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da ist kein fluß mehr

Bereits seit Jahren eilt der Schriftstellerin und Journalistin Hanna Krall der Ruf einer Meisterin der literarischen Reportage voraus. Es ist vor allem das Schicksal der polnischen Juden, das sie in ihren Büchern auf ungewöhnliche Weise vergegenwärtigt: "Mit lakonischer, bisweilen gar sarkastischer Schärfe protokolliert sie Auflehnung wie Verzweiflung der Opfer ohne heroisierende Verklärung. Die vorsätzliche Distanz der Autorin verweigert sich jeglicher Sinnstiftung und flüchtiger Betroffenheit", so die Jury des Jeannette-Schocken-Preises.

Helga Hirsch |
    Krall wurde am 20. Mai 1937 in Warschau geboren. Die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg überlebte sie als Jüdin in dem Versteck einer polnischen Familie. Nach dem Studium der Publizistik an der Warschauer Universität arbeitete sie von 1957 bis 1966 als Reporterin für die Tageszeitung "Das Leben Warschaus". Von 1966 an war sie Redaktionsmitglied der Wochenzeitung "Polityka", von der sie sich erst im Dezember 1981, nach der Verhängung des Kriegsrechts, trennte. In den Jahren 1966-1969 war sie Korrespondentin des Blattes in der Sowjetunion; dort entstanden die Reportagensammlungen "Östlich vom Arbat", "Sibirien, das Land der Möglichkeiten" und "Die Reife, zugänglich für alle". In den Jahren 1981-1987 war sie literarische Beraterin der Filmproduktionsgesellschaft "Tor". Für ihr Schaffen wurde sie mehrmals ausgezeichnet: in den Jahren 1966-1988 fünfmal mit dem Preis der "Association of Polish Journalists"; darüber hinaus mit dem Preis der Krakauer Wochenschrift "Literarisches Leben", dem Untergrundpreis der "Solidarnosc", dem Preis des polnischen PEN-Clubs und dem der Breslauer Literaturzeitschrift "Odra" sowie dem Jeannette-Schocken-Preis der Stadt Bremerhaven. 1992 erhielt sie ein einjähriges DAAD-Künstlerstipendium in Berlin, 1995 ein dreimonatiges Stipendium des "International Writing Program" in Iowa (USA). Heute lebt sie als freie Autorin in Warschau.

    Der internationale Durchbruch gelang Hanna Krall mit der in vierzehn Sprachen übersetzten literarischen Reportage "Dem Herrgott zuvorkommen". Es ist ein Gespräch mit Marek Edelman, einem bekannten Lodzer Herzchirurgen und zugleich dem letzten überlebenden Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto. Die Einzigartigkeit des Werks besteht zum einen in seiner Form: Indem sie stets zwischen zwei Zeitebenen wechselt, läßt Krall den jungen Aufständischen neben dem erfolgreichen Kardiologen, die Insassen des Ghettos neben den Patienten seines Krankenhauses, Edelmans Kampfgenossen neben seinen Arztkollegen erscheinen. Zum anderen in dem einzigartigen, sarkastisch-nüchternen Ton: Edelman berichtet über das erlebte Grauen mit Selbstironie und atemberaubender Sachlichkeit, schafft immer wieder zu dem soeben Erzählten eine jegliche Sentimentalität ausschließende Distanz und offenbart so seine spezifische Philosophie des Todes, der Würde und der Menschlichkeit.

    Bevor die Suche nach den Spuren polnischer Juden zu ihrem Hauptanliegen wurde, schrieb Hanna Krall unzählige Reportagen, in denen sie ein Stück polnischer Gegenwart festhielt - sie sind in den Sammlungen "Sechs Schattierungen des Weiß", "Heuschnupfen", von der die gesamte Auflage eingestampft wurde und "Schwierigkeiten mit dem Aufstehen" enthalten. Es sind teils politische Reportagen, die allgemein bekannte Personen porträtieren - etwa Anna Walentynowicz, eine Galionsfigur der "Solidarnosc" - und wichtige Stationen der polnischen Nachkriegsgeschichte dokumentieren, teils melancholische, komische oder auf eine unspektakuläre Weise heroische Alltagsgeschichten, die ein prägnantes Bild der gesellschaftlichen Realität Polens vermitteln.

    Anfang der achtziger Jahre wandte sich Krall erneut dem jüdischen Thema zu und schrieb den Roman "Die Untermieterin", die Geschichte zweier Frauen, der Jüdin Marta und der Polin Maria, von denen die eine den Krieg als Kind auf der ‘arischen’ Seite überlebte und die andere die Tochter jener Familie ist, die Marta versteckt hatte. Indem sie den Zeitbogen bis zu den Jahren 1980/81 spannt - dem Zeitpunkt eines allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruchs in Polen -, thematisiert Krall einerseits die psychischen Folgen des Überlebens, andererseits die gesellschaftliche Ausgrenzung als Bestandteil der jüdischen Identität: "Ihr dürft zu uns gehören. Jedoch erst in unserer Angst und Erniedrigung, wenn auf alle geschossen wird", hört ihre Hauptfigur zum Schluß. Dabei vermeidet sie, so Lothar Baier, "jede larmoyante Schwarzweißmalerei. Die im Roman entwickelte Theorie von den ‘Hellen’ und den ‘Schwarzen’ führt nicht zur manichäischen Einteilung in Gute und Schlechte, sondern akzentuiert noch das Clair-obscur, das Kralls Polenbild umgibt."

    Nach diesem bislang einzigen autobiographischen Buch legte Krall drei Geschichtensammlungen vor, "Hypnose", "Tanz auf fremder Hochzeit" und "Existenzbeweise", in denen sie mit bemerkenswerter Akribie - in polnischen Kleinstädten ebenso wie in amerikanischen Metropolen - nach den Spuren polnischer Juden fahndet. Doch sie begnügt sich keineswegs damit, jüdische Biographien nachzuerzählen; vielmehr zeigt sie das permanente Ineinandergreifen jüdischer und nicht-jüdischer Schicksale auf. Dabei wendet sie oft eine komplizierte Verschachtelungstechnik an, baut Zitate aus der Sachliteratur ein und schafft durch Abschweifungen und Anekdoten unzählige thematische und zeitliche Ebenen, was bewirkt, daß all diese Welten, die sie durchstreift - die jüdische, die polnische, die deutsche - zu einem untrennbaren Ganzen verschmelzen. Sie selbst bleibt fast immer im Hintergrund, Partei ergreift sie für niemanden, sie pflichtet niemandem bei. Sie beschränkt sich darauf, die ihr anvertrauten Geschichten zu registrieren und wiederzugeben - im Bewußtsein dessen, daß der "Autor des Großen Drehbuchs", wie sie gern den Schöpfer dieser Welt nennt, "es nicht mag, wenn man versucht, ihm zur Hand zu gehen".