass wir an der Maxime der Kanzlerin festhalten, wir können das schaffen. Die Frage ist nur: Wer ist wir, wer ist das alles, der das macht, und was können wir schaffen und was können wir uns zumuten oder nicht zumuten.
Wir müssen weiterhin auch die europäische Solidarität einklagen. Wir erleben eine Blickverengung aufs Eigene und brauchen eigentlich Horizonterweiterung in einer miteinander verflochtenen Welt. Wir brauchen wirklich vor Ort Gespräche mit den Menschen, die auch die Demokratie schon abgeschrieben haben und Reflexe gegen die da oben schüren. Das ist schwer, aber diesen Menschen muss man sich stellen, im Gespräch stellen, denn Gefühle sind nicht mit Statistik zu überwinden und Gefühle kann man nicht wegreden oder vielleicht auch einfach pauschal zensieren mit negativen Noten.
Ich glaube, wir brauchen gerade in strukturschwachen Gegenden wirklich auch eine gelingende Sozialpolitik, wenn wir die Flüchtlinge auch integrieren wollen. Im Übrigen ist es doch sehr merkwürdig: Im Land wohnen 1,6 Millionen und nur 11.000 Flüchtlinge in ganz Mecklenburg-Vorpommern.
Büüsker: Brauchen wir vielleicht auch einen neuen Begriff von Solidarität?
Schorlemmer: Ja. Wir brauchen einen Begriff der Solidarität. Einerseits die, die unten sind, dürfen wir nicht vergessen, und die, die ganz unten sind, nämlich die Fremden, die zu uns kommen, auch nicht und diese beiden auch zusammen zu sehen.
Es sind beides soziale Herausforderungen, die wir da haben. Ich meine: Leute, die in einem Plattenbau, sagen wir, in Anklam leben und arbeitslos sind, was sollen die denn machen, wenn sie überhaupt keine Perspektive sehen? Die sind infizierbar!
"Wir brauchen die Verbindung zwischen Sozialpolitik vor Ort und der Politik unseres Landes in Europa"
Büüsker: Experten warnen ja schon seit Langem davor, dass zunehmende Armut den sozialen Frieden gefährden könnte. Warum packen die Volksparteien das nicht an?
Schorlemmer: Warum packen die Volksparteien das nicht an? - Ja das müssen Sie die Parteien fragen. Vielleicht haben sie das einfach zu lange vor sich hergeschoben, dass da ein Problem auf uns zukommt, das die Gesellschaft tief spaltet, das bis in die Familien geht, dass jetzt regressives, auch nationales Denken die Oberhand gewinnt und wir nicht klar machen, wir sind ein Rechtsstaat, der auch menschenrechtlich denkt, und der Artikel eins unserer Verfassung sagt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, die Würde jedes Menschen.
Und im Grundgesetz ist auch nicht vorgesehen, dass wir eine Obergrenze aufstellen, wie viel Asyl wir aufnehmen. Was wir brauchen ist die Verbindung zwischen Sozialpolitik vor Ort und der Politik unseres Landes in Europa, denn die Entsolidarisierung geht ja nicht nur in unserer Gesellschaft vor, sondern auch zwischen den europäischen Ländern.
Büüsker: Das ist Ihre Forderung. - Nun scheint in der Bundespolitik genau das Gegenteil zu passieren. Wenn wir uns jetzt die Union angucken, allen voran die CSU, die scheint ein bisschen auf den restriktiven Flüchtlingspolitik-Kurs der AfD ja aufzuspringen. Wie hilfreich ist das dann in dieser Situation?
Schorlemmer: Das ist überhaupt nicht hilfreich. Es ist vielleicht wahlstrategisch gedacht, dass die CSU meint, wenn man da nachgibt, dass man dann die AfD klein halten könnte und diese Wähler an sich binden kann. Ich denke, dass Politiker einerseits klar machen müssen, wo sind unsere Grundpositionen, und zweitens dann, wie können wir unsere Grundpositionen in praktische Politik übersetzen. Aber nicht wünschelrutenartig gucken, wo sind Stimmen, wo können wir Stimmen gewinnen.
Wir müssen auch manche Stimmen und Stimmungen in der Tat aufnehmen, aber ihnen auch nicht nachgeben, wenn sie unsere Grundsätze unseres Gemeinwesens betreffen.
"Ängste muss man ernst nehmen, selbst wenn sie irrational sein sollten"
Büüsker: Nun haben wir sehr viele Politikverdrossene. Das hat sich in Mecklenburg-Vorpommern wieder gezeigt bei dem Ergebnis der Wahl. Wie kann die Politik an diese Menschen tatsächlich wieder dran kommen? Muss sie Dinge viel ehrlicher benennen?
Schorlemmer: Ja, sie muss sie ehrlicher benennen. Zum Beispiel hat die Kanzlerin schon damit angefangen. Das hätte sie aber längst schon tun müssen. Wir können das schaffen, aber das wird nicht leicht sein und dazu brauchen wir euch alle, und das ist eine Aufgabe, die nicht in Jahren, auch nicht in Jahrzehnten, das ist möglicherweise eine Jahrhundertaufgabe. Man muss, ohne Menschen Angst zu machen, sich klar machen: Die Flüchtlingsströme werden so lange bleiben und die Flüchtlinge werden sich Wege suchen, zu uns zu kommen, solange die Fluchtursachen an den Orten, an denen sie leben, nicht beseitigt sind. Dort wo die Flüchtlinge gelebt haben, müssen sie leben können, und dazu brauchen wir auch eine andere Weltwirtschaftspolitik. Dazu brauchen wir eine Entwicklungshilfe, die den Menschen ermöglicht, dort auch zu leben, leben zu können, wo sie leben.
Die Entsolidarisierung passiert ja auch weltweit in der großen Politik, bis dahin, dass jetzt ein Pole in Großbritannien erschlagen worden ist, dass alles Fremde belegt wird mit dem Odium, ihr gehört hier nicht her und ihr seid überhaupt nicht willkommen. Auf der anderen Seite sehe ich, wie viele Leute sich auf wunderbare Weise einsetzen und das mit einem Gewinn für sich auch erleben, wenn sie Menschen helfen können. Und es passiert an so vielen Orten auch gelingende Integration, weil es eine freundliche Atmosphäre gibt. Aber in Lebensbereichen, in denen die Leute, die dort leben, keine Zukunftsaussicht für sich auch im sozialen Sinne sehen, die sind leicht ansteckbar. Aber man muss auch mit denen reden, die angesteckt worden sind, und sie nicht diffamieren. Ängste muss man ernst nehmen, selbst wenn sie irrational sein sollten.
Büüsker: ... sagt Friedrich Schorlemmer, Theologe und Publizist. Herr Schorlemmer, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk.
Schorlemmer: Ja, ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.