Bettina Klein: Ilko-Sascha Kowalczuk arbeitet als Historiker bei der Birthler-Behörde, also bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, und er hat unlängst ein viel diskutiertes Buch über das Ende der DDR geschrieben mit dem treffenden Titel "Endspiel". Ich habe mit ihm über den Stand der geschichtlichen Aufarbeitung gesprochen und zunächst gefragt, was seine Erinnerung an den 9. November ist.
Ilko-Sascha Kowalczuk: Ich habe am 9. November live im DDR-Fernsehen diese berühmte Pressekonferenz mit Schabowski gesehen und ganz offenbar anders als viele, die das heute behaupten, nicht so recht den Sinn seiner Worte verstanden. Mit anderen Worten, ich habe gehört, dass der Mann verkündet hat, dass all diejenigen, die für immer ausreisen wollen, auch ausreisen können ab dem nächsten Tag. Unverzüglich hieß jetzt für mich auch nicht unbedingt, dass das also sofort passiert, sondern so, wie das ja auch gedacht war: Die Leute gehen zu den entsprechenden Ämtern und holen sich einen Stempel und dann dürfen sie ausreisen. Ich habe natürlich auch den Passus mit der Privatreise gelesen, aber vor dem Hintergrund aller Erfahrungen, die man so hatte, habe ich das auch erst mal nicht sonderlich ernst genommen. Mit anderen Worten: Ich bin davon total überrascht worden, was dann passierte.
Ich lag im Bett. Man hat mich geweckt und hat gesagt, stell dir mal vor, was jetzt da los ist, und da habe ich kurz geschluckt, dachte, will mich da irgendjemand veräppeln, und habe dann die Bilder gesehen und habe mich gefreut. Mir war auch relativ schnell klar, dass nun das, was sich in den Wochen zuvor in der DDR abspielte, auf eine neue Geschäftsgrundlage gestellt wurde. Für mich persönlich hieß das aber letztendlich, so wie der 9. Oktober 1989 der Tag der großen Massendemonstration in Leipzig und der 9. November 89 mit dem Fall der Mauer, das war eine Einheit, das gehörte zusammen. Erst kam die Freiheit, dann kam die Einheit und mein gesamtes Leben veränderte sich anschließend rasant, radikal und alles zum Positiven.
Klein: Nun sind Sie Historiker bei der Birthler-Behörde und rückblickend betrachtet fragen sich ja viele heute, obwohl vieles darüber geschrieben und veröffentlicht worden ist, haben Schabowski und Co. es nicht mehr überblickt, was sie dort taten und sagten? War es einfach schlicht ein Indiz für die vollkommene Unfähigkeit, die Situation, die schon entstanden war, überhaupt noch zu steuern? Was ist Ihre Interpretation dessen?
Kowalczuk: Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Frage der Reisefreiheit eine der ganz zentralen Fragen im Herbst 1989 war, und wenn man sich noch ein bisschen besser erinnern kann, dann fällt einem auch auf: Das war nicht nur im Herbst 1989 so, sondern das war eine der zentralen Fragen der gesamten Existenz der DDR über, spätestens dann seit 1961, dem Mauerbau. Insofern: Dieser Druck, der sich auf den Straßen in der DDR aufgebaut hatte in den Wochen zuvor, der Druck, der auch durch den Massenflüchtlingsstrom seit dem Spätsommer 1989 erzeugt wurde, mit dem musste die SED-Führung irgendwie umgehen. Sie hatten keine Patentrezepte, sie hatten überhaupt keine Ideen. Und dieser überraschende Mauerdurchbruch – es war ja ein Mauerdurchbruch und weniger ein Mauerfall, ein Mauerdurchbruch, der von der Gesellschaft erzwungen wurde -, da hat die SED-Führung insofern ein bisschen so eine Hilfestellung gegeben, allerdings natürlich nicht mit dem eigentlichen Ziel, wie das heute immer interpretiert wird und wie das auch Herr Schabowski gern sagt und andere Historiker, gewissermaßen nun die komplette Reisefreiheit zu gewähren, sondern eigentlich war die Idee, die dahinter stand, Druck von dem brodelnden Kessel abzulassen, um anschließend den Kesser auch wieder zu schließen und um anschließend zu gucken, wer im Prinzip in der DDR geblieben ist und was nun mit diesen verbliebenen Resten gemacht werden könnte.
Auch vor diesem Hintergrund wird ja erklärlich, warum in der NVA noch am 10. und am 11. November 1989 auf Geheiß der SED-Führung darüber nachgedacht wurde, ob man NVA-Einheiten zum Einsatz bringen könnte, um die Mauer wieder zu schließen. Dass das nicht passierte, das hatte nichts mit dem Willen der SED-Führung zu tun, sondern hing mehr daran, dass sich NVA-Generäle weigerten, die Soldaten gegen die eigene Bevölkerung in Gang zu setzen.
Klein: Wenn wir die Aufarbeitung der Geschichte betrachten, diesen ganzen Prozess – Sie haben auch gerade ein sehr gutes Buch dazu geschrieben -, was ist bisher nach Ihrer Meinung der Kardinalfehler gewesen, oder was fehlt, was ist völlig unterbelichtet in der historischen Betrachtung der vergangenen 20 Jahre, angefangen beim Umbruch?
Kowalczuk: Zunächst muss man feststellen, dass diese Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur, die Aufarbeitung der DDR-Geschichte zunächst einem immensen Bedürfnis der Gesellschaft selbst folgte, nämlich die Hoheit über die eigene Vergangenheit, über die eigene Geschichte zurückzuerlangen. Da könnte man ganz viele Beispiele bringen, aber letztendlich die Erstürmung der Stasi-Zentralen, die Offenlegung der Akten passte genau in diese Linie, denn es ging darum, einer der berühmtesten Slogans lautete ja, "Ich will meine Akte", und das hieß natürlich übersetzt, ich will wissen, was eigentlich sozusagen mit mir genau passierte, wer dafür verantwortlich ist, dass bestimmte Dinge passiert sind.
Der Kardinalfehler, der dann allerdings relativ schnell einsetzte – und da könnte ich mich rausnehmen, mache ich aber nicht; ich war die ganzen 20 Jahre mehr oder weniger an diesem Aufarbeitungsprozess aktiv beteiligt -, bestand erstens darin, dass die Medien, die Öffentlichkeit, aber auch Teile der Wissenschaft zu stark auf die Staatssicherheit orientiert waren. Man hat völlig aus dem Auge verloren, dass die SED der eigentliche Befehlsgeber für alles war. Da sind einfach bestimmte Gewichtungen durcheinandergekommen. Der inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit oder auch ein Mitarbeiter der Staatssicherheit steht weitaus mehr am historischen Pranger als ein hochrangiger SED-Funktionär, obwohl die im übertragenen Sinne eigentlich die Befehlsgeber für diese Stasi-Leute waren. Also da ist einiges durcheinandergekommen.
Der zweite Punkt, den man nennen muss: Es ist viel zu spät und bis zum heutigen Tage viel zu halbherzig sich mit dem Alltag, mit der Gesellschaft in der DDR auseinandergesetzt worden. Eigentlich ging es immer nur so um staatliche Strukturen und solche Sachen. Da gibt es natürlich eine ganze Reihe von literarischen Versuchen, auch einigen wissenschaftlichen Versuchen. Das ist aber weitaus in meiner Perspektive zu wenig und das führt mich dann zu dem dritten Punkt: Diese ganzen erregten Debatten, ob die DDR nun eine Diktatur war, ob es ein Unrechtsregime war und so weiter und so fort, diese Erregung lässt sich eben nur vor dem Hintergrund erklären, dass wir alle, die wir seit 20 Jahren damit beschäftigt sind, es offenbar nicht fertig gebracht haben, den Menschen zwischen Rügen und Suhl zu erklären, dass wenn ich von der SED-Diktatur spreche noch lange nicht meine, dass ich damit ihr persönliches Leben in dieser Diktatur abwerte, dass das dadurch nutzlos wird oder wertlos. Das, glaube ich, ist auch eine Aufgabe insbesondere für die politische Bildung, aber auch für die Öffentlichkeit, für die Medien, für die Wissenschaften, die auch in den nächsten Jahren ansteht, irgendwie halbwegs – ich sage jetzt mal ein Wort, was nicht so richtig glücklich ist – gelöst werden muss.
Viele Ostdeutsche fühlen sich ja nach wie vor, wenn man sich Umfragen anschaut, als sogenannte Bundesbürger zweiter Klasse. Ob das nun gerechtfertigt ist oder nicht, sei mal dahingestellt. Ich sehe das ein bisschen anders oder ich sehe das sehr stark anders. Aber wenn das so ist, wenn viele das so empfinden, dann versuchen sie natürlich, ihr jetziges Dasein auch so praktisch mit historischen Erzählungen und Erklärungen irgendwie zu legitimieren.
Klein: Haben Sie eine Vorstellung davon, wie das in die Gänge kommen könnte, also zum einen, was Sie gerade gesagt haben, SED-Unrechtsstaat heißt nicht, ich darf auch meine eigenen Erinnerungen behalten, und es sind auch gute und auch private schöne Erinnerungen möglich gewesen in so einem Staat, und zweitens das große Übergewicht Stasi in der Aufarbeitung im Vergleich zu der Rolle, die die SED gespielt hat. Wie kann das wieder ins Gleichgewicht kommen oder überhaupt ins Gleichgewicht kommen?
Kowalczuk: Auf der einen Seite, wenn mir die Bemerkung erlaubt sein darf, ich glaube und hoffe ja, dass ich dies in meinem Buch "Endspiel – die Revolution von 1989" insbesondere auf den ersten 300 Seiten versucht habe, so ein bisschen hinzubekommen, ein anderes Lot zu finden, indem ich ein gesellschaftliches Panorama entwerfe, das sich an vielen Punkten einer grobschlächtigen Schwarz-Weiß-Malerei entzieht, ohne dass ich dabei darauf verzichte, klar im Urteil zu sein, und ohne dass ich darauf verzichte, auch pointiert zu antworten. Aber ich lasse auch manchmal ganz bewusst etwas im Ungefähren stehen, weil es nicht immer auf klare Fragen eindeutige Antworten gibt.
Klein: Auf welche zum Beispiel nicht?
Kowalczuk: Na ja, gerade wenn es darum geht, zum Beispiel warum sich jemand in dem politischen System so und so arrangiert hat, das heißt irgendwie mitgemacht hat. Da gibt es ganz verschiedene Beweggründe und da muss man auch erst mal, glaube ich, diese verschiedenen Beweggründe versuchen zu verstehen. Natürlich war nicht jeder, der in der SED war, ein eisenhart überzeugter Kommunist und ein ganz böser Täter. Da gibt es ganz viele Motivationen, warum man das gemacht hat. Ob mir die nun erst mal passen oder nicht – ich habe meine eigene Sozialisation und meine eigenen Erfahrungen -, aber das muss ich, glaube ich, das muss man schlicht zur Kenntnis nehmen.
Das Zweite, was, glaube ich, wichtig wäre, um das alles so ein bisschen runterzubrechen, wäre, dass wir stärker vergleichende Perspektiven uns anschauen, also dass wir nicht immer nur sozusagen die DDR wie so eine Insel in der Weltgeschichte betrachten, sondern dass wir eben auch mal gucken, wie war das denn in der Sowjetunion, wie war das in Polen vor 89, nach 1989, wie war das in Island oder in Portugal oder in Spanien und natürlich in der alten Bundesrepublik, dass man sich das mal so auf der gesellschaftlichen Ebene anschaut und bestimmte Dinge nicht zu relativieren, aber in ein Maß zu bringen, das dem Leben der Menschen in solchen Systemen gerechter wird. Natürlich sind die Menschen auch in der DDR nicht immer morgens aufgestanden und haben geflucht, jetzt muss ich aber hier in der Diktatur leben. Das sind natürlich so Metakonstruktionen, die mit dem Alltag nicht allzu viel zu tun haben und die man auch jetzt auseinanderhalten muss.
Der dritte Punkt ist, glaube ich, der ganz wichtig ist, wenn ich das noch sagen darf: In diesem vereinten Deutschland, in diesem vereinten Europa müssen wir es lernen, alle miteinander, dass wir uns stärker für die Geschichten unserer Nachbarn interessieren, und das heißt auch, dass die Ostdeutschen endlich anfangen sollten, sich stärker für die Geschichten der Westdeutschen zu interessieren, weil das ist so ein ganz großer Punkt. Es wird immer erzählt, wir müssen uns alle die Geschichten erzählen, aber eigentlich meint man damit immer nur, die Westdeutschen sollen den Ostdeutschen zuhören. Nur in Ostdeutschland hört den Westdeutschen keiner zu und ich glaube, wenn da eine größere Bereitschaft da wäre, sich auch mal diese Geschichten anzuhören, diese auch vielfach gebrochenen Biografien, die vielen Widersprüche, dass man dann unter Umständen auch zu neuen Einsichten käme, sowohl auf der persönlichen Ebene als auch auf der wissenschaftlichen Ebene.
Klein: Die Empfehlung des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk heute Morgen hier im Deutschlandfunk.
Ilko-Sascha Kowalczuk: Ich habe am 9. November live im DDR-Fernsehen diese berühmte Pressekonferenz mit Schabowski gesehen und ganz offenbar anders als viele, die das heute behaupten, nicht so recht den Sinn seiner Worte verstanden. Mit anderen Worten, ich habe gehört, dass der Mann verkündet hat, dass all diejenigen, die für immer ausreisen wollen, auch ausreisen können ab dem nächsten Tag. Unverzüglich hieß jetzt für mich auch nicht unbedingt, dass das also sofort passiert, sondern so, wie das ja auch gedacht war: Die Leute gehen zu den entsprechenden Ämtern und holen sich einen Stempel und dann dürfen sie ausreisen. Ich habe natürlich auch den Passus mit der Privatreise gelesen, aber vor dem Hintergrund aller Erfahrungen, die man so hatte, habe ich das auch erst mal nicht sonderlich ernst genommen. Mit anderen Worten: Ich bin davon total überrascht worden, was dann passierte.
Ich lag im Bett. Man hat mich geweckt und hat gesagt, stell dir mal vor, was jetzt da los ist, und da habe ich kurz geschluckt, dachte, will mich da irgendjemand veräppeln, und habe dann die Bilder gesehen und habe mich gefreut. Mir war auch relativ schnell klar, dass nun das, was sich in den Wochen zuvor in der DDR abspielte, auf eine neue Geschäftsgrundlage gestellt wurde. Für mich persönlich hieß das aber letztendlich, so wie der 9. Oktober 1989 der Tag der großen Massendemonstration in Leipzig und der 9. November 89 mit dem Fall der Mauer, das war eine Einheit, das gehörte zusammen. Erst kam die Freiheit, dann kam die Einheit und mein gesamtes Leben veränderte sich anschließend rasant, radikal und alles zum Positiven.
Klein: Nun sind Sie Historiker bei der Birthler-Behörde und rückblickend betrachtet fragen sich ja viele heute, obwohl vieles darüber geschrieben und veröffentlicht worden ist, haben Schabowski und Co. es nicht mehr überblickt, was sie dort taten und sagten? War es einfach schlicht ein Indiz für die vollkommene Unfähigkeit, die Situation, die schon entstanden war, überhaupt noch zu steuern? Was ist Ihre Interpretation dessen?
Kowalczuk: Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Frage der Reisefreiheit eine der ganz zentralen Fragen im Herbst 1989 war, und wenn man sich noch ein bisschen besser erinnern kann, dann fällt einem auch auf: Das war nicht nur im Herbst 1989 so, sondern das war eine der zentralen Fragen der gesamten Existenz der DDR über, spätestens dann seit 1961, dem Mauerbau. Insofern: Dieser Druck, der sich auf den Straßen in der DDR aufgebaut hatte in den Wochen zuvor, der Druck, der auch durch den Massenflüchtlingsstrom seit dem Spätsommer 1989 erzeugt wurde, mit dem musste die SED-Führung irgendwie umgehen. Sie hatten keine Patentrezepte, sie hatten überhaupt keine Ideen. Und dieser überraschende Mauerdurchbruch – es war ja ein Mauerdurchbruch und weniger ein Mauerfall, ein Mauerdurchbruch, der von der Gesellschaft erzwungen wurde -, da hat die SED-Führung insofern ein bisschen so eine Hilfestellung gegeben, allerdings natürlich nicht mit dem eigentlichen Ziel, wie das heute immer interpretiert wird und wie das auch Herr Schabowski gern sagt und andere Historiker, gewissermaßen nun die komplette Reisefreiheit zu gewähren, sondern eigentlich war die Idee, die dahinter stand, Druck von dem brodelnden Kessel abzulassen, um anschließend den Kesser auch wieder zu schließen und um anschließend zu gucken, wer im Prinzip in der DDR geblieben ist und was nun mit diesen verbliebenen Resten gemacht werden könnte.
Auch vor diesem Hintergrund wird ja erklärlich, warum in der NVA noch am 10. und am 11. November 1989 auf Geheiß der SED-Führung darüber nachgedacht wurde, ob man NVA-Einheiten zum Einsatz bringen könnte, um die Mauer wieder zu schließen. Dass das nicht passierte, das hatte nichts mit dem Willen der SED-Führung zu tun, sondern hing mehr daran, dass sich NVA-Generäle weigerten, die Soldaten gegen die eigene Bevölkerung in Gang zu setzen.
Klein: Wenn wir die Aufarbeitung der Geschichte betrachten, diesen ganzen Prozess – Sie haben auch gerade ein sehr gutes Buch dazu geschrieben -, was ist bisher nach Ihrer Meinung der Kardinalfehler gewesen, oder was fehlt, was ist völlig unterbelichtet in der historischen Betrachtung der vergangenen 20 Jahre, angefangen beim Umbruch?
Kowalczuk: Zunächst muss man feststellen, dass diese Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur, die Aufarbeitung der DDR-Geschichte zunächst einem immensen Bedürfnis der Gesellschaft selbst folgte, nämlich die Hoheit über die eigene Vergangenheit, über die eigene Geschichte zurückzuerlangen. Da könnte man ganz viele Beispiele bringen, aber letztendlich die Erstürmung der Stasi-Zentralen, die Offenlegung der Akten passte genau in diese Linie, denn es ging darum, einer der berühmtesten Slogans lautete ja, "Ich will meine Akte", und das hieß natürlich übersetzt, ich will wissen, was eigentlich sozusagen mit mir genau passierte, wer dafür verantwortlich ist, dass bestimmte Dinge passiert sind.
Der Kardinalfehler, der dann allerdings relativ schnell einsetzte – und da könnte ich mich rausnehmen, mache ich aber nicht; ich war die ganzen 20 Jahre mehr oder weniger an diesem Aufarbeitungsprozess aktiv beteiligt -, bestand erstens darin, dass die Medien, die Öffentlichkeit, aber auch Teile der Wissenschaft zu stark auf die Staatssicherheit orientiert waren. Man hat völlig aus dem Auge verloren, dass die SED der eigentliche Befehlsgeber für alles war. Da sind einfach bestimmte Gewichtungen durcheinandergekommen. Der inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit oder auch ein Mitarbeiter der Staatssicherheit steht weitaus mehr am historischen Pranger als ein hochrangiger SED-Funktionär, obwohl die im übertragenen Sinne eigentlich die Befehlsgeber für diese Stasi-Leute waren. Also da ist einiges durcheinandergekommen.
Der zweite Punkt, den man nennen muss: Es ist viel zu spät und bis zum heutigen Tage viel zu halbherzig sich mit dem Alltag, mit der Gesellschaft in der DDR auseinandergesetzt worden. Eigentlich ging es immer nur so um staatliche Strukturen und solche Sachen. Da gibt es natürlich eine ganze Reihe von literarischen Versuchen, auch einigen wissenschaftlichen Versuchen. Das ist aber weitaus in meiner Perspektive zu wenig und das führt mich dann zu dem dritten Punkt: Diese ganzen erregten Debatten, ob die DDR nun eine Diktatur war, ob es ein Unrechtsregime war und so weiter und so fort, diese Erregung lässt sich eben nur vor dem Hintergrund erklären, dass wir alle, die wir seit 20 Jahren damit beschäftigt sind, es offenbar nicht fertig gebracht haben, den Menschen zwischen Rügen und Suhl zu erklären, dass wenn ich von der SED-Diktatur spreche noch lange nicht meine, dass ich damit ihr persönliches Leben in dieser Diktatur abwerte, dass das dadurch nutzlos wird oder wertlos. Das, glaube ich, ist auch eine Aufgabe insbesondere für die politische Bildung, aber auch für die Öffentlichkeit, für die Medien, für die Wissenschaften, die auch in den nächsten Jahren ansteht, irgendwie halbwegs – ich sage jetzt mal ein Wort, was nicht so richtig glücklich ist – gelöst werden muss.
Viele Ostdeutsche fühlen sich ja nach wie vor, wenn man sich Umfragen anschaut, als sogenannte Bundesbürger zweiter Klasse. Ob das nun gerechtfertigt ist oder nicht, sei mal dahingestellt. Ich sehe das ein bisschen anders oder ich sehe das sehr stark anders. Aber wenn das so ist, wenn viele das so empfinden, dann versuchen sie natürlich, ihr jetziges Dasein auch so praktisch mit historischen Erzählungen und Erklärungen irgendwie zu legitimieren.
Klein: Haben Sie eine Vorstellung davon, wie das in die Gänge kommen könnte, also zum einen, was Sie gerade gesagt haben, SED-Unrechtsstaat heißt nicht, ich darf auch meine eigenen Erinnerungen behalten, und es sind auch gute und auch private schöne Erinnerungen möglich gewesen in so einem Staat, und zweitens das große Übergewicht Stasi in der Aufarbeitung im Vergleich zu der Rolle, die die SED gespielt hat. Wie kann das wieder ins Gleichgewicht kommen oder überhaupt ins Gleichgewicht kommen?
Kowalczuk: Auf der einen Seite, wenn mir die Bemerkung erlaubt sein darf, ich glaube und hoffe ja, dass ich dies in meinem Buch "Endspiel – die Revolution von 1989" insbesondere auf den ersten 300 Seiten versucht habe, so ein bisschen hinzubekommen, ein anderes Lot zu finden, indem ich ein gesellschaftliches Panorama entwerfe, das sich an vielen Punkten einer grobschlächtigen Schwarz-Weiß-Malerei entzieht, ohne dass ich dabei darauf verzichte, klar im Urteil zu sein, und ohne dass ich darauf verzichte, auch pointiert zu antworten. Aber ich lasse auch manchmal ganz bewusst etwas im Ungefähren stehen, weil es nicht immer auf klare Fragen eindeutige Antworten gibt.
Klein: Auf welche zum Beispiel nicht?
Kowalczuk: Na ja, gerade wenn es darum geht, zum Beispiel warum sich jemand in dem politischen System so und so arrangiert hat, das heißt irgendwie mitgemacht hat. Da gibt es ganz verschiedene Beweggründe und da muss man auch erst mal, glaube ich, diese verschiedenen Beweggründe versuchen zu verstehen. Natürlich war nicht jeder, der in der SED war, ein eisenhart überzeugter Kommunist und ein ganz böser Täter. Da gibt es ganz viele Motivationen, warum man das gemacht hat. Ob mir die nun erst mal passen oder nicht – ich habe meine eigene Sozialisation und meine eigenen Erfahrungen -, aber das muss ich, glaube ich, das muss man schlicht zur Kenntnis nehmen.
Das Zweite, was, glaube ich, wichtig wäre, um das alles so ein bisschen runterzubrechen, wäre, dass wir stärker vergleichende Perspektiven uns anschauen, also dass wir nicht immer nur sozusagen die DDR wie so eine Insel in der Weltgeschichte betrachten, sondern dass wir eben auch mal gucken, wie war das denn in der Sowjetunion, wie war das in Polen vor 89, nach 1989, wie war das in Island oder in Portugal oder in Spanien und natürlich in der alten Bundesrepublik, dass man sich das mal so auf der gesellschaftlichen Ebene anschaut und bestimmte Dinge nicht zu relativieren, aber in ein Maß zu bringen, das dem Leben der Menschen in solchen Systemen gerechter wird. Natürlich sind die Menschen auch in der DDR nicht immer morgens aufgestanden und haben geflucht, jetzt muss ich aber hier in der Diktatur leben. Das sind natürlich so Metakonstruktionen, die mit dem Alltag nicht allzu viel zu tun haben und die man auch jetzt auseinanderhalten muss.
Der dritte Punkt ist, glaube ich, der ganz wichtig ist, wenn ich das noch sagen darf: In diesem vereinten Deutschland, in diesem vereinten Europa müssen wir es lernen, alle miteinander, dass wir uns stärker für die Geschichten unserer Nachbarn interessieren, und das heißt auch, dass die Ostdeutschen endlich anfangen sollten, sich stärker für die Geschichten der Westdeutschen zu interessieren, weil das ist so ein ganz großer Punkt. Es wird immer erzählt, wir müssen uns alle die Geschichten erzählen, aber eigentlich meint man damit immer nur, die Westdeutschen sollen den Ostdeutschen zuhören. Nur in Ostdeutschland hört den Westdeutschen keiner zu und ich glaube, wenn da eine größere Bereitschaft da wäre, sich auch mal diese Geschichten anzuhören, diese auch vielfach gebrochenen Biografien, die vielen Widersprüche, dass man dann unter Umständen auch zu neuen Einsichten käme, sowohl auf der persönlichen Ebene als auch auf der wissenschaftlichen Ebene.
Klein: Die Empfehlung des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk heute Morgen hier im Deutschlandfunk.