So geht er los - der letzte Roman von Anne Tyler. So einfach ist das. Und so einfach geht das auch weiter. Einerseits. Andererseits müssen wir die ersten Seiten ziemlich tapfer sein. Denn wer die großartige amerikanische Schriftstellerin nicht kennt, der wird zunächst verzweifeln an ihrem Romanpersonal. Von Rebecca Davitch hörten wir bereits. Sie steht im Zentrum des Romans und im Zentrum ihrer Familie, die wir sogleich kennen lernen werden, zickige Spinner samt und sonders, Vogelscheuchen aus der amerikanischen Provinz. Und machen Sie sich bitte keine Hoffnung, dass sich diese furchtbaren Käuze im Laufe des Buches zu Supermen, Heiligen oder Geheimagenten weiterentwickelten.
Die Provinz ist grausam - und Anne Tyler auch. Allerdings darf man prophezeien, dass der Leser spätestens nach drei Dutzend Seiten seine Verwunderung vergisst und sich staunend in eben diese Figuren vertieft - als seien sie die Hüter letzter Geheimnisse. So läuft das immer mit Anne Tylers Romanen.
Mitten im Tumult eines selbstverständlich aus dem Ruder laufenden Familienpicknicks dämmert Rebecca Davitch zum ersten Mal, dass sie im falschen Lebensfilm auftritt. Doch das Leben ist keine Wissenschaft, sondern eine vage Angelegenheit. Es lässt sich nicht auf den Begriff bringen oder gar lösen. Vom Leben kann man nur erzählen. Aber versuchen Sie mal von ihrem Leben so zu erzählen, dass es Sinn macht. Entweder Sie geraten in die Fallen der Amateurpsychologie oder Sie bleiben im Anekdotischen stecken. Da wir nie so genau wissen, wer wir sind, und da wir weitgehend vergessen haben, wer wir mal glaubten gewesen zu sein, verstehen wir uns nur aus den Augenwinkeln. Und von diesem seltsamen Abenteuer, dass wir uns nur aus den Augenwinkeln verstehen, davon kann keiner so hinreißend erzählen wie Anne Tyler.
Rebecca Davitch fragt sich also eines Tages, wie sie diese merkwürdige Person geworden ist, die sie in Wirklichkeit gar nicht ist. Allerdings hat Rebecca keine Ahnung von den Wirren abendländischer Sinnsucherei. Es ist nämlich so, dass Rebecca eine Art professioneller Party-Veranstalterin ist. Und zwar hat sie ein Haus in einem Vorort von Baltimore geerbt. Das macht auf den ersten Blick viel her, ist in Wahrheit aber wurmstichig und hinfällig. In diesem Haus richtet sie Hochzeiten und Kommunionsfeiern aus, Geburtstage und Betriebsausflüge. In diesem Haus begann auch vor 30 Jahren ihr jetziges Leben. Damals war sie hier nämlich selbst Gast einer Party. Dabei sprach ein nicht mehr ganz junger Mann das ziemlich schüchterne Mädchen an, und sagte: Sie scheinen sich ja prächtig zu amüsieren. Das war der Sohn des Hauses. Wenig später heiraten die beiden. Die junge Rebecca gibt ihr Studium und die Aussicht auf eine akademische Karriere auf, verlässt kommentarlos ihren damaligen Freund und wird zu der Frau, die sich prächtig zu amüsieren schien. Allerdings hatte sie sich gar nicht sonderlich amüsiert.
Einige Jahre später stirbt ihr Mann bei einem Unfall und hinterläßt ihr neben einem Haufen Kinder, einen mittlerweile fast lOOjährigen Onkel namens Poppy und jenes Haus mitsamt seinem komischen Veranstaltungsgewerbe. Da schaltet und waltet Rebecca nun seit vielen Jahrzehnten, selbstvergessen, tüchtig und tapfer: ewige Ekstase der Wiederholung - bis ihr eines Tages die Moral verrutscht. Und sie fragt sich, wie sie dahin gekommen ist. Sie entsinnt sich jener Lebensweggabelung, als völlig unvermutet aus der jungen Intellektuellen eine pragmatische Mutter und Überlebensakrobatin geworden ist. Sie sucht das Mädchen von damals in ihrem Gedächtnis, erinnert sich an die Lektüren während des Studiums und sie trifft sich mit dem Freund, den sie damals schnöde hat sitzen lassen, und der mittlerweile ein vertrottelter Professor geworden ist.
Doch sie findet nichts, was einer begründbaren Überzeugung ähnelte. So ist das meistens. Wir fällen unsere folgenreiche Lebensentscheidungen im Zustand einer kalkulierten Umnachtung, wir überrumpeln uns. Wir lassen einen Auftrag Herrschaft über uns ergreifen, damit wir aussehen, als gehörten wir in die Welt, als seien wir die entschlossenen Piloten unseres Daseins. Doch niemand sollte glauben, Anne Tylers Romans entwiche dabei das Dröhnen und Wimmern metaphysischer Tragödien. Das Leben verzehrt sich in leisen Tönen. Und die Vergeblichkeit ist keine erschütternde Erkenntnis, sondern das heiter verwegene Milieu des Menschseins. Zwar ins markig Funktionale verausgabt, halten wir doch keinerlei rationalen Überprüfung stand.
Anne Tyler ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Schriftstellerinnen, obwohl sie konsequent jede Form der Öffentlichkeit meidet. Sie ist jetzt 62 Jahre alt und lebt in Baltimore. Für ihren Roman "Atemübungen,, erhielt sie den Pulitzer-Preis. Auch in Deutschland erreichen ihre Romane hohe Auflagen. Doch unsere Literaturkritiker, die sich lieber den Fingerübungen der Stipendiatenprosa widmen, würdigen Anne Tyler kaum eines Kommentars. Es scheint, hinter der Orgie des perfiden Provinzialismus, hinter jenem Amerika ohne die sterbenslangweilige Dynamik des american way of life könnte nur eine Art Hausfrauenliteratur stecken. Deshalb sollte man sie mal daran erinnern, dass die Schriftsteller Roddy Doyle und Nick Hornby - nicht gerade Repräsentanten der heilen Welt - Anne Tyler kurzerhand zur besten Schriftstellerin der Gegenwart ernannt haben.
Die Provinz ist grausam - und Anne Tyler auch. Allerdings darf man prophezeien, dass der Leser spätestens nach drei Dutzend Seiten seine Verwunderung vergisst und sich staunend in eben diese Figuren vertieft - als seien sie die Hüter letzter Geheimnisse. So läuft das immer mit Anne Tylers Romanen.
Mitten im Tumult eines selbstverständlich aus dem Ruder laufenden Familienpicknicks dämmert Rebecca Davitch zum ersten Mal, dass sie im falschen Lebensfilm auftritt. Doch das Leben ist keine Wissenschaft, sondern eine vage Angelegenheit. Es lässt sich nicht auf den Begriff bringen oder gar lösen. Vom Leben kann man nur erzählen. Aber versuchen Sie mal von ihrem Leben so zu erzählen, dass es Sinn macht. Entweder Sie geraten in die Fallen der Amateurpsychologie oder Sie bleiben im Anekdotischen stecken. Da wir nie so genau wissen, wer wir sind, und da wir weitgehend vergessen haben, wer wir mal glaubten gewesen zu sein, verstehen wir uns nur aus den Augenwinkeln. Und von diesem seltsamen Abenteuer, dass wir uns nur aus den Augenwinkeln verstehen, davon kann keiner so hinreißend erzählen wie Anne Tyler.
Rebecca Davitch fragt sich also eines Tages, wie sie diese merkwürdige Person geworden ist, die sie in Wirklichkeit gar nicht ist. Allerdings hat Rebecca keine Ahnung von den Wirren abendländischer Sinnsucherei. Es ist nämlich so, dass Rebecca eine Art professioneller Party-Veranstalterin ist. Und zwar hat sie ein Haus in einem Vorort von Baltimore geerbt. Das macht auf den ersten Blick viel her, ist in Wahrheit aber wurmstichig und hinfällig. In diesem Haus richtet sie Hochzeiten und Kommunionsfeiern aus, Geburtstage und Betriebsausflüge. In diesem Haus begann auch vor 30 Jahren ihr jetziges Leben. Damals war sie hier nämlich selbst Gast einer Party. Dabei sprach ein nicht mehr ganz junger Mann das ziemlich schüchterne Mädchen an, und sagte: Sie scheinen sich ja prächtig zu amüsieren. Das war der Sohn des Hauses. Wenig später heiraten die beiden. Die junge Rebecca gibt ihr Studium und die Aussicht auf eine akademische Karriere auf, verlässt kommentarlos ihren damaligen Freund und wird zu der Frau, die sich prächtig zu amüsieren schien. Allerdings hatte sie sich gar nicht sonderlich amüsiert.
Einige Jahre später stirbt ihr Mann bei einem Unfall und hinterläßt ihr neben einem Haufen Kinder, einen mittlerweile fast lOOjährigen Onkel namens Poppy und jenes Haus mitsamt seinem komischen Veranstaltungsgewerbe. Da schaltet und waltet Rebecca nun seit vielen Jahrzehnten, selbstvergessen, tüchtig und tapfer: ewige Ekstase der Wiederholung - bis ihr eines Tages die Moral verrutscht. Und sie fragt sich, wie sie dahin gekommen ist. Sie entsinnt sich jener Lebensweggabelung, als völlig unvermutet aus der jungen Intellektuellen eine pragmatische Mutter und Überlebensakrobatin geworden ist. Sie sucht das Mädchen von damals in ihrem Gedächtnis, erinnert sich an die Lektüren während des Studiums und sie trifft sich mit dem Freund, den sie damals schnöde hat sitzen lassen, und der mittlerweile ein vertrottelter Professor geworden ist.
Doch sie findet nichts, was einer begründbaren Überzeugung ähnelte. So ist das meistens. Wir fällen unsere folgenreiche Lebensentscheidungen im Zustand einer kalkulierten Umnachtung, wir überrumpeln uns. Wir lassen einen Auftrag Herrschaft über uns ergreifen, damit wir aussehen, als gehörten wir in die Welt, als seien wir die entschlossenen Piloten unseres Daseins. Doch niemand sollte glauben, Anne Tylers Romans entwiche dabei das Dröhnen und Wimmern metaphysischer Tragödien. Das Leben verzehrt sich in leisen Tönen. Und die Vergeblichkeit ist keine erschütternde Erkenntnis, sondern das heiter verwegene Milieu des Menschseins. Zwar ins markig Funktionale verausgabt, halten wir doch keinerlei rationalen Überprüfung stand.
Anne Tyler ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Schriftstellerinnen, obwohl sie konsequent jede Form der Öffentlichkeit meidet. Sie ist jetzt 62 Jahre alt und lebt in Baltimore. Für ihren Roman "Atemübungen,, erhielt sie den Pulitzer-Preis. Auch in Deutschland erreichen ihre Romane hohe Auflagen. Doch unsere Literaturkritiker, die sich lieber den Fingerübungen der Stipendiatenprosa widmen, würdigen Anne Tyler kaum eines Kommentars. Es scheint, hinter der Orgie des perfiden Provinzialismus, hinter jenem Amerika ohne die sterbenslangweilige Dynamik des american way of life könnte nur eine Art Hausfrauenliteratur stecken. Deshalb sollte man sie mal daran erinnern, dass die Schriftsteller Roddy Doyle und Nick Hornby - nicht gerade Repräsentanten der heilen Welt - Anne Tyler kurzerhand zur besten Schriftstellerin der Gegenwart ernannt haben.