Die Stimmung hätte unterkühlter nicht sein können am 10. September 1952, als in Luxemburg Vertreter der Bundesrepublik Deutschland und Israels ihre Unterschriften unter das so genannte "Wiedergutmachungsabkommen" setzten: Keine Reden, kein Handschlag, kein Austausch von Vertraulichkeiten. Eine Choreografie der Distanz die schon bei den Verhandlungen im Vorfeld bestimmt worden war:
"So sollten die Delegationen den Raum nacheinander und in einem Abstand von fünf Minuten betreten, damit es nicht zu einer zufälligen Begegnung auf den Fluren käme. Auch der sonst übliche, Vertrauen einflößende Brauch, zur Begrüßung die entgegengestreckte rechte Hand zu ergreifen, galt als unangebracht und sei durch eine angedeutete stumme Verbeugung zu ersetzen. Außer durch verhaltene Körpersprache sollte die Choreografie der Distanz vor allem durch die Weigerung aufrechterhalten werden, Deutsch als Verkehrs- und Verhandlungssprache gelten zu lassen."
Deutsch verbannt als "Nazisprache"
Dabei hätte nichts näher gelegen, denn Deutsch war die Muttersprache aller Unterhändler und Delegierten. Doch wenige Jahre nach dem Holocaust gab es das Bedürfnis, alles Deutsche aus der jüdischen Kultur regelrecht zu exorzieren, wie es der Historiker Dan Diner schreibt: 1948 hatte der World Jewish Congress verfügt, dass jeder, der gedächte, nach Deutschland zurückzukehren, aus der weltweiten jüdischen Gemeinschaft ausgestoßen würde. Deutsch, immerhin die Sprache Theodor Herzls, wurde als "Nazisprache" aus dem öffentlichen Leben verbannt. Die Reisepässe der neuen israelischen Staatsbürger galten für alle Länder weltweit - außer für Deutschland.
"Alles, was nach der jüdischen Katastrophe und der auf sie folgenden Staatsgründung auf Deutsches verwies, galt als anstößig, verwerflich, gleichsam kontaminiert. Deutschland war ein gebanntes Land."
Und dieser Bann hatte eine Dimension, die weit über das Politische hinausgeht, so der Autor Dan Diner:
„Insofern war die Überschreitung dieser Grenze, nunmehr mit Deutschland, mit seinen Repräsentanten in Kontakt zu treten - hatte so etwas Liturgisches, etwas Rituelles, also etwas, was in der Tat ein Tabu bedeutet."
Doch so groß dieser Tabubruch auch sein mochte, der junge israelische Staat musste ganz reellen Problemen ins Auge blicken: Nach dem Unabhängigkeitskrieg war das Land in der Region isoliert, die Wirtschaft ächzte unter dem Zustrom der Einwanderer. Und um einen Staatsbankrott abzuwenden, war Präsident Ben Gurion für die pragmatische Lösung: die Annahme deutschen Geldes. Die Frage sorgte für tumultartige Auseinandersetzungen vor und in der Knesset.
Gegner warfen Deutschland Freikauf der Schuld vor
Menachem Begin, der spätere israelische Ministerpräsident, zählte zu den entschiedenen Gegnern dieser "shilumim", der Wiedergutmachungen, ebenso wie Golda Meir. Schier unerträglich erschien ihnen die Vorstellung, über den Wert des durch den Holocaust entstandenen Schadens feilschen zu müssen. Deutschland warfen sie vor, sich mittels "Blutgeld" von der Schuld freikaufen und zum Tagesgeschäft übergehen zu wollen:
„Das Abkommen werde eine nicht mehr aufzuhaltende Annäherung zur Folge haben. Auf die Lieferungen deutscher Maschinen würden deutsche Monteure folgen. Deutsche Schiffe würden unter deutscher Flagge die Häfen Israels anlaufen. Die dabei sich ergebenden Kontakte würden immer enger werden. Es werde schließlich unausweichlich sein, dass der Vergangenheit erwachsene Gefühl tiefster Bitterkeit in sich zu ersticken."
Diners Buch "Rituelle Distanz" geht über gängige Studien zu den deutsch-israelischen Beziehungen hinaus. Es untersucht die Dokumente von 1952, die Choreografie von politischen Zusammentreffen und den in Israel geführten Diskurs und dringt so zu den Tiefenschichten des jüdischen Selbstverständnisses vor. In denen ging es um Sprache und Distanz, das Erinnern und um traditionelle Konzepte von Bann, Rache und Sühne, die sich plötzlich einer Staatsraison unterordnen sollten.
Doch am Ende setzten sich die Pragmatiker durch. Und als Bundeskanzler Konrad Adenauer und Israels Außenminister Moshe Scharett ihre Unterschriften unter das Luxemburger Abkommen setzten, war dies auch ein Akt, der zu einer Verwandlung des jüdischen Selbstverständnisses beitrug, von einem in der Diaspora verstreuten Volk hin zu einem politischen Kollektiv:
"Mit dem Akt der Staatsgründung war es dem [...] politischen Gemeinwesen der Juden wie jeder anderen staatlich verfassten Nation auferlegt, den Imperativen von Gegenwart und Zukunft Vorrang vor den Einsprüchen der Vergangenheit einzuräumen. Abweichende Regungen konnten aus Gründen der Staatsraison nicht berücksichtigt werden."
"Durch alle ist die Wucht dieses Ereignisses hindurch gefahren"
Mit der Analyse dieses Zwiespaltes liefert der Historiker Dan Diner ein tieferes Verständnis für die deutsch-israelischen Beziehungen, deren Anfänge bereits im Jahr 1952 lagen, also keine sieben Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Ein Akt, viel bedeutsamer noch als die offizielle Aufnahme der diplomatischen Beziehungen 1965. Dazu Autor Dan Diner:
"Also die Erschütterung lässt sich in den Niederschriften der Beteiligten durchaus rekonstruieren. Durch alle ist die Wucht dieses Ereignisses hindurch gefahren, und ich glaube erst aus der Distanz der Jahrzehnte wird noch mal deutlich, um was sich da damals am 10. September 1952 gehandelt hat."
Dan Diner: Rituelle Distanz
Israels deutsche Frage. Deutschen Verlags Anstalt, 160 Seiten, 19,99 Euro
Israels deutsche Frage. Deutschen Verlags Anstalt, 160 Seiten, 19,99 Euro