Montagabend in Cincinnati beim Spiel der Bengals gegen die Buffalo Bills. Die Gastgeber greifen sechs Minuten vor dem Ende des ersten Viertels erneut an. Der sprintstarke Tee Higgins rennt mit dem Ball in der Hand mit vollem Tempo und dem Kopf voraus in einen Verteidiger hinein.
Es ist tatsächlich Safety* Damar Hamlin, der nach dem Zusammenprall aufsteht, aber Sekunden später zusammenbricht und regungslos auf dem Rasen liegen bleibt.
Was das herbeigeeilte medizinische Personal herausfindet, spiegelt sich Sekunden später in den Gesichtern seiner Mannschaftskameraden wider und erleben Millionen live zuhause im Fernsehen mit. Während ihr Gefährte mit dem Leben ringt, ringen sie mit den Tränen. Hamlin hat aufgehört zu atmen. Die erste Diagnose: Herzstillstand. Er wird ins nahe Krankenhaus transportiert.
Jedes Jahr 150 junge, fitte tote Athleten in den USA
Kein seltener Fall im amerikanischen Sport. Kardiologen in den USA schätzen, dass allein in ihrem Land jedes Jahr um die 150 junge, fitte Athleten auf diese Weise sterben. Sie werden nicht rasch genug medizinisch behandelt.
Umso bemerkenswerter allerdings die Reaktion der National Football League. Die sagte auf Drängen der emotional mitgenommenen Spieler und Trainer das Spiel vorläufig ab und entschied am Donnerstag: Es wird keine Neuansetzung geben. Was angesichts der Szenen aus Cincinnati von der amerikanischen Sportwelt positiv aufgenommen wurde. Repräsentativ – der Kommentar von Basketballstar LeBron James:
“Das ist auf jeden Fall die richtige Entscheidung, egal wer sie getroffen hat. Nichts ist so wichtig wie die Sicherheit von Athleten, egal in welcher Sportart.”
Spielabsage ja oder nein?
Tatsächlich ist eine derartige Haltung noch immer eine Seltenheit. Zumal wenn sie so wie hier den weiteren Saisonverlauf verkompliziert. In einer Woche beginnen die Playoffs – mit den Bengals und den Bills. Aber das fehlende Resultat beeinflusst die Setzliste. Wofür die Liga erst in der kommenden Woche eine Lösung finden will.
Der australische Sportpsychologe Shane Murphy, Professor an der Western Connecticut State University in den USA und Autor eines 800 Seiten starken Standardwerks über Sport- und Leistungspsychologie, findet eine Spielabsage in solchen Situationen gradezu zwingend.
“Das ist schwierig für Athleten. Plötzlich wird jedem klar: Das könnte mir auch passieren. Sie haben die rohen Emotionen in diesem Moment gesehen. Das ist der Hauptgrund, warum man in einer solchen Situation eine Begegnung absagen muss. Die Spieler sind nicht in der Lage, einfach zur Normalität zurückzukehren. Andernfalls setzt man sie einem zusätzlichen Risiko aus."
Das Risiko? Dass sie sich verletzen, weil sie abgelenkt sind und in entscheidenden Momenten nicht mehr schnell genug reagieren.
Die UEFA und der Fall Eriksen
Im vorletzten Sommer bei der Fußball-Europameisterschaft brachten die Verantwortlichen der dänischen Nationalmannschaft deutlich weniger Fürsorge entgegen. Da brach ihr Kapitän Christian Eriksen in der ersten Halbzeit gegen Finnland ohne Einfluss eines Gegners zusammen, wurde wiederbelebt und ins Krankenhaus gebracht.
Die UEFA jedoch setzte das Team unter Druck. Die Spieler sollten selbst entscheiden: Entweder weiterspielen oder die Partie aussetzen und am nächsten Tag erneut antreten. Andernfalls wird die Begegnung als Niederlage gewertet.
Die Dänen waren fürs Weitermachen und verloren mit 0:1. Das “traumatische Erlebnis”, das Trainer Kasper Hjulmand hinterherin der Pressekonferenz beschrieb, hatte eindeutig nachgewirkt.
Hjulmand sieht einen positiven Aspekt
Vor ein paar Monaten reflektierte er noch einmal über die Erfahrung. Hjulmand sieht inzwischen sogar einen positiven Aspekt.
“Die Spieler haben ihren Freund geschützt. Sie haben seine Ehefrau Sabrina unterstützt. Sie waren einfach sehr, sehr edelmütig und haben an die ganze Gruppe gedacht. Das ist in unserem wettbewerbsorientierten Zeitalter Teil unserer Kultur. Das ist, wer wir sind. Sie sind große Vorbilder für die nächste Generation.”
Dänemark erreichte sogar das Halbfinale der EM.
Der Gladiatoren-Aspekt bekommt Risse
Etwas Positives demonstriert auch der jüngste Fall. Und das ausgerechnet in der Knochenmühle NFL, die ihre Profis derart verschleißt, dass sie im Schnitt nach drei Jahren als Sportinvaliden ausscheiden. Der alte Anspruch an die Aktiven, jede Form der Brutalität in Kauf zu nehmen und einfach wegzustecken, ist einem nuancierteren Blick gewichen. Shane Murphy:
"In der Vergangenheit hat dieser Gladiatoren-Aspekt und der harte Körpereinsatz sicher viele angezogen. Aber moderne Fans können nachvollziehen, was die Verletzungen, die sie sich dabei zuziehen, für die Spieler langfristig bedeuten. Wenn ich zum Beispiel heute eine schwere Kollision sehe, ist mein erster Gedanke: 'Oh, ich hoffe, der Junge ist okay.'"
Der gerade mal 24 Jahre alte Damar Hamlin ist noch nicht völlig okay, aber scheint fünf Tage später aus dem Gröbsten heraus. Er atmet wieder ohne Hilfe medizinischer Geräte, kann wieder sprechen und ließ sich am Freitag übers Internet zu einer Mannschaftsbesprechung dazuschalten. Dort bedankte er sich für die enorme Solidarität: "Jungs, ich liebe euch."
*Anmerkerung der Redaktion: In einer ersten Version hatten wir die falsche Position von Damar Hamlin genannt.