Ist es wirklich Tyll? Oder ein Tyll-Wiedergänger? Auf der dritten Seite wird die Hauptfigur eingeführt, und dabei fällt auf, wie geschickt Daniel Kehlmann diesen Tyll hervorgehen lässt aus Mythos und Literatur, Flugschrift und Hörensagen. Es ist ein ominöses "Wir", dass dieses Roman-Intro erzählt, ein Wir, das für eine abgelegene, bisher verschonte Dorfgemeinschaft am Ende des Dreißigjährigen Krieges steht.
"Auf dem Kutschbock aber saß ein Mann, den wir erkannten, obgleich er noch nie hier gewesen war, und als die ersten sich erinnerten und seinen Namen riefen, erinnerten sich auch andere, und so rief es bald von überall und mit vielen Stimmen: "Tyll ist hier!", "Tyll ist gekommen!" Es konnte kein anderer sein.
Sogar zu uns kamen Flugschriften. Sie kamen durch den Wald, der Wind trug sie mit sich, Händler brachten sie… Sie handelten vom Schiff der Narren und von der großen Pfaffentorheit und vom bösen Papst in Rom und vom teuflischen Martinus Luther zu Wittenberg und eben von ihm, Tyll Ulenspiegel, der jetzt selbst zu uns gekommen war."
Tyll - ein Provokateur und Schadenstifter
Nicht: Er war es! Sondern: "Wir kannten sein geschecktes Wams, wir kannten die zerbeulte Kapuze" und das "hagere Gesicht". Nicht ein Sein, sondern ein Wirken wird hier geltend gemacht. "Tyll ist gekommen!" rufen die Leute - aber nicht der Erzähler, der nur wiedergibt, was sie sehen oder sehen wollen. Die Idee, den berühmtesten deutschen Narren um drei Jahrhunderte aus dem Mittelalter in die närrisch gewordene Epoche des Dreißigjährigen Krieges zu versetzen, wird im Roman subtil eingefädelt.
Tyll inszeniert sogleich eine der bekanntesten Eulenspiegeleien, als gälte es, die Identität ein für alle Mal zu beglaubigen. Später wird Daniel Kehlmann die Figur sehr eigenständig entwickeln, auch wenn er eine Reihe von Motiven aus dem Volksbuch von 1510 und aus Charles de Costers Ulenspiegel-Roman aus dem Jahr 1867 übernimmt. Zu Beginn aber eine klassische Szene: Tyll tanzt auf dem Seil, spottet herab von dieser abgehobenen Position, fordert seine Zuschauer auf, ihren rechten Schuh wegzuwerfen und amüsiert sich hämisch, wenn das Wiederfinden der Schuhe in Zank und Prügelei ausartet. Kein Menschenfreund, dieser Tyll, sondern ein Narr, der die Leute zum Narren hält, ein Provokateur, ein Schadenstifter. Und bald sucht der Krieg auch dieses Dorf heim. Kaum einer wird verschont.
Kehlmann hält sich bei der Darstellung des Dreißigjährigen Krieges weitgehend an die historische Überlieferung, erlaubt sich aber auch schriftstellerische Freiheiten. Das beginnt schon bei der alten Frage, warum die katholischen Statthalter den Prager Fenstersturz aus 17 Meter Höhe fast unbeschadet überlebten. Sie rutschten eher die schräge Mauer herunter als dass sie fielen, lautet eine Erklärung der Historiker, sie landeten womöglich weich in einem Misthaufen eine andere. Die katholische Seite schmückte die wunderbare Rettung als göttlichen Eingriff aus. Kehlmann hat eine neue Theorie.
"Nur waren sie in einen Haufen Scheiße gefallen und hatten überlebt. Unter Schlossfenstern gab es immer viel Scheiße, das lag an all den Nachttöpfen, die täglich geleert wurden. Das Dumme war bloß, dass daraufhin im ganzen Land die Jesuiten predigten, ein Engel habe die Statthalter aufgefangen und sanft zu Boden gesetzt."
Der große Krieg beginnt lächerlich
Aus der Misthaufenlegende wird, in unappetitlicher Zuspitzung, die Nachttopflegende. Lächerlicher kann ein großer Krieg eigentlich nicht beginnen.
Zeitgemäß und modern erscheint dieser historische Roman, indem er nicht einen der Hauptakteure des Krieges in den Mittelpunkt stellt, wie es Schiller und Alfred Döblin mit Wallenstein getan haben - sondern den Narren, eine randständige Figur. Tyll entkommt zwar der Armut seiner dörflichen Herkunftswelt; nach harten Jahren des Umherziehens mit seiner Gefährtin Nele, in denen er seine Künste erlernt, wird er zur lebenden Legende. Aber er bleibt doch ein Outcast, von einer traumatischen Wunde gezeichnet und als Angehöriger des "fahrenden Volkes" buchstäblich ortlos und vogelfrei. "Berühmt bin ich schon, aber angesehen war ich mein Lebtag nicht", sagt er an einer Stelle.
Wie Kehlmanns Romane "Ruhm" und "F" besteht "Tyll" aus miteinander verwobenen Geschichten und Tableaus, die nicht in chronologischer Reihenfolge angeordnet sind. Die Hauptfigur ist das verbindende Element, auch wenn in mehreren Kapiteln anderen Figuren das Hauptinteresse gilt. Bei dieser Form des lockeren Erzählreigens fühlt sich Daniel Kehlmann offenbar besonders wohl - sie kommt seiner Artistik entgegen. Anspielungen und Bezüge richten sich bei dieser Form ja nicht oder nicht nur auf Werke eines literarischen Kanons, der bei den Lesern womöglich immer weniger vorauszusetzten ist; vielmehr können sie eine starke Binnenwirksamkeit entfalten, indem Echos und Verweise zwischen den einzelnen Geschichten oder Kapiteln hin und her gehen.
Abgebrannte Dörfer, entvölkerte Landstriche
Mit direkten Schilderungen des Krieges, der Deutschland gründlich verheerte und die Menschen durch marodierende Söldnertruppen das Grauen lehrte, hält sich der Autor vergleichsweise zurück. Einige wenige, allerdings sehr markante Szenen reichen, um klarzumachen, dass Krieg Körperarbeit ist, genauer: Körperzerstörungsarbeit. Zugeordnet ist die Kriegsdarstellung einer Schriftstellerfigur: Martin von Wolkenstein, genannt der "dicke Graf". Beim Schreiben seiner Memoiren zu Beginn des 18. Jahrhunderts erinnert er sich daran, wie er mehr als fünfzig Jahre zuvor den berühmten Tyll Ulenspiegel in seinem Refugium, einem Kloster, aufsuchte, um ihn zum Kaiser zu bringen. Eine Reise, die durch entvölkerte Landstriche führte, vorbei an verschwundenen Wäldern und abgebrannten Dörfern und Leichenhaufen am Wegesrand. Bei Zusmarshausen geraten Tyll und Wolkenstein an den Rand der Kampfzone und unter Beschuss.
"Während er noch seine Augen anstrengte, um zu begreifen, was er sah, hörte er ein Geräusch, wie er es noch nie vernommen hatte, ein Schreien aus der Luft. Franz Kärrnbauer warf sich vom Pferd, überrascht schaute der dicke Graf zu, wie er durchs Gras rollte, und fragte sich, ob er nicht das Gleiche tun sollte, aber das Pferd war hoch und der Boden voll harter Steine. Da kam Karl von Doder ihm zuvor. Er sprang aber nicht in eine Richtung, sondern in zwei, so als hätte er sich nicht entscheiden können und von zwei Möglichkeiten beide ergriffen.
Zunächst dachte der dicke Graf, dass er wohl träumen müsse, doch dann sah er, dass Karl von Doder tatsächlich an zwei Orten lag: der eine Teil rechts, der andere links vom Pferd, und der auf der rechten bewegte sich noch. Den dicken Grafen erfasste ein Abscheu von ungeheurem Ausmaß."
Martin von Wolkenstein steht in einer Reihe früherer Figuren, mit denen Kehlmann eines seiner Lieblingsmotive in Szene setzt: das des unzuverlässigen Erzählers. Es ist einer unter vielen bemerkenswerten Kunstgriffen des Romans; ein anderer die Wahl jener Gestalten, die die Klasse der Herrschenden repräsentieren - und in diesem Fall doch selbst zu den Deklassierten gehören. Es sind der Pfalzgraf Friedrich V. und seine englische Frau Elisabeth Stuart. Friedrich strebte die Führung der protestantischen Union an; er gedachte die "teutsche Libertät" gegenüber der habsburgischen Kaisermacht zu verteidigen. 1619 ließ er sich in Prag zum König von Böhmen krönen, was die katholische Seite als Provokation empfand, denn eigentlich war Kaiser Ferdinand der reguläre Nachfolger auf dem böhmischen Thron. In der "Schlacht am Weißen Berg" erlitten Friedrichs Truppen eine vernichtende Niederlage; Böhmen geriet für drei Jahrhunderte unter habsburgische Herrschaft. Friedrich und Elisabeth, Tochter des englischen Königs Jakob I., blieb nur die hastige Flucht. Die folgenden Jahre verbrachten sie an wechselnden Orten des Exils.
Tragik und Farce
Unter dem Namen "Winterkönig" - König für nur einen Winter - wurde Friedrich zu einer legendären Spottgestalt des Dreißigjährigen Krieges. Diese Stellung zwischen Tragik und Farce - als ein Hauptverantwortlicher für den Krieg einerseits, als König ohne Land andererseits - ist eine ideale Vorlage für Kehlmanns Zugriff des historischen Erzählens. Sein Winterkönig ist eine gedemütigte, gequälte, aber doch auch große Gestalt, und das gilt noch mehr für Elisabeth in ihrer Wehmut und Melancholie. Tapfer sucht sie Form und Würde zu wahren. Erniedrigung lauert für eine Königin im Exil allerorten, etwa wenn sie sich beim kaiserlichen Botschafter anlässlich der Friedensverhandlungen von Osnabrück unbedacht auf das falsche Möbel setzt.
"Ihr wurde eiskalt. Wie hatte sie nur so einen Fehler machen können? Es musste daran liegen, dass sie seit Jahren aus der Übung war… Ein Stuhl ohne Lehne, das hätte ihr auf keinen Fall passieren dürfen. Als Königin hatte sie selbst in Gegenwart des Kaisers Anrecht, auf einem Stuhl mit Rücken- und Armlehnen zu sitzen, schon ein Fauteuil wäre eine Erniedrigung, aber ein Schemel war unmöglich. Und mit Bedacht hatte er überall im Besuchszimmer Schemel aufgestellt ...
Was sollte sie machen? Sie lächelte und beschloss, so zu tun, als spiele es keine Rolle. Aber er war nun im Vorteil: Er brauchte nur die Leute aus dem Vorzimmer hereinzurufen, und die Kunde davon, dass sie vor ihm auf dem Schemel gesessen hatte, würde wie ein Lauffeuer durch Europa gehen. Selbst daheim in England würde man lachen."
Hier ist die Einfühlung subtil. Der Schwede Gustaf Adolf dagegen, einer der wichtigsten und erfolgreichsten Akteure des Krieges, womöglich der Retter des Protestantismus in Deutschland, der 1632 einen grausamen Tod in der Schlacht von Lützen starb - dieser König also ist bei Kehlmann nur die derbe Karikatur eines Mächtigen: ein durch seine Siege selbstgefällig gewordener, in jeder Hinsicht indezenter Kerl auf dem Thron. Der großen Szene, in der sich der Winterkönig und Gustav Adolf treffen, geht eine Reise ins Innere des infernalischen Gestanks voraus, der das protestantische Hunderttausend-Mann-Heerlager schon von weitem ankündigt. Krieg tötet nicht nur, er riecht auch fürchterlich.
Eine magische Welt
Zum Krieg kommt der Klimawandel. Die Menschen zittern nicht bloß aus Furcht; es ist unbegreiflich kalt und nass, die Ernten sind miserabel, der Hunger groß. Die Kleine Eiszeit fiel in den Jahren bis 1630 besonders eisig aus. In der voraufgeklärten Welt wurde das oft als göttliche Strafe für menschliche Verfehlungen begriffen. Oder als Machenschaft des Teufels, dessen Erfüllungsgehilfen es unschädlich zu machen galt. Auch Tylls Vater wird als Hexer angeklagt, im grandiosen zweiten Kapitel über Tylls enge dörfliche Kindheitswelt. Kehlmann bezieht dieses Motiv aus Charles de Costers "Ulenspiegel"-Roman; anders als dort ist es aber Tyll selbst, der die Verfolger auf die Spur des Vaters bringt, plaudert er doch allzu freimütig von dessen spekulativen Studien und Grübeleien über Magie und die ungelösten Welträtsel.
Heute haben wir ein klares Urteil über die Hexenverfolgungen. Mit solch kritischer Distanz aber lässt sich kein historischer Roman erzählen. Kehlmann nimmt die Hexenrichter ernst - und gerade das ist erhellend und witzig. Denn man kann sicher sein, auch diese Männer meinten bloß, eine unangenehme Pflicht zu erfüllen, und sie haben sich die Sache so zurechtgelegt, dass ihr Gewissen gut damit leben konnte. Etwa: Wie gerecht ist das Verfahren doch darin, dass niemand ohne Geständnis verurteilt werden darf! Zum Geständnis aber führt die "strenge Befragung", ein schönerer Ausdruck für die Folter, der auch Claus Ulenspiegel unterzogen wird. Einem zufällig anwesenden Wissenschaftler, der gegen diese Art des Schauprozesses argumentiert, bekommt sein Widerspruch schlecht.
"Außerdem ist es zu spät für eine Verteidigung", sagte Doktor Tesimond. "Der Prozess ist vorbei. Nur das Urteil fehlt noch. Der Angeklagte hat gestanden."
"Aber offensichtlich unter Folter?"
"Ja natürlich", ruft Doktor Tesimond. "Warum hätte er sonst gestehen sollen? Ohne Folter würde doch nie jemand etwas gestehen!"
"Während unter Folter jeder gesteht."
"Gott sei Dank, ja!"
"Auch ein Unschuldiger."
"Aber er ist nicht unschuldig. Wir haben die Aussagen der anderen."
"Die Aussagen der anderen, die der Folter verfallen wären, wenn sie nicht ausgesagt hätten?"
"Aber offensichtlich unter Folter?"
"Ja natürlich", ruft Doktor Tesimond. "Warum hätte er sonst gestehen sollen? Ohne Folter würde doch nie jemand etwas gestehen!"
"Während unter Folter jeder gesteht."
"Gott sei Dank, ja!"
"Auch ein Unschuldiger."
"Aber er ist nicht unschuldig. Wir haben die Aussagen der anderen."
"Die Aussagen der anderen, die der Folter verfallen wären, wenn sie nicht ausgesagt hätten?"
Doktor Tesimond schweigt einen Moment. "Natürlich muss jemand, der sich weigert, gegen einen Hexer auszusagen, selbst untersucht und angeklagt werden. Wo kommt man hin, wenn man das anders hält?"
Berühmt wurde Daniel Kehlmann durch einen historischen Roman, der den Respekt vor den Größen der Geistesgeschichte mit karikierender Wissenschaftssatire unterminiert - Alexander von Humboldt in der "Vermessung der Welt" ist konzipiert als Mischung aus Don Quijote und Hindenburg. Auch in "Tyll" frönt Kehlmann seiner Neigung zur komödienhaften Wissenschaftsdarstellung: im maliziösen Porträt von Athanasius Kircher, einem der berühmtesten Wissenschaftler des siebzehnten Jahrhunderts, der zahllose Bücher zu zahllosen Themen verfasste. Er erforschte die Pest, entwickelte Musiktheorien, meinte als erster die ägyptischen Hieroglyphen entschlüsselt zu haben, stieg in den Vesuv und war gewissermaßen die wissenschaftliche Feuerwehr der päpstlichen Gegenreformation. Im Roman tritt Kircher zweimal auf; einmal in späteren Jahren, als prominenter Universalgelehrter, der sich vor allem auf Wissenschaftsmarketing versteht und eine ganze Armada von Sekretären beschäftigt, die jedes seiner Worte mitschreiben und unermüdlich in seinem Namen Manuskripte verfertigen. Zunächst aber hat der junge Kircher seinen Auftritt beim Hexerei-Prozess gegen Claus Ulenspiegel. Mit seinem Mentor, dem Jesuiten Oswald Tesimond, reist er durch die Lande, nimmt teil an wissenschaftlich-theologischen Debatten und bringt nebenbei die Satansbündler zur Strecke. Besonders hingebungsvoll widmen sich Kircher und Tesimond der Drakontologie, der Drachenforschung und ihren raffinierten Schlussfolgerungen.
Ja, die Drachen seien unvorstellbar scheu und zu verblüffenden Kunststücken der Tarnung fähig. Man könne hundert Jahre suchen und doch nie in die Nähe eines Drachen kommen. Ebenso könne man hundert Jahre in unmittelbarer Nähe eines Drachen verbringen und ihn nie bemerken. (…) Ein Drache, den man gesichtet hat, wäre ein Drache, der über die wichtigste Dracheneigenschaft nicht verfügt - jene nämlich, sich unauffindbar zu machen.
Stil ohne historische Schnörkel
Wissenschaft und Aberglaube, Materialismus und Magie - alles geht im wilden Denken selbst der klügsten Zeitgenossen durcheinander, und es ist eine der großen Leistungen dieses Romans, einen solchen hybriden Geisteszustand zu vermitteln. Allzu erhaben darüber sollten wir uns aber nicht fühlen - die Zukunft wird zeigen, welche unserer akademischen Diskurse von kommenden Generationen als eine Art Drakontologie belächelt werden. Gelegentlich unterläuft im Übrigen auch einem Daniel Kehlmann ein kleiner wissenschaftlicher Fehler, etwa wenn er vom Erdschatten auf dem Mond schreibt. Der Mond braucht für seine Verdunkelungen und Änderungen der Erscheinungsform keinen Erdschatten.
Durch Grimmelshausens "Simplizissimus", dem Kehlmann ebenfalls einige Motive entnimmt, ist die Epoche des Dreißigjährigen Krieges eng verbunden mit der Form des Schelmenromans. Anspruchsvollere historische Romane, die sich dem siebzehnten Jahrhundert widmen, beglaubigen sich deshalb gern mit pikaresken Elementen und Imitationen eines vollsaftigen Barockdeutschs. Günter Grass hat da eine Weile stilbildend gewirkt. Umso mehr fällt auf, dass Kehlmann sich auf ein solches Sprachspiel nicht einlässt; das Pikareske als Manier, über das Menschenelend und die heillosen Exzesse der Gewalt hinwegzuscherzen, interessiert ihn nicht. Allenfalls in den Dialogen gibt kleine historisierende Tupfer. Ansonsten aber schreibt Kehlmann seinen Kehlmann-Stil: unprätentiös und prägnant; in seiner Schlackenlosigkeit gewissermaßen über den Zeiten stehend und deshalb für alle Menschheitslagen tauglich.
"Ruhm" und "F", seine beiden letzten Romane, überzeugten durch ihre formale Brillanz, aber der junge Könner wirkte in ihnen immer noch wie ein beflissener Einser-Abiturient vom Nabokov-Gymnasium. Mit "Tyll" nun erreicht er eine neue, souveräne Meisterschaft, erweist sich nicht nur als trickreicher Konstrukteur, sondern auch als Virtuose der Einfühlung, der selbst einer Gestalt wie dem Henker, der Tylls Vater tötet, nahekommt - Meister Tilman heißt er so redlich wie möglich und ist ein Mann, der einem gerade in seiner Ruhe und Gutmütigkeit Angst machen kann.
Historische Romane werden gelegentlich wegen ihres vermeintlichen Eskapismus kritisiert, ebenso oft aber als vermittelte oder parabelhafte Auseinandersetzung mit der Gegenwart gerühmt. Ein Roman, der in eine Zeit zurückgeht, in der sich die Fraktionen des Christentums unerbittlich bekämpften, wirft zweifellos Schlaglichter auf unsere von neuen Religionskriegen heimgesuchte Gegenwart. Tyll ist eine Figur, die vom religiösen Furor selbst nicht affiziert ist. Als Spieler, Spötter und Virtuose ist er auch eine Spiegel-Figur für den Schriftsteller Kehlmann, der den Roman einmal als Medium der Ironie definiert hat, in dem jede Meinung relativiert werde durch eine andere; der Romancier halte es mit keiner Seite ganz und sei deshalb qua Profession Anti-Fanatiker. In "Tyll" wird das konsequent umgesetzt. Bei aller Ironie aber bleibt Kehlmann ein Verfechter der Aufklärung. Religion, die Krieg führt oder den Mächtigen die Vorwände dazu liefert, hat das Recht auf pietätvolle Schonung verwirkt. "Über Glauben muss gelacht werden können", hat Kehlmann in einem Essay geschrieben. Und sei es das Lachen schwarzer Komik wie in "Tyll". Komik und Einfühlung - eigentlich Gegensätze - verbinden sich in diesem Roman zur Stärke eines großen Werks.
Daniel Kehlmann: "Tyll"
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017, 480 Seiten, 22,95 Euro
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017, 480 Seiten, 22,95 Euro