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Daniel Kehlmann über "Tyll"
Der Anarchist mit der Schellenkappe

In "Tyll" versetzt Daniel Kehlmann den berühmtesten Schelm des Spätmittelalters, Till Eulenspiegel, aus dem 14. Jahrhundert in die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs. Fünf Jahre hat Daniel Kehlmann an seinem neuen Roman gearbeitet. Fünf Jahre, in denen ihm seine eigene literarische Figur rätselhaft blieb, wie der Autor im Dlf erzählt.

Von Günter Kaindlstorfer |
    Buchcover: Daniel Kehlmann: "Tyll"
    Daniel Kehlmann: "Er tut den Leuten richtig böse Dinge an. Das gehört zu Eulenspiegel." (Buchcover: Rowohlt Verlag, Foto: picture alliance/dpa/Foto: Arne Dedert)
    Also, ein ausgesprochener Sympathieträger war Till Eulenspiegel ganz sicher nicht. Schon im berühmten Volksbuch von 1515 kaspert sich der Narr der Narren als anarchistischer Spaß-Guerillero durch die Welt, indem er seinen Schabernack vorwiegend auf Kosten anderer treibt. Daniel Kehlmann weiß um den ambivalenten Charakter des Narren-Archetyps, den Eulenspiegel – oder Ulenspiegel – beispielhaft verkörpert. Einerseits kann man durchaus seinen Spaß mit dem Burschen haben, andererseits ist er auch ganz schön bösartig. Im Prozess der Zivilisation, wie Norbert Elias ihn analysiert hat – so Kehlmann – verkörpert Eulenspiegel das Widerständige, das Regelwidrige, das Unangepasst-Anarchische.
    "Der ursprüngliche Narr ist eben kein Entertainer, sondern eher ein Soziopath. Der ursprüngliche Narr ist eigentlich der vollkommen unangepasste Mensch. Ein großer Teil der alten Eulenspiegel-Geschichten haben schlicht und einfach damit zu tun – ich bitte Ihr Hörerinnen und Hörer um Entschuldigung – dass Eulenspiegel irgendwo hinkackt, dann lacht er, und dann läuft er weg. Das ist für uns nicht mehr komisch, aber es transportiert diese alte Dimension: der Narr als der nicht-zivilisationstaugliche Mensch. Und darin liegt natürlich immer eine Gefahr. Wenn jemand nicht zivilisationstauglich ist, dann weiß man nie genau, was er machen wird. Wird er gewalttätig sein? Wird er einem einen bösen Streich spielen? Wird er einem etwas antun? Und Eulenspiegel tut ursprünglich sehr vielen Menschen sehr viel an. Mein Eulenspiegel ist ein bisschen anders, er ist nicht bösartig, aber diese Dimension, dass er etwas Rätselhaftes hat, etwas Gefährliches, etwas, das nicht in die Gesellschaft passt, das wollte ich unbedingt erhalten", sagt Daniel Kehlmann.
    Ein Blick ins Kehlmannsche Kinderzimmer
    Dabei war Kehlmanns erste Begegnung mit dem berühmtesten Schelm aller Zeiten noch von kindlicher Naivität geprägt. Es war Erich Kästners Nacherzählung der Eulenspiegelschen Streiche, mit den Illustrationen von Walter Trier, die auch im Kehlmannschen Kinderzimmer gestanden ist. Er habe Kästners Buch als Knabe eifrig gelesen, erinnert sich der Schriftsteller:
    "Ja, natürlich, das war auch für mich die erste Begegnung mit Till Eulenspiegel. Ich kann nicht behaupten, dass es ein Lieblingsbuch meiner Kindheit gewesen wäre, oder dass es mich ungeheuer beeindruckt hätte, aber es war eines von vielen wichtigen Büchern in meiner frühen Kindheit. Und später dann, als Jugendlicher, habe ich dann gelesen, zufällig, einen heute im deutschen Sprachraum so gut wie unbekannten Roman, der auch gar nicht so besonders toll ist, der mir aber zufällig in die Hände fiel, nämlich Charles de Costers "Tyll Ulenspiegel" – ein Klassiker der niederländischen Literatur. Ich habe das Buch auch gar nicht fertig gelesen, ein schwülstiges Buch, aber bei der Lektüre wurde mir bewusst, dass man mit der Narrenfigur viel machen kann, und dass Ulenspiegel oder Eulenspiegel eine komplexere Geschichte als man es merkt, wenn man nur die Kinder-Nacherzählungen liest."
    Zerbeulte Kapuze, geschecktes Wams
    Daniel Kehlmanns Roman spielt auf dem Höhepunkt des Dreißigjährigen Kriegs. Eine dunkle Zeit: Die deutschen Lande sind von Landsknecht-Haufen devastiert, die Inquisition foltert und mordet, die Pest dezimiert ganze Landstriche. Deutschland: ein Leichenland, eine riesige Todeszone. Wer bisher überlebt hat, ist für jede Art von Ablenkung dankbar.
    "Tyll Ulenspiegel war zu uns gekommen. Wir kannten sein geschecktes Wams, wir kannten die zerbeulte Kapuze und den Mantel aus Kalbsfell... Seine Hose war aus gutem Stoff, die Schuhe aus feinem Leder, seine Hände aber waren Diebes- oder Schreiberhände, die nie gearbeitet hatten: die rechte hielt die Zügel, die Linke die Peitsche. Seine Augen blitzten, er grüßte hierhin und dorthin.
    "Und wie heißt du?", fragte er ein Mädchen.
    Die Kleine schwieg, denn sie begriff nicht, wie es sein konnte, dass einer, der so berühmt war, mit ihr sprach."
    Wenn die Landsknechte einfallen
    Martha heißt die Kleine. Sie wird schon am Ende des ersten Kapitels – wenn die Landsknechte einfallen – einen grausamen Tod sterben, wie die anderen Bewohner des Städtchens auch. "Die Frauen starben, wie die Frauen eben starben im Krieg", heißt es bei Kehlmann lapidar.
    Die Umgebung, in der sich Ulenspiegel und seine Freundin Nele in diesem Roman behaupten müssen, ist von ungeheurer Brutalität gekennzeichnet. Die Figur des Tyll, wie Kehlmann sie sieht, entzieht sich klarer Einordenbarkeit.
    "Er ist nicht die Antithese zum Krieg, er verkörpert den Krieg aber auch nicht. Ich musste öfter an Werner Herzog denken – und an das, was Herzog über diese wunderbare Szene in dem Film ,Fitzcarraldo’ gesagt hat, in der ein Schiff über einen Berg gezogen wird. Herzog hat gesagt: Er sieht das als eine Metapher, er weiß aber nicht, wofür diese Metapher steht. Das ist mir bei der Arbeit auch immer so gegangen. Ich dachte: Man kann Tyll sicher als Metapher sehen, ich weiß aber selbst nicht, wofür. Er steht in diesem Krieg, er bewegt sich durch diesen Krieg, in dem das heutige Mitteleuropa so ausgesehen hat wie heute Syrien. Das, was für die Welt heute Syrien ist, war damals Mittel- und Nordeuropa – eine Region der zusammengebrochenen Ordnung. Aber Tyll bleibt ungebeugt. Und nichts kann ihm wirklich etwas anhaben. Es gibt eine Widerstandskraft, die gar nicht so sehr in dem liegt, was er tut oder unternimmt, sondern in dem, was er ist."
    Obskurster Mystizismus und düsterster Aberglauben
    Es ist eine vormoderne, in vielem noch magisch bestimmte Welt, die Daniel Kehlmann in seinem Roman erforscht. Leute wie Galilei und Descartes legen zwar bereits die Grundlagen für ein neues, von Wissenschaft und Rationalität geprägtes Weltbild – die einfachen Menschen in den Dörfern und Kleinstädten Schwabens, Bayerns und Böhmens haben davon allerdings nicht die geringste Ahnung. Ihr Denken und Handeln ist bei Kehlmann von obskurstem Mystizismus und düsterstem Aberglauben geprägt.
    "Es gab gar nicht die Möglichkeit sich zu entscheiden, zwischen einem rationalen Weltbild und einem Weltbild, in dem Hexen, Gespenster und Magie vorkommen. Auch die Wegbereiter der Wissenschaft haben bestimmte Dinge für existent gehalten, die wir Aberglauben nennen würden . Das kommt ja bei mir auch vor: die Drakontologie, die Drachenkunde, war tatsächlich ein Wissenschaftszweig, und es gibt auch aus damaliger Sicht gar keinen Grund zu glauben, dass Magneten Wissenschaft sind und dass es Drachen nicht gibt. Es ist natürlich so, aber das wusste man nicht."
    Ein Schwedenkönig, ein Pfalzgraf und ein Lyriker
    Daniel Kehlmann lässt eine Reihe historischer Gestalten auftreten in seinem Roman: den Schwedenkönig Gustav Adolf zum Beispiel, einen rauhbeinigen Fettklops mit schlechten Manieren;den unglückseligen Pfalzgrafen Friedrich V., der unfreiwillig den Dreißigjährigen Krieg vom Zaun brach; oder den Lyriker Paul Fleming, der sich einbildete, nicht nur in elegantem Latein dichten zu wollen, sondern auch in einer rohen, ungeschlachten Sprache – dem Deutschen. Facettenreich porträtiert Kehlmann auch den katholischen Universalgelehrten Athanasius Kircher, eine der großen Forschergestalten an der Schwelle des wissenschaftlichen Zeitalters. Im Brennpunkt des Geschehens steht aber natürlich der König der Possenreißer, der Anarchist mit der Schellenkappe: Till Ulenspiegel.
    "Er tut den Leuten richtig böse Dinge an. Das gehört zu Eulenspiegel. Es ist eben auch an der ursprünglichen Figur faszinierend: Die Leute lachen ja nicht über Eulenspiegel – das ist bis heute die Drehung, die uns so fasziniert an ihm: Es ist Eulenspiegel, der lacht. Er tut den Leuten etwas an, dann lacht er, und dann verschwindet er. Diese gefährliche und ursprünglich gewalttätige Dimension des Lachens, dass es aus der Schadenfreude kommt und mit Bösartigkeit zu tun hat, das darf nicht verloren gehen. Tyll ist mir selbst eine rätselhafte Figur, ich habe beim Schreiben noch nie mit einer Figur Umgang gehabt, die mir so rätselhaft vorgekommen ist."
    Eine moderne spätmittelalterliche Gestalt
    Man kann sich natürlich fragen, warum sich ein Schriftsteller des Jahres 2017 für eine spätmittelalterliche Sagengestalt interessiert, die bei ihm durch die apokalyptischen Wirren des Dreißigjährigen Kriegs stolpert. Daniel Kehlmann lässt die Frage nach der Modernität seines "Tyll" gekonnt an sich abprallen:
    "Die Welt hat sich, während ich an diesem Buch gearbeitet habe, so verändert, dass sich diese Frage nicht stellen wird: Syrien zerfällt nach wie vor, wir haben irrationale Kräfte, die überall nach der Macht greifen, die Aufklärung ist im Augenblick, als politische Macht zumindest, sehr im Rückzug begriffen, und die Religionskriege – etwas, von dem wir wirklich dachten, dass es überwunden ist -, das sieht im Moment weniger überwunden aus denn je. Ich würde sagen, der Roman ist heute gegenwärtiger als er es vor vier Jahren gewesen wäre, als ich das erste Kapitel geschrieben habe. Und ich sage das nicht erfreut, ich wünschte, es wäre anders."