Minna hat einen Selbstmordversuch hinter sich und erholt sich in einem Landhotel in der Toskana. Dort lernt sie einen italienischen Unternehmer kennen, der sie unterstützen will. Er gibt ihr Geld und erwartet als Gegenleistung wenig Konkretes: Sie soll zufrieden sein, in ihrer Umgebung Glück verbreiten - und über ihre Fortschritte Buch führen. Er bezahlt sie also im Grunde für die "Lebenskunst", so reflektiert Minna:
"Vico würde ich übrigens auch zutrauen, dass er gar nicht vorhat zu lesen oder übersetzen zu lassen, was ich schreibe. Als Wohltäter will er mich einfach in die Gemeinde der Empfänger von Wohltaten einschließen und damit eine Kettenreaktion in Gang setzen: Er und die weichen Umschläge mit den freundlichen Scheinen tun mir gut, die ich wiederum anderen gut tue, die ich mir selbst gut tue, indem ich schreibe."
Die Ich-Erzählerin wohnt in München, dort wird Vico sie besuchen und sich von ihr die Stadt zeigen lassen. Das Verhältnis der beiden ähnelt unübersehbar dem einer Schriftstellerin und ihres Verlegers, der einen Vorschuss auf ihr nächstes Buch gibt und gelegentlich Kontakt aufnimmt, um zu sehen, ob die Autorin wohlauf und fleißig ist. Dagmar Leupold sieht die Grundsituation ihres neuen Romans "Unter der Hand" jedoch etwas anders.
"Ja, nur ohne die Lizenz natürlich, die ein Märchen hat, nämlich garantierte Wunscherfüllung, Möglichkeit auf Verwandlung, Einlösung aller Utopien und so weiter. Insofern ist sie eher so eine Schwester von Hans im Glück und Vico, dieser Mäzen, eher der König, der jemanden losschickt. Also ich habe das wirklich ein bisschen gebaut wie ein Märchen, also sie ist auf der Suche nach etwas, und darüber führt sie Buch."
Ein Märchen also: Der reiche Unternehmer als Fee, die ein armes Mädchen aus seinem Elend befreit. Zwar ist Minna schon 50 Jahre alt, aber die Single-Frau lebt tatsächlich sehr prekär ohne festen Job oder sonstige verlässliche Einnahmen. Sie gibt ein bisschen Nachhilfestunden, passt auf Wohnungen auf, deren Besitzer viel reisen, und liest ab und an Korrektur. Zudem ist Minna schüchtern, sie traut sich wenig zu und ist auf Rückenstärkung wie die von Vico dringend angewiesen.
"Er gönnt mir das Schreiben als Mundart. Als wachse mir dort der Schnabel, den ich ansonsten so oft halte. Frühgeburten können nämlich gar nicht schreien, diese Fähigkeit entwickelt sich erst in den letzten Wochen des intrauterinen Arrests. Eine Frage der Lunge."
Minna kam zwei Monate verfrüht zur Welt und wurde auf einem Bettchen aus Flusskieseln unter einer Infrarotlampe am Leben erhalten. Dass sie ein Frühchen ist, spielt im Roman eine wichtige Rolle, denn Minna ist dadurch krankheitsanfällig, übersensibel und kann sich auch schlecht gegen Übergriffe wehren. Dass sie missbraucht wurde, deutet sie nur kurz an, als sie einem Freund erklärt, warum sie an Polyneuropathie leidet, dieser Nervenkrankheit, die die körperliche Wahrnehmung beeinträchtigt: kalt und heiß wird als äußerst schmerzhaft empfunden, ebenso die geringste Berührung.
"Wie kommt man zu solchen exklusiven Schmerzen?, hatte Franz mich einigermaßen spöttisch gefragt, und ich hatte ihm geantwortet: Da muss man nur zwei Monate zu früh auf die Welt kommen, mit einer Haut, die alles durchlässt und nichts vereitelt, in der Kindheit zweckentfremdet worden sein vom Klavierlehrer oder dem Onkel oder dem angehenden Rechtsanwalt, und eine Mutter haben, die mehr Einwände und Beanstandungen hat als Zuneigung - und schon kommt dir die Messbarkeit der Welt abhanden. In ihren Höhen und Tiefen."
Das Unglück ironisieren
Es handelt sich bei Minna also um eine durchaus tragische Figur. Irritierenderweise erzählt sie von ihrem Leid meist lakonisch und mit sarkastischem Humor. Sie nennt sich ein "Mängelexemplar" oder bezichtigt sich der "Frühchenwehleidigkeit". Wieso ironisiert Minna, respektive ihre Autorin Dagmar Leupold, dieses Unglück?
"Man kann nicht von Leidensgeschichten immer nur in Moll erzählen. Und da boten sich einerseits ein paar Motive aus dem Schelmenroman an - für mich hat die Minna auch etwas von einer Schelmin, die also ein bisschen schräger auf die Welt guckt und eher randständig erzählt. Und indem sie das alles aufschreibt und erzählt, bringt sie sich selbst zum Leben und verändert sich ja auch, das merkt man dann an den Begegnungen, die sie so nach und nach hat, und es verändern sich auch die Verhältnisse zu den Menschen, die sie schon vor diesem Schreibauftrag kannte. Natürlich ist das ein bisschen ironisch, aber es ist auch viel Hoffnung und Überzeugung meinerseits dabei, dass das Schreiben auch so etwas wie Gesundwerdung ist, jetzt gar nicht im therapeutischen Sinn, sondern tatsächlich als ästhetische Erfahrung."
Ausgestattet mit dem Auftrag, als Glücksfee zu agieren, spricht Minna an einer Münchner S-Bahn-Station eine alte Frau an, die ihr schon öfter aufgefallen ist. Lotte erweist sich nach anfänglichem Misstrauen als durchaus hilfebedürftig und auch dankbar. Es entwickelt sich eine Freundschaft, in die mit der Zeit auch der neue Geliebte Heinrich einbezogen wird sowie zwei Nachhilfeschüler. Das wird von Dagmar Leupold anschaulich und spannend erzählt, mit Witz und etwas Sentimentalität, wenn zum Ende hin die gut gelaunte Ersatzfamilie auf Lottes Wunsch einen Ausflug nach Salzburg unternimmt, und das glückliche Märchenende ganz nahe erscheint. Die Autorin versteht ihr Buch jedoch auch als Gesellschaftsroman.
"Es ging mir auch um Gesellschaftskritik und die aufzuzeigen an Störfällen. Also für mich sind alle Figuren, die auftreten, Störfälle im glatten Betrieb, entweder der Selbstoptimierung oder der ökonomischen Optimierung einer ganzen Gesellschaft: das sind diese beiden Nachhilfeschüler - eigentlich sind alle ein bisschen Sitzenbleiber, im guten Sinne, die sitzen am Rand und sehen ein paar Dinge, die Menschen, die mittendrin stecken und Karriere machen, was ja so viel heißt wie galoppieren von morgens bis abends - die sehen das ja nicht. Während so jemand wie Minna oder auch die alte Ostpreußin Lotte oder die Nachhilfeschüler, die sind ja außen vor. Und das war für mich ganz wichtig. Es ist für mich auch ein subversives Moment, - unter der Hand - und eines der Leistungsverweigerung und des Bestehens auf Glück, auf Utopien, auf Liebeserfüllung. Liebe ist auch ein Störfall, ob es Liebesglück oder Liebeskummer ist, es ist eben in diesem Getriebe und Betrieb ein Störfall, man funktioniert dann ja nicht mehr so richtig, wie wir alle wissen."
Autobiografische Züge
Dagmar Leupold ist eine sprachkräftige Autorin stiller, sensibler, manchmal verspielter Bücher, die gerne auch Literarisches reflektieren. Zuletzt veröffentlichte sie einen fiktiven Briefroman mit historischem Personal. In "Die Helligkeit der Nacht" lässt sie Heinrich von Kleist Liebesbriefe an Ulrike Meinhof verfassen. Vor acht Jahren schrieb sie allerdings ein Buch, das ganz in der Realität bleibt. "Nach den Kriegen" erzählt das Leben ihres Vaters, zugleich Dagmar Leupolds eigene Jugend im Schatten dieses ehrgeizigen und unzufriedenen Mannes. Ihr neuer Roman ist wieder fiktiv, enthält jedoch - gut getarnt - auch ein Buch über ihre Mutter, die wie die Romanfigur Lotte aus Ostpreußen stammte.
"Tarnung oder unter der Hand oder Subversion oder Sabotage - sind ganz wichtige Begriffe, das Buch selber ist ja auch so gestaltet, insofern als es ein Buch im Buch gibt, ein Kassiber im Buch in Märchenform. Und das entspringt einem Nachdenken über die Wirksamkeit von Literatur. Vieles ist autobiografisch, und sicherlich ist es in gewisser Weise das Pendant zum Vaterbuch, insofern als meine Mutter auch aus Ostpreußen war und diese traumatische zentrale Lebenserfahrung - man kann nicht sagen als Erzählung, aber als Trauma weitergegeben hat, aber ich glaube ästhetisch nicht an Abbildendes und ich glaube auch nicht an so ein simples Sender-Empfänger-Modell, deswegen ist alles tatsächlich getarnt. Die Gesellschaftskritik als Märchen, die Geschichte einer doch auch großen Verletzung als Glückssuche, und es stimmt ja immer beides. Es ist ja nicht Tarnung im Sinne von: man wischt es ab und es ist weg, sondern tatsächlich verändern die Tarnungen ja innen was. Ich glaube einfach an Transformation, das leistet Sprache, egal, ob der Stoff autobiografisch ist oder ein ganz fremder, recherchierter Stoff."
"Unter der Hand" ist ebenso Gesellschaftsroman wie Liebesgeschichte, enthält auch satirische Schilderungen der Münchner Schickeria, die Minna als Blumenpflegerin oder als Servierkraft bei Abendeinladungen erlebt. Dagmar Leupolds neues Buch, das auch Schelmenroman und Märchen sein will, beschert den Lesern stets wechselnde ästhetische Erfahrungen, was gelegentlich irritieren kann. "Schwarzarbeit" heißt übrigens das Märchen, das von Minna verfasst ist, die von der Autorin in einer kleinen Rahmenhandlung in einen Dornröschenschlaf versetzt wird. Ob sie von dem wieder erwachen wird, bleibt jedoch offen. Die schwarze Grundierung des Romans ist unübersehbar, die Melancholie sein heimliches Leitmotiv.
Dagmar Leupold: "Unter der Hand". Verlag Jung und Jung, Salzburg 2013. 294 Seiten, 22 Euro.