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Daniel Cohn-Bendit zu Wahlen in Frankreich
"Das ist eine furchtbare Entwicklung"

Der französische Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit macht die bürgerlichen Parteien für das Erstarken des rechtsextremen Front National bei den Regionalwahlen in Frankreich verantwortlich. Sie hätten nur auf die Themen des FN geschielt, statt eigene Schwerpunkte zu setzen, sagte der Grünen-Politiker im Deutschlandfunk.

Daniel Cohn-Bendit im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit.
    Der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit. (afp/Huguen)
    Sozialisten und Republikaner hätten versuchen müssen, gegen die Irrationalität der Rechten eine rationale Debatte aufzubauen. Doch das sei ihnen nicht gelungen, kritisierte Cohn-Bendit, der lange für die Grünen im Europaparlament saß. Stattdessen habe man nur nach den Themen der Rechtsextremen geschielt.
    Nun sollten die Parteien versuchen, vor der Stichwahl am kommenden Sonntag gezielt die Nichtwähler anzusprechen: "50 Prozent sind nicht zur Wahl gegangen. Das Ziel muss es sein, zehn Prozent davon auf die eigene Seite zu ziehen." Den Nichtwählern müsse man klarmachen, wie fatal das Programm der Rechtsradikalen für die Regionen und die Nation wäre.
    Ein Triumph der FN-Chefin bei den Präsidentschaftswahlen 2017 sei für ihn nicht mehr ausgeschlossen, meinte Cohn-Bendit: "Das ist eine furchtbare Entwicklung". Zudem seien die Parteien in Frankreich unfähig zum Kompromiss. Das Land werde aber ohne eine große Koalition die nötigen Reformen nicht anpacken können.


    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Die Meinungsforschungsinstitute, die hatten den Front National ja bereits im Vorfeld der Regionalwahlen als stärkste Kraft gesehen, und tatsächlich wurden die Rechtsextremen unter Marine Le Pen mit rund 28 Prozent stärkste Kraft. Viel hängt jetzt davon ab, ob es den anderen Parteien gelingt, sich gegen den Front National zusammenzuschließen. Das Ziel von Marine Le Pen aber ist ohnehin größer: Sie will im Jahr 2017 die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewinnen. - Am Telefon ist jetzt Daniel Cohn-Bendit, deutsch-französischer Publizist, langjähriger Politiker von Bündnis 90/Die Grünen und den französischen Grünen. Schönen guten Morgen, Herr Cohn-Bendit.
    Daniel Cohn-Bendit: Guten Morgen.
    Heckmann: Der Front National eilt von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Was machen die sogenannten etablierten Parteien, also die Sozialisten, die Konservativen und auch die Grünen, falsch?
    Cohn-Bendit: Nun ja, was heißt, was machen sie falsch? Sie versuchen oder können keine andere Antworten geben als die Vorschläge des Front National. Das würde ich sagen. Wir haben in Frankreich eine lange Krise, Arbeitslosigkeit steigt und steigt und steigt, die Wirtschaft stagniert, und dann gibt es natürlich eine Angst, eine Angst vor den Anschlägen. Und in dieser Situation driftet ein Teil der französischen Gesellschaft nach rechts, sucht nach Lösungen, die im Grunde sich zusammenfassen lassen wie Frankreich, nur Frankreich, allein Frankreich, nichts mehr als Frankreich. Und die Etablierten, vor allem die Konservativen und die Sozialisten versuchen, genau auf diesem Feld im Grunde genommen mit Marine Le Pen zu konkurrieren. Das geht aber nicht, weil sie das so nicht können. Dann wählen die verängstigten Wählerinnen und Wähler das Original, und das ist die extreme Rechte.
    "Wir haben den Überterrorismus"
    Heckmann: Der Publizist Bernd Ulrich, der hat gestern einen interessanten Gedanken getwittert, der in die gleiche Richtung geht: Wenn man eine Politik macht wie Le Pen, um Le Pen zu verhindern, was kriegt man dann? Genau: Le Pen. Dem stimmen Sie zu?
    Cohn-Bendit: Ja genau! Das ist ja im Grunde genommen gegen diese Stimmung in Frankreich. Das Frankreich-Bild von Le Pen setzt gegen die Konservativen ein Frankreich-Bild, setzt gegen die Sozialisten ein Frankreich-Bild, und damit werden keine Alternativen klar. Und noch dazu tragen die beiden Lager, die anderen Lager, Konservative und Die Linke, die Bürde des Scheiterns ihrer Regierungszeit.
    Heckmann: Der Terroranschlag von Paris ist erst wenige Wochen her. Sie haben es ja gerade selber auch erwähnt. Die ganze Wahl stand unter dem Zeichen des Ausnahmezustands. Welchen Einfluss hat der Terror auf die Entscheidung der Wähler gehabt aus Ihrer Sicht?
    Cohn-Bendit: Na ja. Wenn man sich im Grunde genommen die Untersuchung ansieht, einen großen Einfluss. Die Franzosen, diejenigen, die jetzt driften: An Nummer eins ist das Problem Arbeitslosigkeit und an Nummer zwei Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit. Und das ist das Problem! Das Problem ist: Wenn man eine Politik suggeriert, wir haben es im Griff, und sie haben es nicht im Griff, weil es zum Teil nicht möglich ist. Wir haben, wenn Sie wollen, den Überterrorismus. Heute kann jeder, der sich eine Kalaschnikow besorgt und dann etwas plant, und dann sagt er, ich bin der Islamische Staat, und das ist in der Tat nicht so einfach. Es ist nicht so einfach. Wenn man aber was anderes suggeriert, dann sagen die Menschen, ich habe Angst, ich habe Angst, und die Angst vor dem Islam ist riesig groß. Da auch haben die anderen versagt im Grunde genommen, mit den progressiven islamischen Kräften da etwas entgegenzusetzen.
    Heckmann: Was genau hätte man denn entgegensetzen sollen?
    Cohn-Bendit: Na ja, gut: Es ist die alte Leier. Die eine Leier ist natürlich die Zustände in den Banlieus. Das Zweite ist: Wie kann sich ein republikanischer Islam - ich weiß, es klingt wie ein Widerspruch -, wie kann er sich in Frankreich, wie kann er sich in Europa entwickeln und sich im Grunde genommen als Garant gegen den Fundamentalismus wehren. Dann kommen aber die Debatten: Warum sind wir Partner von Saudi-Arabien? Das spielt in Frankreich eine große Rolle. Hier auch wiederum sagen sich die Franzosen, wir machen halbe Sachen. Und der Islam, das ist irrational, und gegen diese Irrationalität haben es die Gemäßigten, ob Konservative oder Die Linke, nicht geschafft, ein Moment rationaler Debatte zu setzen.
    "Es gibt keine Flüchtlinge in Frankreich"
    Heckmann: Die Terroranschläge waren vielleicht das dominierende Thema, das Motiv dieser Wahlen. Die Flüchtlingskrise war ein anderes wichtiges Thema.
    Cohn-Bendit: Es gibt keine Flüchtlinge in Frankreich.
    Heckmann: Nicht wenige auch unter den Konservativen haben Richtung Berlin gesagt, Merkel, die Bundeskanzlerin, trage mit ihrer Flüchtlingspolitik Wähler in die Arme der Rechten. Ist da was dran?
    Cohn-Bendit: Was heißt ist da was dran? Das ist eine Fata Morgana. Es gibt keine Flüchtlinge in Frankreich. Wir haben ein Migrationsproblem, weil Integration durch Arbeit zum Teil gescheitert ist, aber sie haben keine Flüchtlinge, außer in Calais. In Calais haben sie ein Basislager, wenn Sie so wollen, von fünf bis 7000 Menschen, die nach England wollen, die England einfach im Grunde genommen nicht aufnehmen will. Das ist, wenn man so will, ein Symbol der Flüchtlinge. Aber die Schwierigkeit ist, dass man in Frankreich die Notwendigkeit, Flüchtlinge aufzunehmen, weil sie nun mal da sind, diese Debatte hat es in Frankreich nicht gegeben. Und man muss es sehen: In Europa gibt es nur Deutschland, die Schweden und die Österreicher, die real mit diesem Problem massenhaft konfrontiert sind.
    Heckmann: Und trotzdem ist der Front National ja aufgesprungen auf das Thema, hat das Thema für sich genutzt.
    Cohn-Bendit: Ja, aber der Front National springt auf Sachen auf, die es für Frankreich nicht gibt. Wenn man aber - das haben wir vorhin gesagt - wie der Front National argumentiert, zum Teil hat der Premierminister das gleiche gesagt: Es sind zu viele, Deutschland hat einen Fehler gemacht. Das war der sozialistische Premierminister. Dann hat man sich genau auf die Ebene vom Front National begeben und dann hat man verloren.
    Heckmann: Am Sonntag, Herr Cohn-Bendit, da steht der zweite Wahlgang an. Da kommt es darauf an, dass die sogenannten Etablierten zusammenarbeiten, wenn sie einen Durchmarsch des Front verhindern wollen. Nicolas Sarkozy von den Konservativen, der hat allerdings schon gesagt, wir werden unsere Wahllisten nicht zurückziehen. Was kommt da auf Frankreich zu?
    Cohn-Bendit: Na ja, im Grunde genommen werden die Sozialisten zwei Wahllisten im Norden zurückziehen und im Süden. Das wird nicht genügen. Ich glaube, dass der Front National zwei Regionen gewinnen wird. Ansonsten kann es gut sein, dass die anderen sich zusammenraffen, beziehungsweise es gibt eine Unbekannte, immer auf die Wählerinnen und Wähler des Front National zu schielen. 50 Prozent der Franzosen sind nicht zur Wahl gegangen. Wenn ich in Frankreich Politik machen würde, wer auch immer, würde ich sagen, mein Ziel muss sein, wenn ich zehn Prozent der Nichtwähler auf meine Seite gewinne, habe ich die Region gewonnen. Das muss das Ziel sein. Die Front National Wählerinnen und Wähler sind entschieden. Die wird man nicht mit einer Argumentation, die der von Front National ähnelt, zurückgewinnen. Aber 50 Prozent wollten nicht oder haben nicht Front National gewählt, die haben nicht sozialistisch gewählt, die haben nicht Grüne gewählt, die haben nicht Linke gewählt, die haben gar nicht gewählt, und die muss man mobilisieren. Die muss man holen, an die muss man sich wenden.
    Heckmann: Und zwar wie?
    "Die Franzosen sind unfähig zum Kompromiss"
    Cohn-Bendit: Indem man ihnen ein Projekt für die Region zeigt - es sind Regionalwahlen -, und zwar erklärt, wie man aus dieser Krise in Frankreich rauskommt, und indem man ihnen erklärt, wie fatal im Grunde genommen die Vorschläge des Front National für Frankreich oder für die Region sind.
    Heckmann: Und glauben Sie, dass die Menschen, dass die Franzosen noch empfänglich sind?
    Cohn-Bendit: Ich bin Atheist. Ich glaube nicht.
    Heckmann: Was meinen Sie? Sind die Franzosen noch empfänglich für solche Botschaften von den Personen, von den handelnden Politikern, von denen sie so enttäuscht sind?
    Cohn-Bendit: Aber Sie werden innerhalb von zwei Tagen keine anderen Politikerinnen und Politiker kriegen. Das heißt, die, die handeln, müssen handeln. Die müssen aber sich im Kopf frei machen von dem Schielen nach den Themen der Rechtsextremen, sondern sie sollen ihre eigenen Themen setzen. Zum Beispiel: In Frankreich findet die Klimakonferenz statt. Niemand redet in den Wahlen über das Klima, was das für Auswirkungen haben wird auch für Frankreich, obwohl Frankreich von solchen extremen Wetterbedingungen schon hart getroffen wurde. Das muss man jetzt versuchen. Ob es klappt oder nicht, weiß ich nicht. Das sind die Fehler, die man seit Monaten in Frankreich macht. Aber das muss die Richtlinie sein für den zweiten Wahlgang und dann Inch Allah wird man sehen, was rauskommt.
    Heckmann: Im Jahr 2017, da will Marine Le Pen antreten zur Präsidentschaftswahl. Sind aus Ihrer Sicht ihre Chancen jetzt gestiegen?
    Cohn-Bendit: Bis jetzt ist es völlig ausgeschlossen, dass Marine Le Pen die Wahlen gewinnt. Ich würde heute sagen, es ist nicht mehr ausgeschlossen, wenn auch unwahrscheinlich, dass sie die Wahlen gewinnt. Aber dass es nicht mehr ausgeschlossen ist, ist schon eine furchtbare Entwicklung, meines Erachtens, und da muss man sehen. Wissen Sie, wenn die Franzosen ein Verhältniswahlrecht hätten wie in Deutschland und nicht ein Mehrheitswahlrecht, wäre es überhaupt kein Problem. Dann müssten die in den meisten Regionen eine Große Koalition machen und dann wäre die Sache erledigt und die Regionen könnten nicht an die extreme Rechte fallen. Die Franzosen, die französischen Parteien sind unfähig zum Kompromiss und das macht die französische Politik so labil. Frankreich wird ohne eine Große Koalition - das sage ich, der sonst sehr kritisch gegenüber großen Koalitionen ist -, eine Koalition der gemäßigten Rechten mit den Sozialisten und den Grünen, wenn sie dabei sein wollen, wird die Probleme und die Reformen nicht anpacken können, die Frankreich hat.
    Heckmann: Der Front National wird stärkste Kraft bei den Regionalwahlen in Frankreich. Wir haben darüber gesprochen mit dem deutsch-französischen Publizisten und Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit. Herr Cohn-Bendit, danke Ihnen für das Interview.
    Cohn-Bendit: Bitte sehr!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.