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Daniel Cohn-Bendit
"In Deutschland bin ich bekannt, in Frankreich eine Ikone"

1945 als Kind deutsch-jüdischer Eltern in Frankreich geboren, wandelte Daniel Cohn-Bendit früh zwischen den Welten. Zu internationaler Bekanntheit verhalf ihm seine Rolle bei den Mai-Revolten in Paris 1968. In Deutschland stellte er seine Lust an der Provokation als Mitglied der Frankfurter Sponti-Szene und später als Mitglied der Grünen unter Beweis. Mit Äußerungen zur kindlichen Sexualität sorgte er für einen Skandal.

Daniel Cohn-Bendit im Gespräch mit Ursula Welter |
    Portrait des Grünenpolitikers Daniel Cohn-Bendit.
    Der Grünenpolitiker Daniel Cohn Bendit (imago stock&people)
    Ein junger Mann Anfang 20. Sommersprossen. Mit breitem, herausforderndem Grinsen schaut er auf zu einem behelmten Polizisten der nationalen Einheit CRS. Das Foto ging um die Welt. Aufgenommen wurde es 1968 während der Mai-Revolte in Paris. Der Student, das war Daniel Cohn-Bendit, Sohn deutsch-jüdischer Eltern, in Frankreich geboren. Während der Mai-Unruhen sprach die französische Regierung gegen ihn ein Aufenthaltsverbot aus. Er durfte zehn Jahre lang nicht in das Land seiner Geburt einreisen. 1968 prangte sein Konterfei deshalb auf Protestplakaten mit Parolen wie: "Wir sind alle unerwünscht!" und "Wir sind alle Juden und Deutsche!" Bis heute zählt Dany le Rouge zu den bekanntesten Gesichtern der 68er-Proteste in Frankreich. Die Lust an der Provokation hat Daniel Cohn-Bendit, Jahrgang 1945, aber auch in Deutschland unter Beweis gestellt: in den 1970er-Jahren als Mitglied der Frankfurter Sponti-Szene und Herausgeber des Stadtmagazins "Pflasterstrand", als frühes Mitglied der Partei Die Grünen und als ehrenamtlicher Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt.
    Vor allem außenpolitische Standpunkte wie seine Forderung nach einem militärischen Eingreifen des Westens im Bosnien-Krieg führten zu Konflikten mit Parteigenossen. Auch später, in 20 Jahren als prominenter und einflussreicher Grünen-Politiker im Europaparlament, eckte Cohn-Bendit an, etwa in Fragen der europäischen Konfliktprävention, des Libyen-Einsatzes oder des EU-Fiskalpakts. Cohn-Bendit war darüber hinaus Unterstützer der EU-Osterweiterung sowie der 2005 gescheiterten europäischen Verfassung. Für heftige Debatten sorgten in den 2000er-Jahren Äußerungen des Politikers zur kindlichen Sexualität, die aus den 60er- und 70er-Jahren stammten. Erhobene Missbrauchsvorwürfe ließen sich nicht erhärten. Für seine frühen Äußerungen hatte sich Cohn-Bendit erklärt und entschuldigt. Bei der Europawahl 2014 trat Daniel Cohn-Bendit nicht mehr an. Er widmet sich seither vor allem seiner publizistischen Tätigkeit.

    "67 war ich ein Typ, den ... Die Leute, die mich kannten, fanden mich toll, nett. Ich war nicht bekannt. Und wenn Sie mit 23 ... Mein Foto war auf dem Titelblatt aller Zeitungen, nicht nur in Frankreich, sondern in der Welt ... Dann passiert etwas mit Ihnen. Da passierte mit mir, dass plötzlich die Leute mich angesehen haben."
    Bastard im Scheinwerferlicht
    Ursula Welter: Wir werden gleich ja über Ihr Leben in Frankreich, in Deutschland sprechen, über Ihre doppelte Biografie, die in eine zusammenfließt. Würde man Sie in Frankreich genauso beschreiben wie hier? Ich habe manchmal das Gefühl, in Frankreich sind Sie ein Star.
    Cohn-Bendit: Ja, sagen wir es so: In Frankreich bin ich mehr eine Ikone als ein Star. Und das hat damit was zu tun, dass natürlich 68 doch die französische Gesellschaft anders geprägt hat noch als Deutschland und dann ich für Frankreich überraschenderweise, oder für die Franzosen eben, nicht nach 68 verschwunden bin. Dann geht es weiter und dann bin ich jetzt Mister Europa in Frankreich geworden. Und dieser Bogen überrascht die Leute, und jetzt habe ich noch dazu eine tägliche Radiosendung jeden Morgen mit über 1,3 Millionen Zuhörern. Das schafft alles also eine Fama, die in Frankreich größer ist. Wenn ich auf der Straße gehe und so weiter, reagieren die Leute viel mehr als in Deutschland. In Deutschland bin ich bekannt, in Frankreich bin ich eine Ikone.
    Welter: Wollen wir in Ihren Lebenslauf einsteigen, so ein paar Positionen abwandern! Sie sind 1945 in Montauban geboren, Sie haben sich in einem der vielen Interviews, habe ich nachlesen können, als Kind der Freiheit bezeichnet. Montauban, das ist in Quercy, Südwesten Frankreichs, schöne, aber einsame Gegend. Haben Sie noch einen Bezug zu dieser Ecke des Landes?
    Cohn-Bendit: Überhaupt nicht, ich bin mit drei Wochen aus Montauban weggegangen. Also, meine Eltern waren ja Flüchtlinge, sie mussten 33 aus Deutschland fliehen, weil mein Vater linker Anwalt war und er musste nach dem Reichstagsbrand fliehen. Dann waren sie in Paris, und dann, während des Krieges haben sie ein Kinderheim gehabt, geleitet, für jüdische Kinder, deren Eltern deportiert waren, zum Teil mussten sie sich dann, als die Deutschen den Süden auch besetzt haben, sich im Wald verstecken. Und ja, als sie hörten, dass die Alliierten in der Normandie gelandet waren, war das für sie ein Aufbruch zur Freiheit. Und dann haben sie die erste biologische Möglichkeit genutzt, um ein zweites Kind zu zeugen.
    Welter: Das sind dann Sie.
    Cohn-Bendit: Ja.
    "Ich war eine komplexe Mischung"
    Das Bild zeigt Ursula Welter im Zeitzeugen-Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit. Beide sitzen gemeinsam an einem Glastisch. 
    Ursula Welter im Zeitzeugen-Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit (DLF / Oliver Dannert)
    Welter: Wie haben Sie das empfunden? Waren Sie da in Ihrer Kindheit eher das Kind eines deutschen Vaters, eher das Kind jüdischer Flüchtlinge?
    Cohn-Bendit: Ja, ich war eine Mischung aus allem. Also, ich sage immer: Ich war von Anfang an ein Bastard und eine Mischung, eine gute Mischung. Und das ist so geblieben. Also, ich war ... deutsche Eltern, in Frankreich während des Krieges geboren, in Frankreich aufgewachsen, meine Mutter war Wirtschaftsleiterin eines jüdischen Gymnasiums, mein Vater ist 50 nach Deutschland wieder zurück. Also, ich war eine komplexe Mischung. Diese Mischung hat mich natürlich begleitet mein Leben lang.
    Welter: Und immer so zwischen den beiden Welten, in beiden Welten.
    Cohn-Bendit: Na ja, erst mal bis zum 13. Lebensjahr nur in Frankreich. Und dann ist meine Mutter, weil mein Vater krank wurde, nach Deutschland zurück und hat mich mitgenommen, weil, mein Bruder, der ja neun Jahre älter ist und 36 geboren ist, blieb in Frankreich, studieren. Und ich musste meiner Mutter folgen und bin dann nach Deutschland mit 13. Und seitdem ist mein Leben zwischen Frankreich und Deutschland.
    Welter: Also, Sie sind 1958 dann nach Frankfurt. Sie haben Ihre Eltern recht früh verloren, beide. Hat das geprägt in einer Form?
    Cohn-Bendit: Sicher, sicher. Mein Vater starb, als ich 14 war, und meine Mutter starb, als ich Ende 16, also 17 war. Und klar, wenn Sie mit 17 allein sind ... Also, allein war ich nicht, weil ich ja einen älteren Bruder hatte, der war dann sozusagen mein Ersatzvater oder mein Hauptbezugspunkt. Und klar, ich habe dann ... Viel schneller bin ich selbstständig geworden oder ich musste selbstständig werden.
    Welter: Als Sie 1958 nach Frankfurt kamen, da sprachen Sie noch kein Deutsch? Oder nur ein bisschen?
    Cohn-Bendit: Ich sprach nicht gut Deutsch, aber ich sprach Deutsch. Ich verstand Deutsch, aber nicht gut.
    Welter: Daheim haben Sie Französisch gesprochen?
    Cohn-Bendit: Daheim haben wir Französisch gesprochen, nur, in Frankreich lebte eine lange Zeit die Mutter meines Vaters und die konnte nur Deutsch. Und deswegen, mit ihr habe ich dann Deutsch gesprochen. Aber sonst habe ich nur Französisch gesprochen.
    "Ich wollte nicht in das Land der Nazis"
    Welter: Sie sind dann herangewachsen und haben sich entschieden für die Odenwaldschule. Warum?
    Cohn-Bendit: Meine Eltern haben sich entschieden für die Odenwaldschule. Na ja, ich wollte nicht nach Deutschland, mit 13. Ich wollte nicht in das Land der Nazis und es war eine schwierige Entscheidung, ich war auch unheimlich traurig. Ich kann mich noch genau erinnern, als wir nach Frankfurt gefahren sind, das waren so damals Liegewagen, ich habe die ganze Nacht geweint. Ich wollte da nicht hin. Und der Kompromiss war: Die Odenwaldschule war deswegen wichtig ... Ich weiß, wenn die Leute heute Odenwaldschule hören, dann flippen die schon alle aus, aber die Odenwaldschule war eine Schule, wo dort ein Lehrer war und seine Frau, Ernest Jouhy und seine Frau Lydia, die beide auch ein Kinderheim in Frankreich hatten während des Krieges, für Kinder, deren Eltern deportiert wurden. Und das war für mich ein Anker. In der Schule, wo das Ehepaar Jouhy war, dann musste der Umgang mit der Geschichte so sein, dass ich auch hin konnte. Und deswegen hat mein Vater mir das damals angeboten und gesagt, okay, du gehst in die Odenwaldschule und dann musst du dich nicht auseinandersetzen mit einem normalen – also, wir sprechen ja von 58 –, normalen deutschen Gymnasium.
    Welter: Das heißt, da ging es auch für Sie schon um ein Geschichtsbewusstsein, um ein Bewusstsein dessen, was passiert war, was Ihre Eltern geprägt hat, was ...
    Cohn-Bendit: Na ja, es ging um mein Fluchtbewusstsein. Also, wenn Sie 13 sind und die Geschichte Ihrer Eltern kennen, dann sind Sie von dieser Geschichte geprägt. Ich weiß noch, dass ich, als ich zum ersten Mal nach Deutschland kam, da war ich sieben oder acht, und mein Bruder ... Also, wo ich bewusst da rumgereist bin und wir sind durch die Stadt Frankfurt gelaufen und haben immer uns die Leute angeguckt: Nazi, nicht, zu jung, Nazi, nicht, zu jung. Also, das war schon für mich ein Problem.
    Welter: Und doch haben Sie sich dann drei Jahre später, mit 16, entschieden, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen.
    Cohn-Bendit: Na ja, das war ...
    Welter: Kopf- oder Bauchsache?
    Cohn-Bendit: Nee, also, ich habe sie ein bisschen früher, glaube ich. Mein Bruder und ich streiten jetzt darüber, wann es genau war. Das war ganz einfach: Mein Bruder ist Franzose, und der musste Militärdienst machen. Und Militärdienst damals in Frankreich dauerte zwei Jahre. Und ich wollte partout keinen Militärdienst machen. Und kurz bevor er starb, sagte mein Vater zu mir: Pass mal auf, wenn du Deutscher wirst, musst du keinen Militärdienst mit..., denn es gibt einen Erlass von Franz Josef Strauß, der sagt, Kinder von Migrant..., Kinder, deren Eltern verfolgt waren, müssen nicht, wenn sie nicht wollen, zur Bundeswehr. Sodass ich wahrscheinlich der einzige Deutsche auf dieser Welt bin, der Deutscher geworden ist und nicht den Militärdienst gemacht hat. Also, das war keine Bauchentscheidung, sondern eine Kopfentscheidung, die aber vom Bauch geleitet war. Ich wollte nicht zum Militärdienst.
    Welter: Nach dem Abi dann ... – das war 65, das Datum stimmt? -
    Cohn-Bendit: Das stimmt.
    "War der Lautsprecher des Beginns der Revolte der Studenten"
    Welter: ... sind Sie zurück nach Frankreich mit einem Wiedergutmachungsstipendium.
    Cohn-Bendit: Ja, das Stipendium hatte ich schon früher. Also, es ist so: Mein Vater ist zurück nach Deutschland und er war Anwalt in Frankfurt und auch Wiedergutmachungsanwalt. Und meine Mutter hat dann einen Antrag gestellt, aber Mitte der 50er-Jahre, und zwar auf Wiedergutmachung, weil sie ihr Studium nicht beenden konnte. Und dann hat mein Vater erstritten, dass, wenn meine Mutter weiterstudierte – sie hat auch Jura studiert, wollte sie Jugendrichterin werden –, das wurde anerkannt und da wurde sie im Nachhinein als Jugendrichterin eingestuft in Pension. Sodass sie eine Pension hatte als Jugendrichterin. Das war für meine Mutter sehr wichtig, weil, wir hatten schon ziemlich wenig Geld in Frankreich zum Teil zum Leben.
    Zum Beispiel hatten wir kein heißes Wasser. Und erst durch die Wiedergutmachung konnten wir das in unserer Wohnung installieren. Und dann aber war sie, wenn Sie wollen, Pensionärin im Ruhestand. Und da gibt es ein Gesetz: Die Kinder, Waisenkinder können Vollwaise ein Drittel der Rente ihrer Eltern, in dem Fall meiner Mutter, konnte ich erhalten. So hatte ich ziemlich jung viel Geld, 600, 700 D-Mark damals, was viel Geld war, zum Leben. Und dies galt bis zum 27. Lebensjahr, wenn ich studierte. Das heißt, die Bedingung war: Schule oder Studium, wenigstens eingeschrieben zu sein. So bin ich dann bis 27 Jahre, ob ich studiert habe oder nicht, bin ich immer an der Uni eingeschrieben gewesen.
    Welter: Und dann Nanterre, also Sorbonne, Soziologie, 1965.
    Cohn-Bendit: Für mich war das klar, ich wollte nach der Odenwaldschule nach Frankreich und dort studieren. Ich wollte sogar am Anfang Mathematik studieren. Habe ich 14 Tage ausgehalten und dann habe ich mich gleich in Soziologie umgeschrieben und eben nach Nanterre.
    Welter: Wahrscheinlich können Sie es gar nicht mehr hören und wir reden auch nachher über aktuellere Dinge, aber trotzdem gehört natürlich zu Ihrem Lebenslauf, dass Sie der Mann sind, der im Mai 68 – und damit auch dann den Titel "Dany le Rouge" bekommen hat – die Revolution vom Dach der Gare du Nord ausgerufen haben soll.
    Cohn-Bendit: Vom Dach der Gare du Nord nicht, aber es macht nichts. Es ist ungefähr, ich war auf dem Löwen von Place Denfert-Rocherau, ich war an verschiedenen Stellen. Ausgerufen habe ich nicht die Revolution. Die Revolte ist langsam in einen Generalstreik hineingeschlittert. Und ich war, sagen wir, der Lautsprecher des Beginns der Revolte der Studenten. Und ich bin eigentlich bekannt nicht für einen Ausruf, sondern für ein Foto. Ich meine, der ganze Mythos wird begleitet von einem berühmten Foto, wo ich einen CRS anlächele oder, sagen wir, herausfordere mit einem Lächeln. Und dieses Lachen ist zum Symbol wenigstens des Beginns und der Begründung der Revolte von 68 geworden. Und deswegen hat sich das so eingeprägt auch. Und dann war ich immer derjenige, der vieles ausgesprochen hat, was viele gedacht haben.
    Daniel Cohn-Bendit gibt eine Erklärung ab. Der Versuch des Studentenführer Daniel Cohn-Bendit, am 24.05.1968 trotz eines Einreiseverbots über den Grenzübergang "Goldene Bremm" bei Saarbrücken nach Frankreich zurückzukehren, ist gescheitert. Die französischen Behörden haben Cohn-Bendit nach tumultartigen Verhandlungen zurückgewiesen. | Verwendung weltweit
    Daniel Cohn-Bendit am 24.Mai 1968 am Grenzübergang "Goldene Bremm" bei Saarbrücken: Wegen eines Einreiseverbots kann er nicht nach Frankreich zurückkehren. (picture alliance / dpa / Roland Witschel)
    Die Ausweisung aus Frankreich als Rettung
    Welter: De Gaulle hat Ihnen Ihr Wirken in Frankreich und Ihre Kontakte dann auch zu deutschen Linken krummgenommen. Sie durften, nachdem Sie in Deutschland waren, nicht zurück nach Frankreich, Sie haben viele Jahre dann sozusagen als derjenige leben müssen, der des Landes verwiesen worden ist, zehn Jahre. Über die Rückkehr würde ich gleich gern sprechen, aber Sie haben in einer Biografie gesagt, dass Sie diese Ausweisung 68 durchaus auch als Ihre Rettung empfunden hätten. Inwiefern?
    Cohn-Bendit: Also, im Nachhinein ... Das ist jetzt im Nachhinein interpretiert. Ja, 68, so begeisternd es war, war ... Nach dem Sommer 68 war alles schwierig, weil viele, die mitgemacht haben, sagten: Jetzt muss es weitergehen! Und es ging nicht weiter. Es gab auch Leute, die dann im Jahre 69 und so weiter, bis zu Selbstmorde gegeben hat, aus Enttäuschung. Und gleichzeitig haben sich kleine, wie in Deutschland, kleine Gruppen gegründet, Parteien, trotzkistische, maoistische, alle wollten mich. Und ich, sagen wir ... Der Schluss von 68 war auch persönlich für mich sehr schwierig, weil, wissen Sie ... 67 war ich ein Jemand oder ein Typ, den ... Die Leute, die mich kannten, fanden mich toll, nett. Und ich habe unheimlich leichte Beziehungen zu Leuten ... Aber ich war nicht bekannt. Und wenn Sie mit 23 innerhalb von drei Wochen, sagen wir ... Mein Foto war auf dem Titelblatt aller Zeitungen, nicht nur in Frankreich, sondern in der Welt. Dann passiert etwas mit Ihnen. Dann passierte mit mir, dass ich plötzlich ... die Leute mich angesehen haben. Das hat Konsequenz bis hin zum Privatleben. Frauen schauen jemanden anders an, den sie nicht kennen, aber irgendwie dessen Bild sie gesehen haben. Also, es geht nicht nur darum, zu den Stars hin zu wollen, aber man guckt anders und entdeckt dann positive oder negative Sachen, die man sonst im Vorbeigehen gar nicht gesehen hätte oder gehört hätte.
    Welter: Hat Sie das irritiert oder ... Hat Ihnen das nicht gefallen?
    Cohn-Bendit: Ja, ich war, sagen wir ... Der Boden wurde mir ein bisschen unter den Füßen weggezogen, ich konnte meinen Platz nicht mehr einordnen, was ich bin ...
    Welter: Jenseits aller inhaltlichen Debatten.
    Cohn-Bendit: Jenseits aller inhaltlichen ... Das war eine persönliche Desorientierung. Und dann kam ich nach Deutschland und in Deutschland, mit dem vor allem politisch ... war das auch nicht einfach, aber die ganze, sagen wir, Wohngemeinschaftssituation und so weiter hat es mir ermöglicht, wieder Boden unter den Füßen zu kriegen, vor allem weil ich mich dann verliebt hatte. Und das hat natürlich die Sache vereinfacht.
    Welter: Hat Sie stabilisiert in einem gewissen Maße.
    Cohn-Bendit: Das hat mich emotional stabilisiert.
    Welter: Und nicht nach Frankreich zu dürfen, zehn Jahre lang?
    Cohn-Bendit: Ja, am Anfang habe ich das nicht ernst genommen, dann hat es mich getroffen und dann habe ich gesagt, na ja, irgendwann wird es aufhören. Aber dann habe ich ein neues Leben angefangen in Deutschland oder in Frankfurt. Und das heißt, ich habe nicht nostalgisch immer nach Frankreich geguckt, sondern ich habe das, was ich gemacht habe in Deutschland, war dann meine erste, zweite, erst mal dritte Identität. Ich habe noch ein paar dann draufgepackt im Laufe der Zeit, aber das war meine dritte Identität, die Nach-68-Identität und die politisch-soziale, emotionale, sagen wir, Entwicklung in Frankfurt.
    "Stellen Sie sich mal vor, meine Lebensvorstellung, meine politischen Vorstellungen hätten 68 aufgehört!"
    Welter: Und der Kontakt zu den 68ern in Frankreich?
    Cohn-Bendit: Ja, die kamen zu mir und wollten mit mir reden und so weiter. Aber ein paar Freunde sind geblieben, aber der Kontakt ist langsam, sagen wir, abgebrochen. Und dann muss man auch ... Ich weiß, die Frage wird oft gestellt. Aber wir sind nicht so Kriegsveteranen. Es ging immer, also ... Die dann, ja, aber doch, die Erinnerungen, ja ... Ich habe nicht nostalgisch nach hinten geguckt. Es war eine tolle Zeit, es war, sagen wir, eine Öffnung für mich. Aber da hat mein Leben nicht aufgehört. Es wäre ja auch schrecklich. Stellen Sie sich mal vor, meine Lebensvorstellung, meine politischen Vorstellungen hätten 68 aufgehört! Das wäre, wenn Sie ein junger Mann sind, das erste Mal haben Sie eine Liebesbeziehung oder eine sexuelle Beziehung und dann ist Schluss! Das ist ja grauenhaft!
    Welter: Nervt Sie das, dass Sie immer mit den 68ern in Verbindung gebracht werden?
    Cohn-Bendit: Nee, das nervt mich nicht, das ist so, das weiß ich. Aber ich sage nur: Ja, ist ja gut, aber ich lebe nicht rückwärtsgewandt.
    Welter: 78 zurück nach Frankreich. Was war der erste Ort, den Sie aufgesucht haben, wen haben Sie zuerst getroffen?
    Cohn-Bendit: 78, als ich zurückkam, bin ich mit meiner damaligen Freundin – es war dann nicht mehr die gleiche wie 68 – zu meinem Bruder in die Pyrenäen gefahren. Das war eine ganz aberwitzige Sache. Also, mein Einreiseverbot wurde aufgehoben, nach langem Hin und Her, es gab eine Riesenkampagne in Frankreich, wo von dem ehemaligen Polizeipräsidenten von Paris, von 68 ... Rechte Politiker, Intellektuelle, links, rechts, alle haben gefordert, dass es endlich aufgehoben wird, dieser Unsinn. Ist eine witzige Geschichte. Giscard d’Estaing hatte ... Damals war die Zeit der neuen Philosophen. Und Giscard d’Estaing organisierte so Mittagessen mit den Intellektuellen. Und er lud die neuen Philosophen ein und mein Freund, André Glucksmann, hat ihm dann öffentlich in "Le Monde" geschrieben: Solange mein Freund Dany nicht nach Frankreich zurückgeht, kann ich mit Ihnen nicht essen. Bernard-Henri Lévy ist aber hingegangen.
    Und als die Diskussion anfing, hat er gesagt: Bevor wir da über irgendetwas diskutieren: wann heben Sie das Einreiseverbot auf? – Darüber können wir nicht, oder später reden! – Nein, sofort! Und dann hat er gesagt: Das wird jetzt bald geregelt! Nach dem Essen ist der Bernard-Henri Lévy aus dem Elysée-Palast raus und hat gesagt: Der Präsident hat uns versprochen, dass vor – das war seine erste Erklärung – vor Ende des Jahres mein Einreiseverbot aufgehoben wird. Und der Innenminister war dagegen. Und dann hat er beschlossen, dass mein Einreiseverbot aufgehoben wurde zwischen Weihnachten und Neujahr. Mit der Begründung: Dann kann es keine Demonstrationen geben. Paranoia! Als ob zehn Jahre danach irgendwelche Großdemonstrationen stattgefunden hätten, wenn ich jetzt einfach in Paris aufgetaucht wäre!
    Welter: Dann sind Sie ganz still und leise in die Pyrenäen gefahren, es gab keine Aufstände.
    Cohn-Bendit: Es gab gar nichts. Ich musste nur eine Stunde an der Grenze warten, damals gab es noch keine elektronischen Kontrollen, und dann bin ich zu meinem Bruder gefahren.
    Welter: Und seither immer dort und hier.
    Cohn-Bendit: Seitdem immer dort und hier und so ist gut.
    "Man formuliert Ideale immer neu. Ich glaube, die Vorstellung, alte Ideale einfach wegschieben, ist falsch. Dahinter munkelt man immer so eine Art Verrat an den Idealen. Das ist nicht wahr."
    Sponti-Szene, Kommunalpolitik, wunde Punkte
    Welter: Frankfurt am Main – und hier sprechen wir in unserem "Zeitzeugen"-Gespräch, Daniel Cohn-Bendit, miteinander –, Frankfurt ist für Sie der politische Ort in Deutschland, Ihr Lebensmittelpunkt hier, das kann man sagen.
    Cohn-Bendit: Ja, es ist mein familiärer Lebensmittelpunkt und der politische deutsche Lebensmittelpunkt, so.
    Welter: 70er-Jahre, Frankfurter Sponti-Szene. Was hieß das für Sie, was war das?
    Cohn-Bendit: Na ja, die Sponti-Szene war ein Lebenszusammenhang, es war eine Parallelgesellschaft und es war ein politischer Zusammenhang, der sich radikal absetzen wollte von allen kommunistischen und postkommunistischen Gründungen, die es in den 70er-Jahren in Deutschland gegeben hat. Also, Sponti heißt eben nicht, der Idee einer Partei nachlaufen, sondern es war, wenn man will, der Versuch, Politik und Befreiung und ja, also, nicht zu warten, bis der Sozialismus irgendwann dann erreicht wird, dass man besser leben wollte, sondern das Leben im Hier und Jetzt auch zu verändern. Und das war für mich so die Sponti-Bewegung.
    Welter: Sie sind erst vier Jahre, nachdem die Grünen dann gegründet waren, in die Partei eingetreten, waren aber vorher für die grüne Landesliste angetreten, zu Landtagswahlen.
    Cohn-Bendit: Ja, ganz kurz, ja.
    Der ehemalige hessische Umweltminister Joschka Fischer (r) und der Herausgeber der alternativen Frankfurter Zeitschrift "Pflasterstrand", Daniel Cohn-Bendit, am 21.2.1987 bei der Landesdelegiertenversammlung der hessischen Grünen im Frankfurter Stadtteil Bergen-Enkheim. Fischer wurde auf Beschluß der Delegiertenversammlung auf Platz zwei der Liste für die bevorstehenden hessischen Landtagswahlen am 5. April gesetzt. Auf Platz eins wurde die frühere Landtagsabgeordnete Iris Blaul gewählt.
    Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer am 21.Februar 1987 bei der Landesdelegiertenversammlung der hessischen Grünen in Frankfurt. (picture alliance / dpa / Frank Kleefeldt)
    Welter: Meine Frage ist: Haben Sie gezögert, sich dann der Partei anzuschließen, war das vielleicht Scheu vor dem Apparat, Sie haben das gerade ja schon angedeutet, oder hat Joschka Fischer Sie nicht früher überreden können?
    Cohn-Bendit: Nein, es war andersherum. Also, es gab eine große Auseinandersetzung über die Grünen. Und ich habe die Position vertreten: Wir müssen uns den ... Also, die Spontis Frankfurt müssen sich den Grünen anschließen. Joschka Fischer war dagegen, hat radikal dagegen geschrien: Unsere Selbstständigkeit, unsere Autonomie erlaubt es nicht, in so eine Strategie hinein, die uns führen können in den Parlamenten. Es hat Monate gedauert, diese Auseinandersetzung, damals war Joschka Fischer Buchhändler. Und eines Tages – er hat in der Karl Marx gearbeitet, wo ich früher gearbeitet hatte – sagte er: Wir müssen uns mal treffen.
    Da gab es ein Treffen, er, meine zukünftige Frau und ich, wir saßen dann in der Nähe seiner Buchhandlung und er sagt: Dany, du hast recht, die Hinwendung zu den Grünen ist eine politische Notwendigkeit. Aber das bedeutet, dass wir auch dann richtig kandidieren sollten. Und einer von uns muss dann hinein. Also, mal von Hessen aus. Und dann hat er gesagt: Das Beste ist, du würdest das machen. Sagt er zu mir. Sage ich: Nee, Joschka, das ist nichts für mich. Diese Partei-Tortur, das ist nichts für mich, aber wenn du kandidieren willst – das war eigentlich, er wusste, dass es da so rauskommen würde –, dann natürlich werde ich dich unterstützen. Und so war es. Und so hat er entschieden, er hat kandidiert, und so wurde er dann in den Bundestag gewählt. Also, so rum war die Geschichte. Ich war skeptisch gegenüber den Parteien.
    Überideologisierung versus die reale Welt
    Welter: Darauf wollte ich hinaus. Also, zunächst haben Sie gezögert, aber dann irgendwann doch ...
    Cohn-Bendit: Ja, ich bin dann eingetreten, weil ich gesagt habe: Okay, die Auseinandersetzung gerade, Realo-Fundi, müssen wir innen bei den Grünen auch austragen, nicht nur von außen. Und deswegen bin ich beigetreten. Aber hatte da immer so eine Distanz.
    Welter: Und immer skeptisch gegenüber dem öko-sozialen Flügel?
    Cohn-Bendit: Ich wurde dann immer skeptischer gegenüber, sagen wir, die Überideologisierung. Das heißt, dass ... Mit dieser Überideologisierung war man nicht mehr in der Lage, sich mit der realen Welt auseinanderzusetzen, sondern man hat sich eine gebacken. Und da, das konnte ich nicht ertragen.
    Welter: Wie weit schleift denn der Politikbetrieb dann auch ab? Also, Ideale, die man mit hineinbringt in so einen Apparat? Sie haben ja auch als Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten dann in Frankfurt gewirkt, 89, sehr viel später, das heißt, Sie haben dann auch Funktionen übernommen nach und nach. Wie viel kann man rüberretten von, ich sage mal, APO-Idealen dann in so eine Welt?
    Cohn-Bendit: Man formuliert Ideale immer neu. Ich glaube, die Vorstellung, alte Ideale einfach wegschieben, ist falsch. Dahinter munkelt man immer so eine Art Verrat an den Idealen. Das ist nicht wahr, sondern es geht darum, dass man sieht, dass diese Ideale deswegen nicht zu realisieren sind, dass sie vielleicht falsch sind. Aber das bedeutet, dass man neue, anders formulierte, neu begründete Ideale formulieren muss. Und deswegen war es für mich wichtig, diese Auseinandersetzung weiterzutragen, aber nicht, weil meine Ideale jetzt irgendwie vergraben waren, sondern weil ich die Herausforderung neuer Ideale anders meistern wollte.
    Welter: Also, Dezernent und Sponti-Typ, das geht zusammen?
    Cohn-Bendit: Na ja, Dezernent und Sponti-Typ hat ergeben, dass ... Es war ja ein Riesen-Run, also, Rot-Grün wurde gerade gewählt in Frankfurt, und dann habe ich gesagt: Pass mal auf, ich mache das ganz einfach: Ich will dieses Amt, weil ich finde, es ist wichtig für Frankfurt, wir müssen die Einwanderung in den Griff kriegen, politisch begleiten, und deswegen schlage ich euch vor, ich mache das ehrenamtlich! Ihr könnt die hauptamtlichen Stellen alle haben, das interessiert mich nicht, ich mache das ehrenamtlich, und wie ich mein Leben verdiene, ist mein Problem. Das war die Sponti-Antwort auf Dezernent und Sponti.
    Welter: Und eine Arbeit, die Sie dann gemacht haben, von der Sie später gesagt haben, dass die bis heute wirkt. Also, für Interkulturelles zuständig gewesen zu sein, war damals so wichtig wie heute.
    Cohn-Bendit: Ja, nicht nur das, sondern mein größter Erfolg war also ... Wir haben dieses Amt gegründet. Skepsis gab es, Skepsis gab es bei der SPD, ich kann ... Noch heute sehe ich diese Verhandlung, also Koalitionsverhandlung. Und es ging darum, dieses Amt zu begründen, was die Grünen vorgeschlagen haben, dann haben wir verhandelt. Und dann war der erste Satz der Verhandlung, den wir schreiben wollten: Frankfurt ist eine Einwanderungsstadt. Da sagte die SPD: Das ist mit uns nicht zu machen. Da haben wir vier Stunden gestritten, um dann herauszukriegen, dass Frankfurt eine zunehmend multikulturelle Stadt ist. Dann wurde das Amt installiert und jedes Jahr hat die CDU bei den Haushaltsdebatten nur eins gefordert: ersatzlose Streichung des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten.
    Dann wurde Petra Roth, CDU, gewählt als Oberbürgermeisterin, gegen den SPD-Kandidaten, und dann sagte die CDU-Fraktion: Wunderbar, dieses Amt wird jetzt beiseitegeschoben! Und dann sagte Frau Roth, CDU: Aber nein, das ist ein wichtiges Amt für die Stadt Frankfurt und es bleibt! Und das war natürlich für mich einfach wunderbar!
    "Man kann Momente seiner Biografie nicht abschütteln"
    Welter: Zu den wunden Punkten in der Biografie müssen wir auch kommen. Die späten 60er-Jahre ...
    Cohn-Bendit: Müssen wir gar nicht.
    Welter: Na ja, ich glaube, es ist für Ihre und meine Glaubwürdigkeit gut, wenn wir es ansprechen. Die späten 60er-Jahre, die frühen 70er-Jahre in Frankreich, das ist Zeit, die Ihnen bis heute Ärger einbringt. Also Ihr Interview im "Apostrophes", die Äußerungen im "Großen Basar" zum Umgang mit Kindern, mit erotischen Spielen. Das ist ein Schatten auf Ihrer Biografie, den Sie offenbar nicht abschütteln können.
    Cohn-Bendit: Will ich auch gar nicht. Man kann Momente seiner Biografie nicht abschütteln. Man kann sie auch nicht verleugnen. Ich will nur immer sagen, weil, das ist ... Als das Buch erschien, "Der große Basar", hat es niemand aufgeregt, niemand. In Deutschland und in Frankreich. Und erst 20 Jahre später hat es Auseinandersetzungen provoziert, die ich verstehe. Nur, es war ja nicht ein Geheimtext, sondern es waren Bücher, die in Frankreich und Deutschland öffentlich waren, erschienen und besprochen wurden, so. Aber 20 Jahre später hat man, natürlich, war man sensibler – und da hat die Frauenbewegung eine große Rolle gespielt und auch Männer wie Günter Amendt und so weiter – Sensibilisierung gegenüber Pädophilie. Und dass das leichtfertige Reden und Schreiben oder das provozierende Reden über Kindersexualität gefährlich sei. Richtig! Dann wurde ... Das habe ich auch gesagt, dass diese Sätze so, wie sie sind, und diese Provokation heute inakzeptabel ist, und das tut mir leid. Das war in einer bestimmten Zeit.
    Aber dann fing was Neues an: Ist er pädophil oder nicht? Und da wurde die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", alle wurden ... Redakteure und "Ist er ...", und haben recherchiert und irgendwelche Archive gewälzt und, und, "War er ...", "Ist er ...", "Gibt es jemand von diesem Kindergarten, der irgendwann eine Klage ..."? Und dann kam ich und habe gesagt ... Kinder haben sich zu Wort – ich meine, die waren damals 40 jetzt mittlerweile –, sagt mal, seid ihr verrückt oder wie? Egal wie. Das war für mich das Schmerzhafte. Nicht, dass man mich kritisiert und aufgefordert, mich von dem, was ich geschrieben habe, zu distanzieren, das finde ich völlig in Ordnung. Aber dass man dann wirklich bis zum ... also, ich weiß, wie viel Monate danach, immer, immer gesucht haben den Beweis meiner Pädophilie. Und natürlich gab es den nicht! Und irgendwann haben alle auch beigegeben, haben gesagt: Okay, jetzt ist Schluss, wir haben es verstanden und es ist jetzt vorbei. Interessant war: Ich sollte die Rede halten in Frankfurt zum 3. Oktober, zur Paulskirche, da hat die CDU wieder mit dem Zeug angefangen, aber sogar die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat gesagt, jetzt ist aber gut!
    Demonstranten protestieren am 20.04.2013 auf dem Schlossplatz in Stuttgart (Baden-Württemberg) vor Beginn der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises an den Grünen-Europapolitiker und Publizisten Daniel Cohn-Bendit. Rund 70 Vertreter eines Opfer-Verbandes und die Junge Union haben am Samstag gegen die Preisverleihung an Cohn-Bendit protestiert. Foto: Marijan Murat/dpa | Verwendung weltweit
    Demonstration gegen die Verleihung des Theodor-Heuss-Preises an Cohn-Bendit im April 2013 in Stuttgart. Anstoß waren seine verharmlosenden Äußerungen zu Pädophilie. (picture alliance / dpa / Marijan Murat)
    Welter: Es gab die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, es gab die Odenwaldschule, es sind viele Dinge passiert, die natürlich auch die Öffentlichkeit in eine andere Wahrnehmung der Dinge gebracht haben.
    Cohn-Bendit: Ja, aber das ist das Problem. Das Problem, es gab Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, aber die katholische Kirche ... Die haben nicht darüber vorher geschrieben. Das heißt, ich wurde eingeholt von einem Text, den ich geschrieben hatte, wo ich was zur Diskussion gestellt habe, das unsinnig war. Aber daraus wollte man im Grunde genommen etwas beweisen, nämlich eine real existierende Pädophilie, was man nicht beweisen konnte. Die Öffentlichkeit braucht einfach manchmal Blut. Es ist so in der freien öffentlichen Medienwelt. Und wahrscheinlich sind wir alle Voyeure, irgendwo, irgendwie. Und das ist die Erklärung. Und natürlich gibt es eine andere: Ihn haben wir nie erwischen können! Kommunist? War er nicht. Für die RAF? Der hat den Kampf geführt. Er hat den Kampf für humanitäre Ein... Also, irgendwie schien es, ich wäre immer auf der richtigen Seite, und jetzt haben wir ihn! Jetzt können wir ihn packen! Und das war ... Ja, das war das Blutrünstige, was dahinter ... also, in Anführungsstrichen blutrünstig. Aber c’est la vie. Nicht jammern, weiter!
    "Wagen wir mehr Demokratie, wagen wir mehr Europa! Und nicht ängstlich zurück zum Nationalstaat!"
    Grüner Europäer mit robusten Ansichten.
    Welter: Reden wir über Ihre Zeit im Europaparlament!
    Cohn-Bendit: Ja.
    Welter: 20 Jahre. Wie macht einer Politik, der in zwei Welten lebt, deutsch-französisch? Also Europapolitik. Meine Frage ist: Ist es nicht vielleicht leichter, Europapolitik zu machen, wenn man auf festem nationalen Grund steht? Also, wenn man sich nicht mit interkulturellen Erkenntnissen herumschlagen muss? Also, wie haben Sie Europapolitik gemacht? Deutsch oder französisch?
    Cohn-Bendit: Weder noch. Europäisch. Also, ich glaube, Ihr Ansatz ist nicht richtig. Für mich war es immer die Frage: Was sind europäische Interessen? Was ist europäische Identität? Und nicht eine nationale? Und dann war es deswegen für mich leichter. Ich musste mich nicht auseinandersetzen mit der Frage: Was ist eine deutsche, eine französische Identität, sondern was sind die gemeinsamen Interessen und notwendigen Schritte für eine europäische Politik? Und deswegen war ich im Europaparlament dann ab einer bestimmten Zeit wie ein Fisch im Wasser.
    Welter: Haben Sie die schwere Krise, in der Europa steckt, kommen sehen? An welcher Stelle ist Europa falsch abgebogen?
    Cohn-Bendit: Das fing mit der Erweiterung an. Die Erweiterung war richtig. Aber ab dem Moment, wo wir dieser Erweiterung nicht in einen Unterbau geben, in einen Haushalt, wo man die Ungleichheiten, die es in Europa dann gibt, austarieren kann, dann kann es nicht funktionieren.
    Welter: Solange das im nationalen Gefüge ist, funktioniert das nicht?
    Cohn-Bendit: Ja. Das heißt, wir mussten einen Schritt mehr zu einer europäischen Souveränität, zum europäischen Haushalt, der in der Lage ist ... Also, der europäische Haushalt ist ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Europa. Der amerikanische Haushalt, der föderale Haushalt ist 27 Prozent des Bruttoinlandsprodukts! Wenn Sie sechs Prozent nehmen würden, dann könnten Sie die Griechenland-Krise, dann könnten Sie verschiedene soziale Krisen ganz anders austarieren. Und da ist das Problem. Um mit Willy Brandt zu reden: Wir haben nicht genügend Europa gewagt. Wagen wir mehr Demokratie, wagen wir mehr Europa! Und nicht ängstlich zurück zum Nationalstaat!
    Welter: Mehr Demokratie, was würde das heißen?
    Cohn-Bendit: Das würde heißen, dass wir vielleicht die Frage stellen, dass wir bei der Europawahl nicht nur national wählen, ein Teil der Abgeordneten national und ein kleiner Teil wäre auf europäische Listen, wo Sie dann direkt die Spitzenkandidaten für den Präsidenten der Europäischen Kommission ... Das würde bedeuten, dass wir eine Zweite Kammer haben, nämlich so wie einen Europäischen Bundesrat, und das Parlament, und dass damit die Zuständigkeit, was ist europäisch und was ist geteilte Souveränität, müsste so definiert werden, wie es zum Beispiel im Grundgesetz in Deutschland definiert ist.
    "Wir brauchen eine europäische Verteidigungsunion, eine europäische Armee"
    Daniel Cohn-Bendit während einer Plenarsitzung im Europaparlament am 9.Mai 2012 in Brüssel.  
    Daniel Cohn-Bendit 2012 in Brüssel. 1994 holte er bei der Europawahl 17,8 Prozent für die Grünen und zog damit in das Europäische Parlament ein. (EPA / JULIEN WARNAND)
    Welter: Nun gibt es einen Aspekt, der auch immer jetzt wieder genannt wird, immer häufiger, in Frankreich, aber auch in Deutschland, das ist der der europäischen Verteidigungsunion. Täuscht das oder kommt da Bewegung rein, ist das auch der Tatsache geschuldet, dass der amerikanische Präsident der NATO jetzt gewisse Fähigkeiten abschreibt und die Europäer in die Pflicht nehmen will? Was passiert da? Oder passiert da aus Ihrer Sicht nichts?
    Cohn-Bendit: Ja, es wird passieren, also ... Geburtsstunde der europäischen Verteidigungsunion, oder Väter, ist das Paar Trump/Putin. Sie müssen das einfach sehen: Es gibt in Europa heute über zwei Millionen Soldaten in Uniform, die nichts können. Die nichts machen können. Das heißt, wir brauchen eine europäische Armee. Wir brauchen eine europäische Verteidigungsunion, eine europäische Armee, das heißt, wir brauchen eine demokratische Kontrolle dieser Armee. Und wir brauchen 400.000 europäische Soldaten und nicht zwei Millionen, wo zwei Drittel das Gleiche machen, die gleichen Waffen kaufen und nicht gebrauchen können. Man kann über die Libyen-Intervention der Franzosen, Engländer streiten, aber eins ist ...
    Welter: Über die Folgen.
    Cohn-Bendit: Über die Folgen, ob es richtig war, kann man alles. Aber eins ist interessant: Nach einer Woche hatten sie keine Munition mehr. Sie mussten Papa fragen, ob sie Munition kriegen können, nämlich die Vereinigten Staaten. Wie auch immer, wie die Welt heute ist – und wir wissen, wie gefährlich die Welt ist –, braucht Europa eine europäische Sicherheitsordnung. Und zu dieser europäischen Sicherheitsordnung gehört eine europäische Armee.
    Welter: Was würde dann aus dem deutschen Parlamentsvorbehalt?
    Cohn-Bendit: Das ist die Frage, die man dann neu diskutieren muss. Man kann sagen, dass wahrscheinlich für eine Übergangszeit dieser Vorbehalt ... Das heißt, wenn, sagen wir, die Europäer beschließen, mit Beschluss des Europäischen Parlaments, könnten die Deutschen sagen, sie wollen da nicht mitmachen. Eine Übergangszeit. Es gibt viele komplizierte Fragen. Ich bin dafür, dass der französische Sitz im UNO-Sicherheitsrat zu einem europäischen Sitz wird. Das wäre ein entscheidender Schritt. Und dann würde sich aber bei einer Verteidigungsunion eine ganz schwierige Frage stellen: Sie kommen gleich mit dem Sicherheitsvorbehalt, was ist mit den französischen Atomwaffen?
    Welter: Das wäre meine nächste Frage gewesen.
    Cohn-Bendit: Ja, aber das wird in Zukunft zur zentralen Frage! Entweder beschließen die Europäer, dass man einen defensiven, aber Nuklearverteidigung oder -möglichkeit braucht, dann muss irgendwann die französische Atomverteidigung zu einer europäischen werden. Das ist so.
    Welter: Das sind Fragen von einer solchen Tragweite. Wenn wir uns die Wahlen um uns herum anschauen, welche Konstellationen könnten das begünstigen?
    Cohn-Bendit: Also, wenn in Frankreich Macron gewinnt, so ein Sozialliberaler, der auch einen ökologischen Anschlag hat – klar können die Grünen mehr! –, dann wird er auf Deutschland zugehen und dann wird er Deutschland positiv herausfordern.
    Welter: Wie erleben Sie Frankreich im Augenblick, nach den Attentaten, nach den Anschlägen?
    Cohn-Bendit: In Frankreich, einerseits ein Land, was sucht, wie kann man Sicherheit garantieren – leider kann man es nicht garantieren –, zweitens zu verstehen ... Das sind ja keine Marsmenschen, die die Anschläge gemacht haben, das sind Menschen, die in Frankreich aufgewachsen sind. Auch ein schweres Problem! Und drittens: Man muss sich mal vorstellen, es kann sein, dass sich im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl zwei Kandidaten gegenüberstehen – Marine Le Pen und Emmanuel Macron – und die beiden Parteien, die die französische Politik 50 Jahre geprägt haben, organisiert und dominiert haben, weg sind vom Fenster.
    Welter: Die Sozialisten und die Konservativen.
    Cohn-Bendit: Die Sozialisten und die Konservativen. Da sieht man: Es ist ein Erdbeben, was in Frankreich im Moment passiert, ein politisches Erdbeben! Und die Konsequenzen können sein, dass die Gesellschaft in die eine Richtung kippt oder in die andere Richtung.
    "Israel ist das Ende des Judentums"
    Welter: Halten Sie Frankreich für so destabilisiert, dass Le Pen eine Chance hat, Präsidentin zu werden?
    Cohn-Bendit: Nein. Nein, ich finde, die Vergleiche mit Brexit und Trump hinken. Also, in allen Umfragen vorher waren Hillary Clinton und Trump 58/42. Brexit war 52/48. Marine Le Pen wird ein starkes Ergebnis haben, viel zu stark, sagen wir, zwischen 23 und 27 Prozent im ersten Wahlgang. Sie verliert aber gegen jeden anderen Kandidaten, 65/35 Prozent im zweiten. Und da kann man sich nicht irren. Das heißt, das Problem ist nicht, dass Marine Le Pen jetzt gewinnen kann, sondern das Marine Le Pen und ihre Ansätze einen Teil der französischen politischen Klasse und Gesellschaft lähmt und in die falsche Richtung schiebt. Und dann braucht es einfach handelnde Politiker, die dagegen ein anderes Projekt, auch ein positives Projekt formulieren können.
    Welter: Zwei kleine oder drei kleine Fragen zum Abschluss, noch mal zu Ihrer Person: Wie weit ist Ihr Buch über den jüdischen Anteil Ihrer Identität?
    Cohn-Bendit: Es wird im Herbst 2018 fertig sein.
    Welter: Das Projekt: interessant?
    Cohn-Bendit: Sehr kompliziert. Sehr kompliziert, weil ich etwas formuliere, also ganz ... zu provokativ, aber trotzdem ... Für mich ist die jüdische Identität – für mich, ich sage nicht: für alle Juden! – eine Identität der Diaspora, eine kosmopolitische Identität. Und Israel ist das Ende des Judentums. Es sind Israelis mit der jüdischen Religion, aber es widerspricht diesem Diaspora-kosmopolitischen Ansatz. Und das will ich, sagen wir, zeigen. Schwierig.
    Welter: Ihr 70. Geburtstag liegt inzwischen hinter Ihnen. Viele ältere Menschen sagen, wenn sie in den Spiegel gucken, dass sie dann etwas sehen, was nicht ihrem Selbstbild entspricht. Wie ist das bei Ihnen? Wen sehen Sie vor Ihrem inneren Auge: Dany le Rouge, Dany le Vert oder den Daniel Cohn-Bendit von heute?
    Cohn-Bendit: Ich sehe 70 Jahre Leben. Also, ich lasse mich nicht reduzieren auf irgendeinen Moment meines Lebens. Und die Leute sagen: Weißt du, was uns an dir so gefällt – und so sehe ich mich –, manchmal ärgern wir uns unheimlich über das, was du sagst, aber mach weiter! Du provozierst uns, nachzudenken! Und so sehe ich mich jetzt und dann sage ich: Ist okay! Manchmal kann ich daneben liegen, manchmal ganz furchtbar sein, aber ... No risk, no fun!
    Welter: Daniel Cohn-Bendit, danke für das Gespräch!
    Cohn-Bendit: Bitte sehr! Danke sehr!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.