Jonas Reese: Organisierte Kriminalität in Nadelstreifen – darüber habe ich vor der Sendung mit Gerhard Schick gesprochen. Er ist Finanzfachmann bei den Grünen und er hatte maßgeblichen Anteil daran, dass Anfang 2016 der Bundestag einen Untersuchungsausschuss zu den Cum-Ex-Geschäften eingesetzt hatte. Zunächst habe ich Gerhard Schick gefragt, ob die Summe von 30 Milliarden Euro, um die laut jüngster Recherchen der deutsche Fiskus betrogen wurde, auch wirklich realistisch ist.
Gerhard Schick: Unsere Schätzung im Untersuchungsausschuss war mindestens zehn Milliarden bei Cum-Ex-Geschäften allein und dann noch mal etwa 30 Milliarden bei Cum-Cum, das aber angefangen in den 90er-Jahren, wo ja die Cum-Ex-Geschäfte ihren Ausgang haben. Von daher ist die Zahl, die jetzt hier genannt worden ist für Deutschland, realistisch und nicht überraschend. Das ist im Rahmen dessen, was wir auch im Untersuchungsausschuss aufgearbeitet haben.
Regierungsparteien versuchen, Versäumnisse zu verdecken
Reese: Ich habe mir den Abschlussbericht gerade noch mal durchgelesen. Da stand jetzt eine Summe von rund einer Milliarde Euro, von der der Untersuchungsausschuss ausgeht bezüglich eines verursachten Steuers.
Schick: Die Koalitionsfraktionen haben in ihrem Teil des Abschlussberichtes, dem wir nicht zugestimmt haben als Opposition, versucht, diesen massiv runterzurechnen. Das war fachlich überhaupt nicht zu halten. Und es zeigt sich jetzt auch immer mehr, dass sie damit völlig auf dem Holzweg gewesen sind. Ihr Hauptanliegen war, die Versäumnisse, die unter Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble, den Finanzministern von SPD und CDU/CSU stattgefunden haben, möglichst nicht so gravierend aussehen zu lassen.
Reese: Welche Versäumnisse werfen Sie denn den beiden Politikern vor?
Schick: Seit 2002 weiß das Bundesfinanzministerium, dass es diese Cum-Ex-Geschäfte gibt, und dann hat es noch zehn Jahre gedauert, um sie wirklich zu beenden. Das ist zurückzuführen auf ein massives Organisationsversagen im Finanzministerium, wo die Steuerabteilung nicht mit der Finanzmarktabteilung zusammengearbeitet hat, wo man die Finanzaufsichtsbehörde viel zu spät eingeschaltet hat und so wichtige Zeit verloren gegangen ist. Es gab aber auch einen starken Lobby-Einfluss. Der Staat ist von der Banken-Lobby gezielt auf die falsche Fährte gelockt worden und damit ist 2007 ein Gesetz in Kraft getreten, was Cum-Ex eigentlich beenden sollte, tatsächlich aber die Ausgangsbasis war dafür, dass die Geschäfte noch schwungvoller betrieben worden sind, und all das haben die Minister zu verantworten.
"Die Bundesregierung überprüft das nicht aktiv"
Reese: Was würden Sie denn sagen? Wer ist denn dann im Endeffekt mehr Schuld an dieser ganzen Sache? Eher die Politik, die versäumt, Steuerschlupflöcher und dergleichen zu schließen und diese Methoden zu verbieten, oder dann doch die Akteure, die Banken, die das ausnutzen?
Schick: Wenn ein Einbruch begangen wird, ist immer der Dieb Schuld, und dann gibt es eine Mitverantwortung von dem Hausmeister, der nicht abgeschlossen hat. Aber Schuld ist immer der Dieb. Genauso ist beim Betrug immer das Entscheidende, dass es da Betrüger gibt, Leute, die in die Kasse des Staates gegriffen haben, wissend, dass sie damit der Allgemeinheit und dass sie sich etwas aneignen, was ihnen nicht gehört. Das ist meine Sicht auf diese Dinge. Aber natürlich gibt es eine Verantwortung dafür, dass so etwas nicht passieren kann, und die Finanzminister müssen aufpassen und sie müssen den Staat, die einzelnen Behörden so aufstellen, dass sie solche Betrügereien erkennen können und rechtzeitig stoppen können.
Dass es über zehn Jahre gedauert hat, bis die Geschäfte dann wirklich gestoppt waren, das ist schon ein Armutszeugnis. Das hätte nicht passieren dürfen. Und man kann auch genau das auf einzelne Fehlentscheidungen und Fehlleistungen im Geschäftsbereich des Bundesfinanzministeriums zurückführen.
"Größter Finanzskandal in der Geschichte der Bundesrepublik"
Reese: Ist es denn wirklich so, dass diese Methoden jetzt gestoppt sind? Ich habe diverse Meldungen gelesen, dass es bis heute möglich ist, über dieses Dividenden-Stripping oder dieses Cum-Ex, Cum-Cum-Geschäft wirklich Steuergelder zu hinterziehen oder Steuern sich zurückzahlen zu lassen, obwohl man sie gar nicht abgegeben hat.
Schick: Seit 2012 sind technisch die Cum-Ex-Geschäfte in Deutschland so nicht mehr möglich, wie sie vorher gemacht worden sind, und seit 2016 hat man ein Gesetz, das Cum-Cum deutlich einschränkt. Aber wenn man sich mal anschaut, wie das seit den 90er-Jahren war, dann haben immer wieder clevere Leute am Finanzmarkt es geschafft, im Themenbereich Dividenden-Stripping, zu dem Cum-Ex und Cum-Cum gehören, immer neue Tricks auszudenken. Es wäre also naiv zu glauben, dass damit das Thema ein für alle Mal beendet wäre, und das Rechercheteam hat ja auch Hinweise gefunden, dass – in dem Fall jetzt für ein anderes europäisches Land oder andere europäische Länder – nach wie vor solche Angebote an Investoren gemacht werden, in diesem Themenfeld Geld zu verdienen.
Geld verdienen heißt in dem Fall Steuergelder abzweigen für die eigene Tasche. Deswegen ist meine Forderung auch, es müssen endlich Konsequenzen aus diesem Skandal gezogen werden. Der Staat muss endlich so aufgestellt werden, dass er solche Betrügereien rechtzeitig feststellt, damit so etwas nicht noch mal vorkommen kann. Zum Beispiel müsste man dringend durch einen gezielten Blick auf das, was am Markt stattfindet, herausfinden, wirkt eigentlich das Gesetz, was wir gemacht haben, oder wirkt es nicht. Die Bundesregierung überprüft das nicht aktiv.
"Finanzbehörden müssen europaweit zusammenarbeiten"
Reese: Ist da die Politik überfordert, oder woran liegt das? Oder ist man da zu zahm?
Schick: Ich habe den Eindruck, wenn es irgendwie um möglichen Hartz-IV-Betrug geht, oder um Geld, was für Flüchtlinge bereitgestellt wird, dann gibt es hier eine riesen Empörungsschwelle, obwohl es häufig um gar nicht allzu viel Geld. Aber bei diesem größten Finanzskandal in der Geschichte der Bundesrepublik wie Cum-Ex, da ist irgendwie die Empörungswelle in dieser Republik bisher ausgeblieben und da hat es deswegen auch nicht die nötigen politischen Veränderungen gegeben. Und ich finde, da stimmen die Prioritäten nicht! Wenn da einzelne Trickser und Superreiche zu Lasten der Gesellschaft so kräftig absahnen, dann müssen wir doch alles tun, dass so etwas in Zukunft nicht mehr stattfinden kann.
Reese: Als Steuerzahler kann man ja langsam auf die Idee kommen, wenn man jetzt auch noch den Dieselskandal mit einrechnet: Betrügen lohnt sich.
Schick: Und genau dieser Eindruck darf eben nicht entstehen, dass sich Betrügen lohnt und dass es leicht gemacht wird, sondern wir müssen gerade dort, wo das hoch professionell organisiert wird, den Leuten eindeutige Schranken zeigen, und das kann man besser machen, als das bisher in Deutschland gemacht wird, und das gilt auch für Europa. Das Neue an den heutigen Erkenntnissen ist ja vor allem, dass es nicht nur ein deutscher Skandal ist, sondern auch in anderen europäischen Ländern dann ein richtiger Raubzug stattgefunden hat, und da brauchen wir einfach eine bessere Zusammenarbeit in Europa, eine europäische Finanzpolizei, die ganz gezielt Finanzkriminalität bekämpft. Denn wenn jeder einzelne Staat das allein versucht, dann – das haben wir jetzt ja gesehen – ist es möglich, nach und nach die einzelnen Länder auszuplündern.
"Im Bundesfinanzministerium fehlt der politische Wille"
Reese: Aber Sie sagen auch ganz klar, hier fehlt auch der Wille im Bundesfinanzministerium?
Schick: Hier fehlt auch der politische Wille im Bundesfinanzministerium, hier wirklich Konsequenzen zu ziehen. Das steht nach wie vor aus. Zum Beispiel geht es darum, dass man systematisch die Handelszahlen an der Börse auch auf solche kriminellen Geschäfte um den Dividendenstichtag herum analysiert, oder dass man bei den Auszahlungen der Finanzämter in anonymisierter Form analysiert, gibt es da irgendwelche besonderen Muster.
Schick: Sie haben es schon angesprochen: Das Bundesfinanzministerium wusste seit spätestens 2002 über diese Geschäfte Bescheid, hat aber seine EU-Nachbarn erst 2015 informiert. Warum das denn?
Schick: Das ist eine weitere Geschichte von mangelnder Zusammenarbeit. Im Steuerrecht denken die meisten noch sehr national. Das ist nationale Hoheit. Die Trickser, die denken aber international, und das genau muss man jetzt korrigieren. Auch der Staat muss sich so europäisch aufstellen, dass ein solcher Raubzug, der da zu beobachten gewesen ist, nicht noch mal stattfinden kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.