Samstag, 8. Oktober 2016, Zürich. Wettkampftag beim Cybathlon.
Es ist 10.04 Uhr in der Swiss Arena in der nähe von Zürich. 4500 Plätze sind ausverkauft, einige sind noch leer. Aber die Zuschauer, die da sind, schauen sich hier den ersten Cybathlon an, den ersten Wettkampf der Maschinenmenschen.
"Unten auf dem Feld haben sich schon die ersten vier Piloten bereit gemacht. Sie werden am Geschicklichkeitsparcours für Armprothesen teilnehmen. Das ist der erste Qualifikationslauf heute. Gleich beginnt der Countdown, gleich geht es los, das ist der Moment, auf den Sie sich alle monatelang vorbereitet haben."
"Man muss die Ruhe behalten, das ist ganz wichtig."
Montag, 25. Juli 2016, Sappemeer in den Niederlanden. Noch 75 Tage bis zum Cybathlon.
Im ersten Stock eines Einfamilienhauses beugt sich Bert Pot über ein Holzpuzzle. Beim Cybathlon wird es der erste Teil des Armprothesen-Parcours (Reportage) sein. Die Griffe an den Holzscheiben entsprechen Alltagsgegenständen. Ein Schlüssel ist dabei, ein Seil, der Griff einer Schublade, ein Ball. zwölf Teile insgesamt:
"Ich habe einige Teile des Cybathlon nachgebaut und ich trainiere auch in einer Sportschule, weil nicht nur die Physik wichtig ist, sondern auch, dass man im Kopf klar ist."
Bert Pot ist 53. Seine Haare hat er an den Seiten kurz geschnitten, so wie das heutzutage modern ist. Der Mensch endet am Ellenbogen, hier beginnt die Technik: erst grün lackiert der Unterarm, dann aus durchscheinendem Kunststoff die mechanische Hand. Mit der greift er souverän nach dem Ball, legt das Puzzlestück zur Seite. Mit dem Schubladengriff hat er auch keine Probleme. Beim Schlüssel wird es schon komplizierter: Bert Pot presst ihn umständlich zwischen Daumen und Zeigefinger seiner mechanischen Hand:
"Man muss die Ruhe behalten, das ist ganz wichtig. Wenn man etwas machen möchte, dann gibt es Spannungen. Und wenn es Spannungen gibt, dann wird es manchmal nicht klappen."
Besonders kompliziert wird es, als er nach einem dünnen Seil greifen muss. Erst nach einigen Versuchen bekommt er es zu packen. Für Menschen mit beiden Armen wäre diese Aufgabe nicht der Rede wert. Für Bert Pot ist sie eine Herausforderung. Außerdem wird er beim Cybathlon noch Wäsche aufhängen müssen und einen Frühstückstisch decken. Sein Ziel ist klar:
"Ich gehe nur hin zum Cybathlon, um zu gewinnen."
Das hört man von vielen "Piloten", wie die Teilnehmer genannt werden (Reportage). Auch von André van Rüschen aus der Nähe von Oldenburg. Er wird sein Exoskelett über den Cybathlon-Parcours steuern:
"Gewinnen ist schon das Ziel."
Und so geht es auch Sebastian Reul, der mit einem Darmstädter Studententeam am virtuellen Rennen mit Gedankensteuerung teilnimmt:
"Wirklich den Cybathlon auch gewinnen, oder so weit kommen wie es geht."
"Die psychologische Akzeptanz der Leute um einen herum muss zufriedenstellend sein"
Jeder kämpft gegen jeden, eine Leistungsschau der Assistenzsysteme. In etwa so war der Wettbewerb einmal gedacht, erinnert sich sein Initiator Robert Riener, Professor an der ETH Zürich:
"Meine ursprüngliche Idee war, einfach nur Technologie zu präsentieren."
Dafür hätte es gereicht, die verschiedenen Funktionen von Hand- und Beinprothesen zu testen:
"Dann haben mich viele Leute, die selbst betroffen sind, gefragt: Was soll das Ganze? Es ist nicht relevant, ob die Armprothese vielleicht eine Münze aufheben kann, weil die das sowieso mit ihrer gesunden Hand machen. Es gibt aber Aufgaben, die für die ein Problem sind."
Und diese Aufgaben begegnen ihnen in ganz alltäglichen Situationen:
"Das konkrete Beispiel war, dass mein Kollege mit einer Armprothese an der Kinokasse steht, dann zahlen muss, dann muss er mit beiden Händen einen Geldbeutel aus der Hose nehmen und öffnen, dann Geld herausnehmen. Und das Ganze in einem gewissen Zeitdruck, weil hinter ihm die Schlange wartet. Dann sieht die Kassenfrau die Prothese, schaut ganz komisch, man hört das Gerät, weil es laut ist. Das führt dazu, dass es von der mechanischen Funktion, aber auch von der psychologischen Akzeptanz der Leute um einen herum, unzufriedenstellend ist."
Solche Geschichten können die meisten Teilnehmer des Cybathlon erzählen. Sie handeln von Verlust. Sie handeln von Technologie, die noch nicht richtig funktioniert. Und sie handeln von Visionen. Nach Diskussionen mit Menschen, die diese Geschichten erzählen können, hat Robert Riener sich sechs Disziplinen überlegt: Hindernisparcours, die die Piloten mit speziellen Rollstühlen, Beinprothesen und Exoskeletten meistern sollen, einen Geschicklichkeitsparcours, der mit Armprothesen zu lösen ist, ein Fahrradrennen mit Muskelstimulation für Querschnittsgelähmte und ein virtuelles Rennen mit Gedankensteuerung. Robert Riener:
"Beim Cybathlon geht es nicht darum, schneller, höher und weiter zu kommen. Sondern es geht darum, den Menschen in den alltäglichen Herausforderungen, die immer noch sehr schwierig sind, durch neueste Technologie zu unterstützen."
Manche der Geräte beim Wettkampf stammen von den großen Firmen der Branche, andere frisch aus den Labors von Universitäten:
"Die Konkurrenz ist wichtig, weil sie die Aktivität belebt. Man will der erste sein, der beste sein und vielleicht, wenn man ein Produkt macht, am meisten damit verdienen", meint Riener.
Die Autoindustrie hat vorgemacht, wie Konkurrenz das Geschäft belebt. Bei der "Grand Challange" von 2004 sollten autonome Autos durch die Mojave-Wüste manövrieren. Eine vergleichsweise simple Aufgabe. 25 Teams nahmen teil. Ins Ziel schaffte es kein einziges. Heute, zwölf Jahre und zwei ähnliche Wettbewerbe später, bewegen sich autonome Autos souverän durch Städte. Der Cybathlon soll eine ähnliche Entwicklung anschieben. Diesmal bei Assistenz-Systemen für Menschen.
Der Unfall an der Wellpappemaschine
Bert Pot geht von seinem Übungsraum in die Küche. An den Wänden seines Hauses hängen Holzarbeiten. Ein Huhn, ausgeschnitten aus mehreren Holzschichten. Und ein hölzerner Blumenkranz. Bert Pot war Schreiner. 2006 hatte er einen Unfall an einer Wellpappemaschine:
"Ich hatte schon gesehen: Das ist ganz schlimm, man brauchte mehr als ein Pflaster, um das gut zu machen. Meine Uhr ist auch durch die Maschine gegangen, wo meine Hand zerquetscht ist. Und meine Uhr hat angehalten, halb zwölf in der Nacht. Das vergisst man nie."
Die Ärzte im Krankenhaus fragten ihn, was er gerne mache, erzählt Bert Pot. Motorradfahren und Holzarbeiten, hat er geantwortet. Für das Motorradfahren gab es spezielle Haken und umgebaute Maschinen. Für den Rest brauchte er eine bewegliche Hand:
"Dann habe ich meine erste Prothese bekommen. Und die Hand hat mir fast nichts gebracht. Die machte nur offen und zu. Und ich habe gesagt: Wenn mein Leben mit einer Prothese so geht, dann möchte ich keine Prothese! Dann habe ich im Internet gesucht und die Firma Touch Bionics hat die erste Hand gemacht und ich habe gesagt: Die möchte ich gerne probieren."
Prothese arbeitet nach dem Prinzip "So einfach wie möglich"
Mit der Firma Touch Bionics nimmt Bert Pot auch am Cybathlon teil. Die mechanische Hand hat eine transparente Haut, unter der man die metallische Struktur der Maschine sieht. Bert Pot gefällt das, er versteckt die Hand nicht, trägt sogar ein Armband. Die Prothese funktioniert "myoelektrisch". Im Schaft sitzen spezielle Elektroden. Sie messen die elektrische Spannung, die die Muskeln im Unterarm erzeugen. So kann Bert Pot einzelne Finger steuern. Er bildet sich dabei ein, sein Handgelenk zu bewegen:
"Wenn ich nach unten mache, geht sie zu, und wenn ich nach oben mache, geht sie auf. Offen, zu, wieder offen, zu. Ich kann das auch doppelt machen und dreifach kann ich es auch machen. Und Co-Kontraktion geht auch, da gehen beide Muskeln gleich."
Für jeden dieser Muskel-Befehle kann sich Bert Pot mit Hilfe einer Smartphone-App Griffe einprogrammieren: Einen Dreipunktgriff, einen Zeigefinger, einen Griff für den Schlüssel. Er kann sogar den Mittelfinger heben. Über seine Muskeln steuert er auch den Druck:
"Ich kann das Glas ganz einfach hochheben, das geht ganz einfach. Und auch ganz vorsichtig kann ich das machen. Ein Ei kann ich greifen ohne zu quetschen."
So kann er sich anziehen, Essen kochen und andere alltägliche Aufgaben erledigen. Es sieht einfach aus, erfordert aber viel Übung für jährlich 6.000 neue Nutzer. Pro Hand bezahlen die Kassen 50.000 Euro.
Die Designphilosophie dahinter: So einfach wie möglich. Keine komplizierten Kommandos, bei denen man die Muskeln im Wechsel lang und kurz anspannt. Und auch kein Feedback an den Nutzer, das unserem Spüren entspräche. Das weiß auch Bert Pot, findet das jedoch nicht so gut:
"Wenn man eine Hand verpasst, dann merkt man, was man alles mit der Hand macht. Man berührt Sachen und spürt das ohne zuzugucken. Und mit einer Prothese ist das nicht möglich. Ich spüre gar nichts, wenn ich zugreife."
Neue Handprothese kann auch fühlen
Das könnte sich bald ändern. Am Cybathlon nimmt ein Team der Chalmers University of Technology aus Göteborg teil. Deren Pilot Magnus Niska trägt eine Handprothese, die fest mit seinem Unterarmknochen verbunden ist. Sie hat Sensoren an den Fingern, die Druck-Informationen an die Nerven zurückschicken. Magnus Niska fühlt mit seiner Prothese. Doch er ist derzeit noch der einzige Mensch auf der Welt, der eine solche Hand außerhalb des Labors nutzt. Robert Riener:
"Es gibt spannende Wege, die beschritten werden im Bereich der Prothetik. Es gibt nun Techniken, die kleiner und tragbarer werden durch Fortschritte in der Entwicklung von Antriebstechnik, von Batterietechnik. Es gibt neue Verfahren, eine Prothese auch chirurgisch mit dem Knochen zu verbinden und auch Elektroden mit den Muskeln zu verbinden, damit die Steuerung der Prothese besser funktioniert.
Man muss aber auch sagen, dass in vielen Bereichen die Technologie noch nicht so weit ist, dass es Probleme gibt, dass die Orthesen, also die Exoskelette, immer noch zu klobig sind oder zu schwer. Das genau wollen wir auch zeigen mit dem Cybathlon. Wir wollen nicht nur zeigen, was möglich ist, sondern auch, wo noch die Probleme sind."
Exoskelett ermöglicht es von der Brust abwärts gelähmten Menschen, zu gehen
Donnerstag, 11. August 2016, Berlin Mitte. Noch 58 Tage bis zum Cybathlon.
In einem schicken Hochhaus hat die Firma ReWalk ihre Deutschland-Büros. Das Unternehmen stellt Exoskelette her. Mit diesen Geräten können Menschen, die ab der Brust abwärts gelähmt sind, wieder laufen. André van Rüschen sitzt seit 13 Jahren im Rollstuhl und nimmt für das Unternehmen beim Cybathlon teil. Seit drei Jahren nutzt er das Exoskelett. Gerade blättert er die Aufgabenbeschreibung des Hindernisparcours durch:
"Man startet ganz normal, läuft ein kleines Stück, dann muss man sich auf ein Sofa setzen. Dürfte kein Problem sein. Jetzt haben die da einen Slalom-Parcours, das dürfte auch kein Problem sein. Als nächstes ist so eine Rampe. Das ist schon recht schwer, so eine steile Rampe zu gehen. Dann haben die hier so eine Überquerung von einem Fluss über Steine. Das ist natürlich schwer auf diese Steine zu kommen, weil man nur eine Schrittlänge hat. Und da muss man sehen, wie man da drüber kommt und ob man das überhaupt machen kann."
Das Exoskelett hat halt nur eine Schrittlänge. Doch das ist vielleicht gar nicht so wichtig. Was wirklich wichtig ist, merkt André van Rüschen, wenn er in seinem Exoskelett aufsteht. Doch vorher muss er es anziehen. Er wuchtet sich aus seinem Rollstuhl auf einen kleinen Hocker und setzt sich sozusagen zwischen die Beine der Maschine:
"Das muss man auch erlernen. Ich muss von unten anfangen, erst die Schuhe anziehen, dann nach und nach die Gurte zumachen. Ich habe die Schuhe angezogen, jetzt geht es zum nächsten Schritt, die Unterkniehalter. Oberschenkel müssen auch gehalten werden, dann geht es weiter bis zur Hüfte, da gibt es auch Schnallen. Wenn man das Zuhause macht, dauert das drei bis vier Minuten."
André van Rüschen stellt seine Krücken neben sich. Die braucht er, denn das System kann von alleine nicht das Gleichgewicht halten. Auf einer Fernbedienung am Handgelenk drückt er das Symbol zum Aufstehen:
"Das System bestätigt, dann fährt der Beckenbügel nach vorne und dann drückt mich das System komplett hoch. Das machen wir mal. Und schon stehe ich. Wie man sieht, bin ich nicht der Kleinste."
Um genau zu sein, ist André van Rüschen 1,90 Meter groß. Wenn er vor einem steht, vergisst man kurz, dass er nur von einer Maschine gehalten wird. Augenhöhe. Die ist ihm wichtig:
"Wenn ich sitze, sehen die meisten Leute mich als behinderten Rollstuhlfahrer. Stehe ich aber auf, müssen die zu mir raufgucken. Gespräche sind ganz anders, wenn man steht. Man gehört zur Gesellschaft dazu. Ein Beispiel ist: Ich fahre hier in Berlin mit dem Rollstuhl, an der Ampel springen die Leute zur Seite, weil ein Rollstuhlfahrer, der ist behindert. Laufe ich über die Straße, gehöre ich zur Gesellschaft dazu. Dann muss ich aufpassen, dass man mich nicht umrennt."
Das Exoskelett ist schwarz und fällt nicht so sehr auf, obwohl sich am unteren Rücken ein Kasten mit Akkus und dem Steuerungscomputer befindet:
"Meine Frau kannte mich vor meinem Unfall als Gehender, mein Sohn kannte mich bloß im Rollstuhl. Als der mich das erste Mal gesehen hat, guckte er ganz weit nach oben, mit großen Augen und: 'Wow, Papa, bist Du groß', kam dann erst. Das war schon ganz gut."
Das Gangbild fällt ein wenig auf. Und: Die Maschine ist laut:
"Ich wähle das Gehen aus, bestätige wieder. Ich muss dem Computer sagen, was er machen soll, und mich mit dem Oberkörper ein bisschen vorlehnen. Und dann mache ich den ersten Schritt. Lehne ich mich dann wieder nach vorne, mache ich den zweiten Schritt. Und wie man sieht, ist es eine annehmbare Geschwindigkeit."
Dieses Nach-Vorne-Lehnen erkennt ein Beschleunigungssensor. 2,7 Kilometer pro Stunde ist die Höchstgeschwindigkeit. Mit einer Akkuladung kommt van Rüschen etwa zehn Kilometer weit. Auch Treppensteigen kann das Exoskelett:
"Eine Seite am Handlauf, andere Seite die Stütze. Dann wähle ich den Treppensteigmodus, bestätige, das System bestätigt, und es geht auch schon los."
André van Rüschen drückt auf einen Knopf auf der Seite des Exoskeletts. Sein rechtes Bein holt weit nach oben aus, fährt vor, setzt auf der Treppenstufe auf. Das linke Bein und der Körper folgen. Jeden dieser Schritte muss er einzeln bestätigen - Sicherheitsvorkehrung. Auch muss auf der Treppe immer eine Begleitperson dabei sein. Wie hoch die Stufen sind, das muss André van Rüschen im Vorhinein eingegeben haben. Viel Aufwand, der mehr als nur Mobilität und Augenhöhe verspricht:
"Ich habe zehn Jahre lang im Rollstuhl gesessen. Diese zehn Jahre hatte ich neun Jahre lang Blasenentzündung. Seit drei Jahren laufe ich jetzt und habe fast nichts mehr gehabt. Bei der Darmfunktion ist es ähnlich."
Die Studienlage ist eindeutig: Auch gegen Spastiken, unter denen Rollstuhlfahrer oft leiden, hilft das Gehen mit dem Exoskelett. Trotzdem hat die Firma nur 264 Kunden weltweit. 70.000 Euro kostet solch ein Gerät, mindestens 40 Übungsstunden kommen hinzu, um das Laufen neu zu lernen. Vor allem aber macht ihr konventionelle Technik noch immer Konkurrenz. Robert Riener:
"Der Rollstuhl, der manuelle Rollstuhl, der vom Patienten angetrieben wird, ist relativ klein und leicht. Man kann ihn falten und im Auto mitnehmen. Wahrscheinlich können die Leute sogar weiter gehen auf ebener Fläche als ich, weil es weniger belastend ist für den Körper, weniger anstrengend."
Doch die Exoskelette machen riesige Fortschritte. Am Cybathlon nimmt etwa ein Startup aus Mexiko teil. Die Einzelteile ihrer Maschine kommen aus einem 3D-Drucker. Die Motoren stammen von Scheibenwischern. Das senkt die Kosten. Und ReWalk, die Firma hinter André van Rüschen, hat jüngst eine Kooperation mit dem Wyss Institute der Harvard University angekündigt. Das Ziel: Eine Art schlanken, weichen Exoskelett-Anzug entwickeln. Zukunftsmusik. Und damit noch zu früh für diesen Cybathlon.
Computerspielen per Gedankensteuerung
Montag, 5. September 2016, Darmstadt. Noch 33 Tage bis zum Cybathlon.
Natalie Faber: "Wir ziehen jetzt erstmal die Elekrodenkappe auf Sebastians Kopf und müssen ausmessen, ob sie richtig sitzt."
Matthias Schultheis: "Dann lege ich vorne an."
Natalie Faber: "Neununddreißig ..."
"Athena Minerva" ist ein reines Studenten-Team der Technischen Universität Darmstadt. Es tritt beim virtuellen Rennen mit Gedankensteuerung an. Vom Hals abwärts Gelähmte müssen in einem Jump-and-Run-Spiel eine Spielfigur steuern. Dafür brauchen sie Elektroden auf den Köpfen. Matthias Schultheis:
"... Das passt perfekt."
Natalie Faber koordiniert das Team:
"Jetzt müssen wir alle 129 Elektroden einzeln gelen. Das verstärkt die Leitfähigkeit der Signale. Beim Gel muss man darauf achten, dass wir auch ganz leicht die Kopfhaut aufkratzen."
Das machen die Studenten mit speziellen Nadeln. Daniel Tanneberg: "Die sind ja nicht spitz, zum Glück."
Matthias Schultheis: "Mit der Zeit bekommt man auch ein Gefühl dafür, wie stark man da drücken kann."
Derjenige, der da gegelt wird, ist Sebastian Reul, der Pilot des Teams:
"Wenn es zu heftig wird, sage ich was."
Karl-Heinz Fiebig: "Wir hatten schon Probanden, für die es sich gut angefühlt hat."
Eine Stunde dauert die Prozedur. Sebastian Reul sitzt im Rollstuhl, während vier Studenten sich an seinem Kopf zu schaffen machen. Um die Spielfigur später zu steuern, wird er an bestimmte Dinge denken müssen, etwa an seine Körperteile:
"Angefangen bei den Füßen: Ich stelle mir vor, ich gehe aufs Gaspedal. Bei der rechten Hand denke ich an eine Gangschaltung, wo ich die Gänge durchschalte. Bei der linken Hand zerquetsche ich irgendwas oder tue irgendwas hochheben."
Diese Hirnaktivitäten werden von den Elektroden aufgegriffen und dann aufwendig verarbeitet. Zunächst kommt das so genannte Preprocessing. Natalie Faber:
"Preprocessing heißt, dass wir unsere Daten vom Rauschen befreien."
Dann die Artefaktreduktion. Jede Muskelbewegung stört die Signale. Faber:
"Zum einen dieses Blinzeln herausrechnen, zum anderen zum Beispiel Kaumuskulatur rausziehen."
Jetzt erst geht es daran, Muster in den Daten zu erkennen. Faber:
"Welche Elektroden werden immer wieder verwendet? In welchem Frequenzbereich sind diese Elektroden immer aktiv?"
Diese Muster kann ein spezieller Lernalgorithmus widererkennen. So kann Sebastian, wenn er an etwas Bestimmtes denkt, den Computer steuern. Welche Gedanken am besten funktionieren, das testen die Studenten gerade. Heute versuchen sie es mit Gedanken an Navigation.
Natalie Faber: "Wie genau stellst Du Dir das vor?"
Sebastian Reul: "Ich schließe bei uns das Tor auf, laufe durch den Hof, durch die Haustür ..."
Natalie Faber: "Aber stellst Du Dir Dich auch vor?"
Sebastian Reul: "Ja, Ego-Perspektive, wie bei Counterstrike."
Natalie Faber: "Im Prinzip wird Sebastian gleich einen Balken sehen und mit dem Gedanken, in seine Wohnung reinzulaufen, soll dieser Balken gefüllt werden. Wir haben vorher mehrere Sessions genommen, wo er daran gedacht hat. Da haben wir verschiedene Muster rausgezogen. Und jetzt versuchen wir, diesen Gedanken der Navigation zu verstärken, indem wir dem Sebastian Feedback geben, wenn er etwas gut gemacht hat."
Ein Projektor wirft den Balken vor Sebastian Reul an die Wand. Der Balken füllt sich mal besser mal schlechter. Je nachdem, wie gut das funktioniert, könnte ein Gedanke eines der drei Kommandos werden, mit denen Sebastian Reul beim Cybathlon seine Spielfigur steuern wird.
Bei den Übungen sitzt er bewegungslos in seinem Rollstuhl. Dennoch ist die Anstrengung enorm:
"Nach dem Training kann man mich meistens in die Tonne treten, weil ich mental komplett am Ende bin. Dazu kommt, dass meine Muskeln, die Impulse, die ich versucht habe zu unterdrücken, sich entladen, was mit Schmerzen verbunden ist."
Wozu also das Ganze? Wozu strengt sich Sebastian Reul so an? Noch dazu für die Disziplin beim Cybathlon, die kaum Bezug zum Alltag hat? Er will die Forschung voranbringen, sagt er. Vor dem Abitur hatte er einen schweren Autounfall als Beifahrer. Danach war er vom Hals abwärts gelähmt. Erst langsam konnte er die Arme wieder ein wenig bewegen:
"Ich hasse es, auf Hilfe angewiesen zu sein. Weil ich weiß, wie es früher war. Ich bin selbstständig erzogen, ich kann einen kompletten Haushalt schmeißen. Meine Eltern konnten früher in Urlaub fahren, weil ich mich um meine Oma gekümmert habe. Meine Oma war früher ein Pflegefall. Ich kann nähen, bügeln, stricken, häkeln, kochen, Waschmaschine betätigen. Das war eine der schwierigsten Sachen, was heute auch nicht immer so leicht ist: Auf Hilfe angewiesen sein. Und um Hilfe zu bitten. Das ist sehr schwer gewesen. Ist heute noch schwer, stellenweise."
Und genau diese Selbstständigkeit könnte die Technologie Sebastian Reul und vielen anderen irgendwann zurückgeben. Sie könnten in Zukunft mit ihren Gedanken Computer, ein modernes Haus oder sogar ein Exoskelett steuern. In ersten Experimenten haben Menschen bereits mechanische Hände mit Gedankenkraft bedient. Doch Sebastian Reul gibt sich keinen Illusionen hin. Schlechte Erfahrungen. Nach dem Unfall hatte er eine Sprachsteuerung in seiner Wohnung:
"Das hat überhaupt nicht funktioniert. Ich wollte das Licht im Wohnzimmer aus haben und das Licht im Schlafzimmer ging an. Und irgendwann ging gar nichts mehr, sodass eine dritte Person draußen die Sicherungen raus machen musste. Wenn es funktioniert, dann ist es eine Erleichterung. Wenn nicht, dann eher eine Belastung."
Der Wettkampf geht dem Ende zu
Samstag, 8. Oktober 2016, Zürich. Wettkampftag beim Cybathlon.
Robert Riener: "Die Technologie für Menschen mit Behinderungen wird besser werden, akzeptabler werden, wird auch finanziell günstiger werden, aber man muss auch da Geduld haben."
Beim Cybathlon kämpfen Forscher, Unternehmen und Piloten um einen echten Durchbruch in der Prothetik. Dafür decken sie Frühstückstische, steigen über Rampen und spielen Jump-and-Run-Spiele. In einigen Jahren könnten das auch für die Piloten banale Aufgaben sein.
Es sprachen: Jochen Langner und Christina Puciata
Ton und Technik: Roman Weingart
Regie: Axel Scheibchen
Redaktion: Christiane Knoll
Deutschlandfunk 2016
Ton und Technik: Roman Weingart
Regie: Axel Scheibchen
Redaktion: Christiane Knoll
Deutschlandfunk 2016